RKI-Protokolle zur Corona-Politik: Der andere Skandal

Die öffentlich gewordenen Dokumente des Corona-Krisenstabs aus dem Robert Koch-Institut zeigen multiples Versagen auf, das jedoch weniger mit den Pandemiemaßnahmen zusammenhängt als mit unserem gesellschaftlichen Verhältnis zur Transparenz. Konsequenzen sind nötig: bei staatlichen Institutionen und bei Medien. Ein Kommentar.

vom Recherche-Kollektiv Corona:
4 Minuten
Montage: Ein Foto vom Sitz des Robert Koch-Instituts (RKI) in Berlin, auf dem vor allem ein großes Schild mit dem Logo des Instituts zu sehen ist; eingeklinkt der Screenshot einer Berichterstattung des Onlinemediums „Multipolar“ über die veröffentlichten Protokolle des Corona-Krisenstabs am RKI.

Seit ein paar Tagen sind die #RKIFiles öffentlich und sorgen nicht nur unter diesem Hashtag in den sozialen Medien für Diskussionen. Auch klassische Medien führen die Debatte, ob in den Protokollen des Corona-Krisenstabs am Robert Koch-Institut (RKI) nun ein Skandal liegt oder nicht. Bei Spiegel und tagesschau.de haben sich Kolleg:innen lesenswert die Mühe gemacht, die Dokumente im nötigen zeitlichen und wissenschaftlichen Kontext zu analysieren. Und auch wenn solcher Kontext dazu geeignet ist, manch hitzige Debatte merklich abzukühlen, so ist doch klar: Die RKI-Protokolle sollten nachdenklich machen – und Konsequenzen haben.

Als erstes für den Journalismus.

Ein Medienversagen

Öffentlich geworden sind die sogenannten #RKIFiles, weil das Onlinemagazin Multipolar des Publizisten Paul Schreyer die Dokumente auf Grundlage des Informationsfreiheitsrechts beantragt und die Herausgabe schließlich gerichtlich durchgesetzt hat. Über den Hang von Multipolar zum Verschwörungstheoretischen ist vieles bereits gesagt und geschrieben worden, entscheidend ist etwas anderes: Was Schreyer durchgesetzt hat, haben andere Journalist:innen – ich zähle mich dazu – versäumt.

Die Pandemiemaßnahmen haben große gesellschaftliche Konflikte ausgelöst und befeuert. Dennoch hat kein klassisches Medium, darunter auch große, gut ausgestattete Redaktionen, für eine Öffentlichkeit der Dokumente gesorgt. Dieses Medienversagen zu benennen, ist nötig. Viel zu wenig nutzt der Journalismus die Möglichkeiten der Informationsfreiheitsrechte, setzen Medienunternehmen ihre Auskunftsrechte auch mithilfe von Anwältinnen und Anwälten durch – es ist höchste Zeit, dies zu ändern.

Tagelanges Schweigen, dann eine dünne Erklärung

Zweitens muss die Bundesregierung, muss Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach Konsequenzen aus den #RKIFiles ziehen.

Denn in der Tat ist dem Ministerium und dem ihm unterstellten RKI ebenfalls ein schwerwiegendes Versagen anzulasten: ein fahrlässiges, kommunikatives Totalversagen.

Über Monate zog sich das Verfahren von der Beantragung der Protokolle bis zur gerichtlichen Durchsetzung ihrer Herausgabe. Monatelang hatten RKI und Ministerium also Zeit, sich vorzubereiten.

Wer sich mit den Informationsfreiheitsrechten ein wenig auskennt, der konnte wissen: Es gab zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich der Auskunftsanspruch durchsetzen lassen könnte – wenn es nur jemand auf die nötigen juristischen Schritte anlegt. Mehr als fraglich ist daher bereits, ob das RKI ernsthaft gut damit beraten war, sich mit Händen und Füßen gegen die Herausgabe der Dokumente zu wehren. Denn der Vorwurf, dass der Öffentlichkeit wichtige Informationen vorenthalten würden, war da ja längst verbreitet. Eine schlaue Strategie sieht jedenfalls anders aus.

