Chinas zensierte Geschichte
Wie man die Ereignisse am Tiananmen Platz von 1989 den Kindern erklärt
Mein Name ist Björn Göttlicher. Ich arbeite seit 20 Jahren als Fotoreporter und habe in meinem Beruf einiges gesehen. Viele schöne Dinge, aber auch die Ungerechtigkeit in der Welt und das Leiden vieler Menschen. Das hat mich nachdenklich gemacht, und ich habe angefangen, Fragen zu stellen. In meiner Koralle möchte ich Sie mitnehmen auf meine innere Reise zu den Fragen der Ethik in der Fotografie. Ich bin der Fotograf mit Zweifeln.
Das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens ist das am meisten zensierte Ereignis im chinesischen Internet. Und genau daher rührt jetzt ein neuer Skandal! Die Chinesen sind sauer. Genauer gesagt die Kommunistische Partei Chinas ist sauer. Da macht eine deutsche Firma, die Kameras herstellt und die früher so gute Kameras hergestellt hat, dass jeder Fotoreporter, der etwas auf sich hielt, mit ihnen arbeiten wollte, also da macht diese deutsche Firma ein Werbevideo mit dem vielsagenden Titel „The Hunter“. Das Video zeigt einen Pressefotografen im Einsatz. Er versucht aus seinem Hotelzimmer heraus Aufnahmen des Massakers in Peking zu machen. Polizisten kommen und durchsuchen sein Zimmer.
Die Kamerafirma bestreitet, mit dem Video etwas zu tun zu haben. Aber vielleicht ließ sie es zumindest zu, dass eine Werbeagentur aus Brasilien das Video drehte, bei dem ganz am Schluss zufällig auch noch das Logo der deutschen Firma zu sehen ist? Kurz eingeblendet. Die Firma heißt Leica. Sieht man ja im Video. Das Werbevideo sei aber in Wirklichkeit gar keines, sagt zumindest Leica im Nachhinein, als der Skandal schon ins Rollen gekommen ist. Was nun? Werbevideo oder nicht? Wahrscheinlich hat auch niemand dafür bezahlt. Schließlich macht jede gute Werbeagentur gerne mal Videos ohne Auftraggeber und entfernt sie dann von ihrer Webseite, wenn sie irgendjemandem nicht passen.
Der „Tank Man“ ist ein bis heute unbekannter Mann. Er trägt zwei Tüten bei sich und hält sie fest in der Hand, als erst ein Panzer, dann ein weiterer und am Ende sogar vier Panzer vor ihm zum Stehen kommen.
Und was das Schönste bei der Sache ist? Das weltberühmte Foto „Tank Man“, um das es laut Titel in dem Video geht, ohne dass allerdings gezeigt wird, wurde gar nicht mit einer Leica gemacht. Da ist die Verwirrung nun also komplett. Wer nimmt da eigentlich wen auf den Arm? Stellt sich fast schon die Frage, ob sich der deutsche Kamerahersteller in Wirklichkeit für die Propagandamaschinerie Chinas einspannen lässt, die nach wie vor bemüht ist, die Geschehnisse vom Juni 1989 zu verschleiern. Für diese These könnte sprechen, dass Leica die Linsen in den Smartphones der chinesischen Firma Huawei baut. China ist zudem ein großer Absatzmarkt, und wer global denken will, für den sind moralische Überlegungen schon mal ein Dorn im Auge.
Wovon bei dem ganzen Gerede um Kameratechnik allerdings abgelenkt wird, ist der 30. Jahrestag eines Ereignisses, von dem wir in der westlichen Welt nur Kunde haben, weil einige pfiffige und mutige Fotografen und Journalisten gegen heftige Widerstände darüber berichtet haben.
