Historikerin Andrea Löw: „Mich hat geärgert, dass Juden nur als passive Opfermasse vorkamen!“

Im Gespräch erklärt die Münchner Wissenschaftlerin, warum sie sich seit langer Zeit mit den Deportationen während der NS-Zeit beschäftigt, nun ein Buch dazu geschrieben hat – und warum das Thema heute wieder so wichtig ist.

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Eine weiße Frau mit dunklen schulterlangen Haaren steht lächelnd vor einer Betonwand.

Andrea Löw forscht seit langer Zeit intensiv zu den Deportationen deutschsprachiger Jüdinnen und Juden in die Ghettos in Osteuropa. Nun hat sie mit „Deportiert. Immer mit einem Fuß im Grab“ ein bemerkenswertes Buch dazu geschrieben. Diese vielstimmige Erzählung basiert auf Tagebüchern, Postkarten und anderen Berichten der Betroffenen: Hier die Rezension auf RiffReporter. Die Historikerin beschreibt die Stationen von der brutalen Entwurzelung bis zum Leben in den Ghettos in Osteuropa, wo die Menschen unter allen Umständen versuchten, ihre Würde zu bewahren. Was bedeutet das für uns heute? Ein Gespräch.

Frau Löw, was hat Sie an dem Thema NS-Deportationen interessiert?

Schon früh, während der Arbeit an meiner Doktorarbeit hat mich die Vorstellung, beschäftigt, dass Menschen mit einem normalen Leben, Träumen und Zukunftsplänen „nach Osten” deportiert wurden. Sie lebten in irgendeiner deutschen Stadt, hatten eine Wohnung und schliefen in ihrem eigenen Bett. Von einem Tag auf den anderen mussten sie einen Koffer packen und entscheiden, was sie zurücklassen wollten, denn sie durften nur 50 Kilogramm mitnehmen. Sie wurden in einen Zug gesetzt und landeten nach einer furchtbaren Fahrt in einem Ghetto – oder wurden sofort ermordet.

Wie wichtig war die Perspektive der Opfer damals für die Forschung?

Noch vor zwanzig Jahren hat sich die Geschichtswissenschaft in Deutschland vor allem mit den Tätern beschäftigt, mit der Frage, wie normale Menschen zu Mördern werden. Wir haben also sehr viel über Täterhandeln, Tätermotivation und Täterpsychologie gelernt. Mich hat geärgert, dass die Juden dabei – anders als heute – fast nur als passive Opfermasse vorkamen. Der Historiker und Holocaust-Überlebende Saul Friedländer sagte damals in einer Rede, dass all diese Opfer Individuen mit einer Geschichte bis in den Tod waren. Das war für mich sehr wichtig und einer der Gründe, warum ich meine Doktorarbeit über das Ghetto Lodz (Litzmannstadt) als Gesellschaftsgeschichte angelegt habe, die auf den Tagebüchern, Briefen, Postkarten und Berichten der Verfolgten basiert.

Coverfoto des Buchs „Deportiert“, auf dem eine historische Aufnahme von Jüdinnen und Juden zu sehen ist, die sich für das Bild aufgestellt haben.
Wie erlebten deutschsprachige Jüdinnen und Juden die Deportation vom ersten Bescheid über die Sammelstelle und die Zugfahrt bis zum Leben im Ghetto? Die Historikern Andrea Löw lässt die Menschen selbst zu Wort kommen.