Team Seggi voll im Einsatz
Wie Naturschützer aus 13 Ländern für das Überleben eines Sumpfvogels kämpfen
Es sind eher die bunten und spektakulären Vögel wie der Eisvogel oder Weißstorch, die es schaffen, zum Symbol für Naturschutz zu werden und Politik wie Öffentlichkeit zu mobilisieren. Doch der Seggenrohrsänger, der so heimlich lebt, dass man ihn kaum jemals sieht, bildet eine Ausnahme: Der Aquatic Warbler, wie er auf Englisch heißt, oder auch "Seggi", wie deutsche Naturschützer ihn liebevoll nennen, ist sogar der erste kleine braune Vogel, der Welt-Umweltpolitik geschrieben hat.
Mitte April trafen sich im brandenburgischen Brodowin über 40 Seggenrohrsängerschützer aus 13 Ländern, um das Jubiläum einer einzigartigen Erfolgsgeschichte des Naturschutzes zu feiern. Vor 20 Jahren traf sich das „Aquatic Warbler Conservation Team“ zum ersten Mal. Seine Geschichte zeigt, dass Naturschutz immer etwas mit dem persönlichen Einsatz von Menschen zu tun hat.
Wer sich mit dieser Vogelart einlässt, braucht vor allem gute Gummistiefel. Am besten hohe, die bis zu den Hüften reichen. Denn die kleinen, unscheinbaren Singvögel mit dem markanten längsgestreiften Scheitel mögen es nass. Doch die Gruppe von internationalen Ornithologen, die sich an diesem Tag zu einer Exkursion ins Untere Odertal an die deutsch-polnische Grenze aufgemacht hat, um die Lebensräume der letzten dort noch brütenden Seggenrohrsänger zu besichtigen, stehen mit ihren Gummistiefeln buchstäblich auf dem Trockenen.
Kampf um den Wasserstand
Bekümmert stampft Marek Dylawerski, Koordinator der Schutzmaßnahmen für den Vogel in Pommern, mit dem Fuß auf den harten Boden: Da federt nichts. Knüppelhart. Die Vegetation stimmt eigentlich: verschiedene Seggen und niedriges Röhricht. Genauso liebt es der Seggenrohrsänger. Um die Verbuschung durch zu viel Düngung aus der umgebenden Landwirtschaft zu verhindern, wird hier seit fünf Jahren regelmäßig gemäht. Doch ohne Wasser kein Moor – und keine Seggenrohrsänger.
Dylawerskis Plan war es gewesen, den Exkursionsteilnehmern die Erfolge des Schutzmanagements in Pommern vorzuführen, das von 2005 bis 2011 Teil eines EU-Life-Projektes zum Schutz des Seggenrohrsängers in Deutschland und Polen war. Dazu gehört ein künstliches Wasserstandsmanagement, das im Frühjahr, zur Brutzeit, für einen hohen Grundwasserspiegel sorgt. Vor vier Wochen stand hier noch das Wasser, erzählt Dylawerski. Doch immer wieder gibt es Konflikte mit dem benachbarten Bauern, einem Beerenfarmer. Der mag es nämlich lieber trocken – und hat bessere Beziehungen zur örtlichen Pumpstation. Offenbar hat der Landwirt erreicht, dass die Pumpen angeschaltet wurden, die den Wasserspiegel wieder absinken lassen. Dylawerski seufzt. „Jetzt müssen wir wieder anrufen und mit den Wassertechnikern verhandeln“.
Der Streit mit den Bauern um den Wasserstand in Krajnik ist ein typischer Konflikt, der deutlich macht, warum der Seggenrohrsänger zum seltensten Zugvogel Europas geworden ist – und warum er weltweit so stark bedroht ist. Denn er ist ein Lebensraumspezialist, der an Moore gebunden ist. Er liebt Feuchtgebiete mit niedrigen Seggen und mit Röhricht, in dem er seine Nester baut. Moore aber wurden in den letzten hundert Jahren von den Menschen systematisch durch Dämme und Gräben trockengelegt mit dem Ziel, aus den angeblich nutzlosen Sümpfen Land für die Landwirtschaft zu gewinnen.
Vor vier Jahren verschwand der Vogel aus Deutschland
„Melioration“ heißt das, übersetzt „Verbesserung“ – weltweit ging man daran, Sümpfe für die Landwirtschaft urbar zu machen. Allein in Deutschland wurden 98 Prozent der Moore trocken gelegt. „Anfang des 20. Jahrhunderts gab es nur in Brandenburg noch Tausende Seggenrohrsänger“, erzählt Benjamin Herold, Leiter eines EU-Life Projekts in der Region Schorfheide-Chorin, das auch zum Schutz des Seggenrohrsängers eingerichtet wurde. Doch zu spät – der letzte deutsche Seggenrohrsänger hat vor vier Jahren im Unteren Odertal gesungen. Sein Verschwinden machte bei uns keine großen Schlagzeilen.