Die Fotografen Jeff Wiedener, Charlie Cole, Stuart Franklin und Arthur Tsang arbeiteten zwar für unterschiedliche Magazine und Agenturen, sie fotografierten aber alle mit Nikon Kameras, wie das Magazin Der Spiegel herausbekommen hat. Für das Foto „Tank Man“ erhielt der Associated Press Fotograf Jeff Wiedener den World Press Award. Der Kollege Charlie Cole, der für Newsweek fotografierte, stand mit Wiedener auf demselben Balkon und knipste zeitgleich die Ereignisse, die sich in beträchtlicher Entfernung vor ihren Teleobjektiven abspielten.
Es gibt laut Quellenlage in keinem Geschichtsbuch Chinas Hinweise auf die damalige Demokratiebewegung. Die Kommunistische Partei hat die Ereignisse nie öffentlich anerkannt oder für ihr Handeln Rechenschaft abgelegt. Die meisten Studenten in China haben noch nie von dem Massaker gehört. Seit den Anfängen des Internets in China waren Bewegung und Massaker Tabu-Themen für die Diskussion in Online-Foren und sozialen Netzen. Rund um den Jahrestag des Massakers sehen sich Social-Media-Plattformen sowie ausgewählte Gruppen und Einzelpersonen einem erhöhten Druck ausgesetzt, die Erzählungen über die Demokratiebewegung zum Schweigen zu bringen. Nun trägt der Fall des Videos „The Hunter“ diese Problematik auch zu uns.
Der „Tank Man“ ist ein bis heute unbekannter Mann. Er trägt zwei Tüten bei sich, als er über die breite Chang’an Avenue (Quelle Google Earth) auf Panzer zugeht. Die Tüten hält er fest in der Hand und lässt sie auch nicht los, als erst ein Panzer, dann ein weiterer und am Ende sogar vier Panzer vor ihm zum Stehen kommen. Er lässt die Panzer nicht vorbei, tänzelt in einer Art bizarrer Choreografie des Wahnsinns von links nach rechts, um ihnen den Weg zu versperren.
Das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens war der Höhepunkt und das Ende der Demokratiebestrebungen in China. Am 4. Juni 1989 führte das chinesische Militär brutale Aktionen gegen die Studentenführer der Demokratiebewegung durch, die zu Reformen aufgerufen hatten. Schätzungen des chinesischen Roten Kreuzes gehen von einer Anzahl von 2.700 getöteten Zivilisten aus, ein 2014 enthülltes vertrauliches Dokument der US-Regierung berichtet, dass interne Schätzungen Chinas auf 10.454 Tote kommen. Das sind unglaubliche Zahlen. Wir reden von einem Volksaufstand auf einem öffentlichen Platz. Menschen mit Fahrrädern und Plastiktüten gegen Panzer.
Es wird in China heute erwartet, dass Social-Media-Plattformen wie WeChat (die beliebteste Chat-App in China) und Weibo (Chinas Twitter-ähnliche Plattform) in Technologie und Personal investieren, um gemäß den gesetzlichen Bestimmungen Inhaltszensur durchzuführen. Informationen, welche aus Sicht der Behörden die „nationale Ehre“ des Landes schädigen, „die wirtschaftliche oder soziale Ordnung stören“ oder zum „Sturz des sozialistischen Systems“ dienen, müssen demnach zensiert werden, so lautet die Vorschrift.
Die chinesischen Internet-User sind mit der Zeit kreativer und subtiler geworden, um diese Zensur zu umgehen. Das Ereignis des 4. Junis wird, wie in heutigen Zeiten üblich, durch die Verwendung von Codewörtern, Memes, Comics oder Photoshop-Montagen illustriert, manchmal sogar mit Emojis brennender Kerzen zum Gedenken an die Niederschlagung. Für viele ist das Thema zu einem lebenslangen Kampf geworden, bei dem es darum geht, die Geschichte zu erzählen und so aus der Vergessenheit ans Licht zu holen.