Ein PR-Gau von demokratiepolitischem Ausmaß

Spätestens nach dem Anlaufen des Informationsfreiheitsverfahrens hätte das RKI die Protokolle auch proaktiv selbst veröffentlichen und gleich hilfreichen Kontext mit zur Verfügung stellen können. Diese Chance wurde vertan. Als Multipolar seine Deutung und schließlich dankenswerterweise auch die Protokolle in Gänze publik machte, taten RKI und Bundesgesundheitsministerium alles dafür, die Sache zu einem kommunikativen Desaster werden zu lassen. Denn erst einmal taten sie: nichts.

Am Mittwoch, den 20. März veröffentlichte Multipolar die Dokumente. Tagelang ließ sich erstaunt beobachten, wie sich die – erwartbaren! – Empörungswellen in den sozialen Medien aufbauten. Jeder Kommunikationsprofi wäre dankbar für die Möglichkeit gewesen, sich auf einen solchen Fall monatelang vorbereiten zu können. RKI und Ministerium aber ließen die Sache laufen. Am darauffolgenden Montag (25. März) schließlich reichte das RKI eine magere Stellungnahme nach, die auf viele zu diesem Zeitpunkt längst diskutierte Fragen und Kritikpunkte überhaupt nicht einging.

Angesichts des aufgeladenen gesellschaftlichen Klimas in Bezug auf die Pandemiepolitik ist das ein unverzeihlicher Fehler. Ein PR-Gau von demokratiepolitischem Ausmaß, den weder das RKI noch – und vor allem – das Ministerium hätten zulassen dürfen: Erst schaffen sie selbst keine Transparenz, dann bekämpfen sie den Versuch anderer, diese Transparenz herzustellen – und schließlich überlassen sie auch noch schweigend die Interpretation den lautesten Kritiker:innen der staatlichen Institutionen. Ein effektiveres Programm, um das ramponierte Vertrauen in diese weiter zu beschädigen, lässt sich eigentlich kaum denken.

Staatliche Transparenz ist das Gebot der Stunde

Deshalb müssen wir, drittens, schleunigst Konsequenzen ziehen für unser gesellschaftliches Verhältnis zur Transparenz. Wie Deutschland – anders, als es beispielsweise skandinavische Tradition ist – sein Amtsgeheimnis hegt und pflegt, ist aus der Zeit gefallen.

Dass die Informationsfreiheitsrechte die #RKIFiles und zuvor bereits viele andere, wichtige Dokumente ans Licht der Öffentlichkeit brachten, darf nicht darüber hinwegtäuschen: Die Auskunftsrechte mussten erkämpft werden, und sie sind längst nicht gut. Einige Bundesländer und Kommunen weigern sich bis heute, wirkungsvolle Transparenzregeln zu erlassen – oder überhaupt welche. Wer bereits einige Informationsfreiheitsanträge gestellt hat, dürfte zudem erfahren haben, wie viele Behörden noch immer tendenziell versucht sind, Informationsgesuche abzuwehren oder Gebühren zu verhängen, die Antragsteller:innen abschrecken oder gar zur Rücknahme von Anträgen bewegen sollen. Manches lässt die Ausgestaltung der Gesetze zu, anderes muss erst vor Gericht erstritten werden.

Gerade das aufgeheizte Klima und das in Teilen der Gesellschaft fest verankerte Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen sollten doch eigentlich das Gegenteil bewirken. Behörden und Ministerien müssen endlich verstehen, dass Transparenz nicht ihre Gegnerin ist, sondern ihre Verbündete im Kampf um das Vertrauen der Bürger:innen. Darin liegt eine Grundvoraussetzung für das Funktionieren einer Demokratie.

Wie wäre es jetzt mit einer überparteilichen Initiative? Ihr Ziel sollte ein Gesetz sein, das staatliche Einrichtungen nach klaren Regeln dazu verpflichtet, Dokumente von sich aus (und nicht erst auf Antrag) öffentlich zu machen. Wenn die #RKIFiles dazu den entscheidenden Anstoß geben könnten, wäre dies ein großes Verdienst.

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