Doch auch auf polnischer Flussseite ist es um die Art nicht gut bestellt. Weil die Weibchen so heimlich sind, dass man sie nie zu Gesicht bekommt, hat man sich angewöhnt, die Präsenz der Vögel in der Einheit „Singende Männchen pro Hektar“ anzugeben. Mit 13 bis 15 Männchen ist die Pommersche Population des Seggenrohrsängers wohl kaum noch zu retten. Jedes Jahr schwindet die Zahl der Sänger – wohl weil die Gruppe insgesamt zu klein ist, um sich zu erhalten.
Ohne internationale Kooperation keine Erfolge
Größere Brutgebiete gibt es dagegen noch im Nordosten Polens und in Weißrussland, kleinere Vorkommen in Litauen und in der Ukraine: Insgesamt 11.000 singende Männchen weltweit, schätzt Martin Flade, langjähriger Leiter des Biosphärenreservats Schorfheide-Chorin. Nicht viel, doch ohne die Menschen vom „Aquatic Warbler Conservation Team“, die hier zusammenkommen, wären es sicherlich heute noch viel weniger.
Die Zusammenkunft in Brodowin hat etwas von einem Familientreffen. Die Biographie von jedem der 30 Naturschützer ist in irgendeiner Form mit dem Seggenrohrsänger und seinem Schutz verbunden. Die Teilnehmer kommen aus Deutschland und Polen, Litauen, der Ukraine und Weißrussland, wo die Vögel brüten oder gebrütet haben, aber auch aus Frankreich und Spanien, wo die Vögel auf ihrem Zug rasten, und aus dem Senegal, wo sie überwintern. Die meisten kennen sich seit Jahren – und sie sind durch ihre Arbeit zu Experten für Feuchtgebiete und Moorschutz geworden.
Wie Franziska Tanneberger, die über den Seggenrohrsänger promoviert hat – und sich heute beruflich intensiv mit Moorschutz und Wiedervernässung beschäftigt (siehe Interview). Oder Ibrahima Diop, Offizier der senegalesischen Streitkräfte und bis vor drei Jahren Leiter des Djoudj-Nationalparks im Senegal-Delta, einem Feuchtgebiet in Afrika, in dem der größte Teil der Seggenrohrsänger den Winter verbringt.
Letzteres weiß man jedoch erst, seit der Deutsche Martin Flade und der Weißrusse Viktor Fenchuk zusammen mit Freiwilligen aus zahlreichen anderen Ländern die weiten Grassümpfe rund um die Mündung des Senegal-Flusses tagelang nach Seggenrohrsängern abgesucht haben – und fündig wurden. Das war im Jahr 2007. Nebenbei fanden sie auch zahllose andere bei uns brütende Wasservögel wie Schilfrohrsänger, Bekassinen, Schafstelzen, Feldschwirle. Nach Brodowin gekommen sind auch Alexey Tishechkin und Alexander Kosulin aus Weißrussland, die vor 28 Jahren von der Existenz des Seggenrohrsängers in ihrem Land noch gar nichts wussten – und mittlerweile zu den international führenden Experten für den Vogel geworden sind.
Hochzeitsreise in den Sumpf
Dass die Welt überhaupt anfing, sich für den kleinen braunen Vogel und seine Probleme zu interessieren, ist einer Hochzeitsreise zu verdanken. Statt wie andere Paare nach Venedig, reisten der Ornithologe und Gynäkologe Karl Schulze-Hagen und seine Frau im Jahr 1983 in die Biebrza-Sümpfe im Nordosten Polens, damals noch sozialistisch und wenig aufgeschlossen für westliche Vogelfreunde. Bis heute ist das Gebiet eines der wichtigsten Brutgebiete des Seggenohrsängers mit geschätzt noch etwa 2500 singenden Männchen.
Die beiden streiften durch das Schilf auf der Suche nach Seggenrohrsängern, bis sie schließlich drei Nester gefunden und untersucht hatten. Dabei beobachteten sie, dass die kleinen Vögel ihre Jungen mit erstaunlich großen Insekten fütterten. „Daraus entstand die Idee, dass man die Tiere in Gefangenschaft halten könnte, um ihre Lebensweise zu erforschen“, erzählt Schulze-Hagen. „Denn man wusste so gut wie nichts über die Art“.