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Als Fotograf mit Zweifeln sehe ich es für mich und meinen Berufsstand als Pflicht an, sich auch mit diesem Thema zu beschäftigen. Die Fotografen, die an diesem Tag auf dem Balkon des Bejing Hotels standen und die Aufnahmen des „Tank Mans“ machten, haben eine Ikone geschaffen. Charlie Cole versteckte seinen belichteten Film gar in der Klospülung des Hotelzimmers, um ihn vor den chinesischen Beamten zu verbergen, die ihn kontrollierten.
Ich habe jetzt einen Fotokurs für Kinder so gestaltet, dass solche Foto-Ikonen das Zentrum kleiner Erzählungen über die zugehörigen Ereignisse sowie ihrer Vor- und Nachgeschichte bilden. Es sind kleine Exkurse in die gemeinsame Geschichte von Demokratie und Fotografie. Und eben ganz wie im Sinne der chinesischen Internet-User, gibt es in meinem Fotokurs diesen spielerischen Teil der Angelegenheit, der hilft, sich das Bild ins Gedächtnis zu katapultieren, der aber auch Spaß macht.
Ich lasse die Kinder das Bild nachstellen. Daran haben sie unheimlich Freude. Es lockert dieses schreckliche Ereignis ein wenig auf und lässt alle Kinder daran teilhaben. Als erstes schneiden wir die Panzer auf Fotos aus und reproduzieren sie als flache Elemente vor irgendeinem ausgewählten Hintergrund. In der zweiten Übung kommen kleine Spielzeugautos zur Anwendung, ebenso wie Figuren von Lego oder Playmobil. Eine wunderbare Makro-Fotografie-Übung, bei der die Kinder lernen können, auf was es ankommt, wenn sie fokussieren sollen und welches der richtige Blickwinkel für die Nachstellung der berühmten Aufnahme ist.
Die dritte und letzte Übung ist die lustigste: Wir spielen lebende Panzer und krabbeln in einer Turnhalle auf dem Boden herum, während ein Kind, das zwei Tüten in der Hand hält, die Aufgabe hat, uns aufzuhalten. Ein großer Spaß mit ernstem Hintergrund. Es ist der Beginn und Ursprung meines Workshops über „Fotoethik“ für Groß und Klein.
Wie ging die Geschichte von damals nun für den berühmten „Tank Man“ aus? Das ist ungewiss. Überliefert ist, dass andere Männer kamen, um ihn von den Panzern weg und zur anderen Straßenseite hin zu ziehen. Dort verschwand er in der Menge der Schaulustigen und ward nicht mehr gesehen. In einer westlichen Zeitschrift, die auf das Ereignis einging, ich glaube, es war Newsweek, war ein Name zu lesen: Wang Weilin.
Doch es stellte sich heraus, dass der Name erfunden war. Es ist bis heute unklar, ob der Mann, der sich damals so todesverachtend den Panzern entgegenstellte und an die Menschlichkeit der Fahrer appellierte, von anderen Studenten gerettet wurde oder ob Sicherheitsbeamte ihn aufgriffen und festnahmen. Natürlich hoffe ich sehr, er wurde gerettet.
In jedem Fall hat er uns eine Ikone der Fotografie beschert, die uns lehrt, dass die Freiheit stets erkämpft und verteidigt werden muss. Er konnte ja nicht wissen, dass auf einem weit entfernten Balkon Fotografen standen. Für die Kameras hat er es nicht getan. Und ob das Bild nun mit einer Leica, einer Canon oder einer Nikon aufgenommen worden ist, wird ihm auch im Nachhinein herzlich egal gewesen sein.
Work in Progress. Open Source. Schwarmintelligenz.
Über das Projekt "Fotograf mit Zweifeln"
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„Ethik und Ästhetik sind Eins.“ Ludwig Wittgenstein
„Ich hätte ja zu gerne gefragt, wie der Ludwig das wieder gemeint hat.“ Jörg Zimmer