Ein paar Jahre später wandelte Schulze-Hagen seinen Keller kurzerhand in ein Seggenrohrsänger-Habitat um. Er pflanzte Seggen in große Kübel, sorgte für eine Beleuchtung mit Zeitschaltuhr, startete eine Insektenzucht und stellte einen Antrag bei den polnischen Behörden darauf, Jungvögel transferieren zu dürfen. Schon die Autofahrt durch Polen und die DDR mit entsprechenden Grenzkontrollen war ein Abenteuer – mit drei Nestern und zehn fast flüggen Jungvögeln darin auf der Rückbank, die permanent mit mitgebrachten Insekten gefüttert werden mussten.
Fünf der Vögel gingen an die Vogelwarte Radolfzell, die andern fünf quartierte Schulze-Hagen in seinem Keller ein. Im Frühjahr fingen sie an zu balzen und zu singen, bauten Nester und zogen Junge auf – es war das erste Mal, dass das Fortpflanzungsverhalten der scheuen Vögel so genau studiert werden konnte. Neun Jahre lang, bis 1990, bestand das Rohrsänger-Kellerbiotop. Ob seine Frau nie Mordgedanken hatte? Wenn, dann nicht wegen der Vögel, sondern wegen der Fliegenzucht, sagt Schulze-Hagen heute. Bis zu fünf verschiedene Insektenarten musste er vermehren. Und die Tiere mussten im Raum frei herumfliegen, damit die Vögel ihre Nahrung selber fangen konnten.
Schulze-Hagens Erkenntnisse sind bis heute für den Schutz der Vögel von großer Bedeutung. Er fand heraus, dass die Weibchen die Jungen alleine großziehen – daher sind sie auf die besonders insektenreichen Seggenbestände als Lebensraum angewiesen. Es gibt keine feste Paarbindung, die Männchen sind allein fürs Singen und für die Begattung zuständig. Letzteres tun sie dafür besonders gründlich: Während normalerweise bei Singvögeln die Kopulation in wenigen Sekunden über die Bühne geht, dauert sie bei den Seggenrohrsängern zwischen 20 und 45 Minuten.
Um diese Unmengen an Spermien produzieren zu können, das hat die Sektion von zwei toten Männchen gezeigt, besteht fast der ganze Bauch der Männchen nur aus Hoden. „Damit soll sichergestellt werden, dass auch wirklich der eigene Samen weitergegeben wird“, erläutert Schulze-Hagen. Das nützt ihnen aber oft wenig: Genuntersuchungen an Jungvögeln haben gezeigt, dass in einem Nest oft jedes Junge von einem anderen Vater stammt.
Expedition mit dem Hubschrauber
Mit ihrem Fortpflanzungsverhalten sind die Vögel perfekt an insektenreiche Lebensräume angepasst, die häufig vom Wasser überflutet werden. Geht eine Brut wegen Überschwemmung verloren, sind jederzeit Männchen für eine Ersatzbrut zur Stelle. Und je größer die genetische Vielfalt der Jungvögel, desto wahrscheinlicher ist es, dass Erbanlagen dabei sind, die das Überleben sichern. Doch Schulze-Hagens Studien zeigen auch, warum Populationen von Seggenrohrsängern eingehen, wenn die Zahl der Vögel zu klein wird: Sie sind Gruppenbrüter. Es braucht immer eine kleine Gang, damit die Brut gelingt.
Dass der Seggenrohrsänger zum Emblem des internationalen Moorschutzes wurde, hat sehr viel mit Martin Flade zu tun. 1990, kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, fragte er sich während eines Studienaufenthaltes in Polen, ob es die Pripjet-Sümpfe direkt hinter der ukrainisch-weißrussischen Grenze wohl noch gebe. Aus dem Zweiten Weltkrieg kannte er die Schilderungen, wie die deutschen Truppen mit ihrem schweren Kriegsgerät heillos dort versunken waren – in einer Sumpflandschaft riesigen Ausmaßes entlang des Flusses Pripjet. Doch die polnischen Kollegen hatten ihm erzählt, die Sümpfe seien in der Nachkriegszeit alle entwässert worden, der Seggenrohrsänger gelte in Weißrussland ausgestorben.
1995 gelang es Flade schließlich, Kontakt zu zwei Weißrussen aufzunehmen, Alexey Tishechkin und Alexander Kosulin, Zoologen an der Akademie der Wissenschaften in Minsk. Er bat sie, für eine Gruppe deutscher Ornithologen eine Hubschrauberexpedition zu den Pripjet-Sümpfen zu organisieren. Tishechkin und Kosulin hielten die Deutschen für verrückt und wollten nicht glauben, dass sie sich ausgerechnet für einen unscheinbaren braunen Vogel interessierten, von dem sie sicher, waren, dass es ihn in ihrem Land nicht gab. Aber sie besorgten den Hubschrauber, sammelten Geld dafür zusammen und streckten den fehlenden Teil aus eigener Tasche vor.
"Ich war verdammt froh, als diese Deutschen dann am verabredeten Tag tatsächlich aus dem Zug stiegen“, erzählt Kosulin in Brodowin. Man flog gemeinsam los. Es wurde für alle ein unvergesslicher Tag. „Was wir 1995 in Weißrussland entdeckten, war für uns überraschend und faszinierend zugleich“, schrieb Flade später in einem Artikel für das Magazin „Der Falke“: „Wir sahen vom Hubschrauber aus erstmals die größte, weitgehend naturnah erhaltene Stromaue Europas. Ein Gewirr von Altarmen und Altwässern, eingebettet in eine Auwald-Wildnis und Röhrichte. So muss die Elbe im Mittelalter ausgesehen haben!“ Und, nach drei Tagen zu Fuß durch Schwärme von Mücken und durch Schlamm: Die ersten singenden Seggenrohrsänger.
Wende in Weißrussland
In einem riesigen Moor namens Svanets fanden die Deutschen, was sie sich erhofft hatten: Singende Seggenrohrsänger überall, aber auch zahlreiche Birkhühner, Wiesenweihen, Kornweihen, Sumpfohreulen, Doppelschnepfen, Tüpfelsumpfhühner und Rohrdommeln. „Wir stießen in wenigen Tagen auf die Hälfte des Weltbestandes der Seggenrohrsänger – um die 4500 singende Männchen“ erzählt Flade. „Aber wir mussten feststellen, dass auch hier die Meliorations-Maschine bereits in vollem Gange war.“
Wieder zurück in Deutschland bemühten sich Flade und seine Kollegen um politische Unterstützung für den Schutz der Gebiete. Doch das war schwierig: Weißrussland unter seinem bis heute amtierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko galt als NoGo-Area. Keine Umweltorganisation wollte sich mit einer Diktatur einlassen. Schließlich die Wende: Die private Michael-Otto-Stiftung erklärte sich bereit, Geld für das Projekt zu geben, und auch die britische RSPB stieg ein. Es gelang, in Weißrussland mit Hilfe von Alexander Kosulin und Alexey Tishechkin eine Nicht-Regierungsorganisation aufzubauen, die BirdLife Belarus (APB). Seitdem sind drei große Konferenzen in Weißrussland zum Schutz von Feuchtgebieten organisiert worden, andere Verbände und Stiftungen engagierten sich.
Für das international isolierte Regime in Minsk war der Naturschutz ein willkommenes Feld, um sich zu profilieren. Aus der APB ist die größte Umweltorganisation Weißrusslands geworden – sie trägt den Seggenrohrsänger in ihrem Logo. Ihrem Einfluss ist es zu verdanken, dass die letzten großen Seggenmoore und die Pribjet-Sümpfe in Weißrussland komplett unter Schutz gestellt und die Meliorationsmaßnahmen weitgehend beendet wurden. Den Seggenrohrsänger kennt mittlerweile in Weißrussland jedes Schulkind – er ist zum Symbol für den Naturschutz im Land geworden.
2003 kam der Vogel sogar auf die Tagesordnung internationaler Umweltpolitik: 12 Staaten schufen und ratifizierten extra für ihn ein Nebenabkommen zur Bonner Konvention über wandernde Arten. Ein kleines Wunder, denn solche Abkommen gelten meist spektakulären Arten wie Elefanten, Walen oder Großtrappen – es war das erste und einzige Mal, das einem kleinen braunen Vogel diese Ehre zuteil wurde. „Der Seggenrohrsänger hat Naturschutzgeschichte geschrieben“, resümiert Flade.
Die Mali-Connection
Bei allen Erfolgen ist die Bilanz für den Seggenrohrsänger dennoch durchwachsen. Die Wiedervernässung von Mooren ist zwar mittlerweile überall in Europa ein großes Naturschutzthema geworden – doch sie ist kein leichtes Unterfangen in einer Europäischen Union, die den Landwirten Flächenprämien für trockengelegtes Moorland zahlt, jedoch nicht für die Wiedervernässung. Selbst wenn die Biomasse aus der Seggen- und Schilfmahd wirtschaftlich verwertet werden kann, sperren sich viele Agrarier aus altem Denken heraus gegen einen Schutz für das angeblich wertlose Land. Jahrhundertelang bestand die Identität vieler Landwirte darin, den Sümpfen urbare Flächen abzugewinnen. Das sitzt noch immer tief.
In Deutschland ist in den letzten Jahren ein kleiner Teil der früheren Moorfläche wiedervernässt worden. Doch weil der Wasserhaushalt durch die lange Trockenlegung nachhaltig gestört ist und Zuströme durch Dämme abgeschnitten sind, müssen Verantwortliche für Wiedervernässungsprojekte das Grundwasser über Pumpsysteme regulieren. Die Überdüngung aus der Landwirtschaft führt dazu, dass die Moore zu schnell mit Schilf und Buschwerk zuwachsen. Sie müssen also regelmäßig gemäht werden – oder durch Wasserbüffel beweidet.
Doch wie mäht man im Wasser auf torfigem Boden? Wissenschaftler und Naturschützer haben dafür ein neues Verfahren entwickelt und Schneeraupen zu Mähmaschinen umfunktioniert. 40 dieser Ungetüme fahren mittlerweile europaweit durch wiedervernässte Flächen. In Polen ist man dabei, die bei der Mahd anfallende Biomasse zu Pellets für Heizöfen zu verarbeiten – oder das Reet wird, wie im privatwirtschaftlich betriebenen Moor Roswarowo, von Rohrwerbern geschnitten und für das Decken von Reetdächern verwendet. Weil die Ernte im Winter anfällt, macht die Bewirtschaftung den Seggenrohrsängern und anderen Schilfvögeln überhaupt nichts aus.
Weil der Seggenrohrsänger ein Zugvogel ist, nützt am Ende der beste Schutz der Brutgebiete wenig, wenn die Überwinterungsgebiete in Afrika zerstört werden. Und auch hier ist Melioration ein großes Thema – im Senegal-Delta genauso wie im Niger-Delta in Mali. Die ukrainische Population des Seggenrohrsängers ist nahezu erloschen, obwohl es noch geeignete Brutgebiete gibt. Die Experten vermuten, dass es eher an deren Winterquartier in Mali liegt, das in den letzten Jahren offenbar fast vollständig für den Reisanbau umgewandelt wurde. Krieg und Terror tun ihr übriges und machen das Land für Vogelschützer schwer zugänglich. „Das zeigt, wie schnell alle unsere Fortschritte beim Schutz der Vögel wieder in sich zusammenbrechen können“, sagt Flade.
Kommt der Vogel je nach Deutschland zurück?
Über die 20 Jahre hinweg, in denen das "Aquatic Warbler Conservation Team" nun aktiv war, ist der kleine braune Seggenrohrsänger zum Symbol für den Schutz von Feuchtgebieten weltweit geworden und für all die vielen Arten, die von ihnen abhängen. Seine Zukunft hängt mit davon ab, ob sich die Erkenntnis weiter durchsetzt, dass Moorschutz der Natur dient, aber auch dem Klimaschutz, weil Torfmoose in großem Stil Kohlendioxid binden.
Ob es für den Seggenrohrsänger in Deutschland noch Hoffnung gibt, ist offen. Wenn, dann wird dazu eine Herangehensweise nötig sein, das in diesem Jahr Wissenschaftler aus Weißrussland und Litauen zum Einsatz bringen. Sie wollen erneut weißrussische Jungvögel in ihren Nestern auf die Reise schicken – diesmal mit dem Ziel, die kleine, schwindende Population in Litauen zu verstärken.
Erst in den ersten Tagen nach dem Ausfliegen erfahren die Nestlinge ihre Ortsprägung – dann, so die Hoffnung der litauischen Ornithologen, müssten sie im nächsten Frühjahr statt nach Weißrussland nach Litauen zurückfliegen. Sollte das klappen, könnte so ein Transfer vielleicht eines Tages auch nach Deutschland stattfinden. Bis es so weit sein kann, müssen im Unteren Odertal auf deutscher und auf polnischer Seite wieder genügend große Flächen Moor wiedervernässt sein, um als Brutgebiete bereitzustehen. Naturschützer Benjamin Herold hofft, dass das Aussterben in Deutschland im Jahr 2015 noch umkehrbar ist: „Man darf mit weiteren Schutzmaßnahmen nicht warten, denn je länger das Verschwinden zurückliegt, desto schwerer ist es, den Seggenrohrsänger zurückzuholen.“