Der Roboter-Reporter

Ein Zukunftsszenario

vom Recherche-Kollektiv die ZukunftsReporter:
9 Minuten
Um den Scherenschnitt eines menschlichen Kopfs sind Sprechblasen gruppiert, in denen kein Text steht, sondern eine komplexe Mechanik eingezeichnet ist.

Stellen wir uns einmal vor, die Künstliche Intelligenz erobert auch den Journalismus. Die Maschinen übernehmen einen guten Teil der Recherche – und sie schreiben auch die Artikel. Für die Reporter bleibt da nur noch eins: darauf achten, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Ein Zukunftsszenario der ZukunftsReporter.

Der persönliche Assistent begrüßt Celine Schmitz mit drei Empfehlungen. Sie stellt ihren Tee ab und tippt auf das Fragezeichen, das auf dem Monitor auf ihrem Schreibtisch blinkt. „Guten Morgen, Celine“ sagt der Computer und öffnet die Empfehlungen. In allen geht es um die Firma Psychable, einem Biotechunternehmen aus Darmstadt mit mehr als 100 Mitarbeitern, das Neuropharmaka für seltene Erkrankungen herstellt. Psychable war in der Nacht Thema in einigen asiatischen Blogs, die Firmenangehörigen haben seit einer Woche keine Studie mehr publiziert und sie erhalten heute offenbar Besuch von Politikern aus Berlin.

Celine arbeitet für den „Pharma Observer“, eine zwölfköpfige Redaktion, die über die Branche der Pharmaunternehmen berichtet. Sie steht am Anfang einer Recherche, die ihren Namen bekannt machen wird, doch davon ahnt sie noch nichts.

Ihr Büro liegt im 32. Stock eines ehemaligen Frankfurter Bankenhochhauses. Celine blickt nach Süden, wo in der Ferne einige Glasfassaden in der Morgensonne aufleuchten. In einem dieser Gebäude könnte Psychable stecken. Bei der Eröffnung vor fünf oder sechs Jahren war sie dort gewesen. Ein engagiertes Team, erinnert sie sich. Nun schlägt ihr Assistent auf der Grundlage seiner Datenanalyse und ihrer thematischen Präferenzen vor, dass sie sich die Darmstädter Firma genauer anschaut. Celine hat keinen Überblick, welche Quellen ihr Rechner auswertet: Fachartikel und Pressemitteilungen, Äußerungen in sozialen Medien und sicher noch einiges mehr. Außerdem hat er ihre Reaktionen über mehrere Monate ausgewertet und weiß nun, auf welche Themen sie anspringt.

Der Computer recherchiert

Die asiatischen Blogs lässt Celine links liegen, denn mit denen hatte sie erst gestern zu tun gehabt. Heute lieber ein anderes Thema. Die Publikationsflaute von einer Woche scheint ihr zu kurz zu sein, um eine interessante Spur abzugeben. Aber die Besuche aus der Bundespolitik? Sie kontaktiert eine Freundin, die in Darmstadt für ein großes Cateringunternehmen arbeitet. Eine Stunde später meldet sich die Freundin zurück: Ein Arbeitsessen für 30 Personen sei geplant, mit erheblichen Sicherheitsauflagen, ein klares Indiz für prominenten Besuch.

In der Zwischenzeit hat Celine die jüngsten Aktivitäten der Firma untersucht. Dem Computer ist aufgefallen, dass die Firma neuerdings über ethische Fragen des Gedächtnisses publiziert, sogar an öffentlichen Diskussionen zu diesem Thema teilnimmt, obwohl keines der Medikamente aus dem offiziellen Portfolio direkt auf das Gedächtnis wirkt. Wie sehr definiert sich die Persönlichkeit über die Erinnerungen der Person? Welchen Unterschied macht es, ob man weiß, dass ein Unfall passiert ist, oder ob man sich an alle Einzelheiten davon erinnert? Und wie sehr muss einen das traumatische Ereignis belasten, damit es gerechtfertigt wäre, die unerwünschten Erinnerungen zu löschen? Interessante Grundsatzfragen, findet Celine. Aber die Fragen, denen sich Psychable seit ein paar Wochen widmet, passen nicht zu den aktuellen Produkten. Plant die Firma etwas neues?

Psychable reagiert nicht auf Celines Anfrage, obwohl die Pressestelle der Firma sonst im Schnitt nach 53 Minuten antwortet. Auch die vier Politiker, die in den sozialen Netzwerken gerade etwas über Darmstadt gepostet haben, sagen ihr nicht, ob sie bei Psychable eingeladen sind und was sie dort tun. In der Redaktionskonferenz kurz vor der Mittagspause kann Celine nur wenige Rechercheergebnisse vorweisen. „Schreib doch trotzdem ein kleines Stück“, schlägt ihr Kollege Tim vor, „vielleicht gibt es eine Reaktion.“ Celine stimmt zu und füllt das Datenblatt ihres Beitrags aus. Sie nennt die ethischen Reflexionen von Psychable als Aufhänger, zitiert einige Argumente und beschreibt eine Podiumsdiskussion, die sie sich als Video im Archiv angesehen hat. Aus ihren Stichpunkten und Gewichtungen stellt der Computer die Artikel zusammen. Der „Pharma Observer“ schreibt je nach den Interessen der Leser in drei Kompetenzstufen: „Pillenschlucker“, „Pillendreher“ und „Alchemist“. Jeder Text wird automatisch in mehr als drei Dutzend Sprachen veröffentlicht.

Die Leser geben Tipps

Als Celine am nächsten Morgen die Reaktionen prüft, hat ihr der Computer nicht viel zu bieten. Ihr Assistent schlägt ihr schon die nächsten Themen vor. Enttäuscht klickt sie das Verzeichnis mit den Beiträgen an, die der Rechner als Verschwörungstheorien einstuft, und merkt auf. „Ach, auf Euch ist Verlass“, murmelt Celine, als sie die 29 Kommentare sieht. 15 davon bewertet ihr Computer als von Bots geschrieben, sechs weitere stammen von bekannten Autoren, die immer wieder versuchen, ihre Botschaft unters Volk zu bringen. Aber acht Nachrichten – auf Portugiesisch, Spanisch und Englisch – beziehen sich auf den Verdacht, dass bei einer Expedition im Amazonas-Regenwald ein Nervengift entdeckt worden sei, das Erinnerungen löscht.

Weil die Leiter der Expedition in den Beiträgen namentlich genannt werden, geht Celine der Sache nach. Ein paar Anfragen kosten nicht viel und können nicht schaden, denkt sie. Tatsächlich kann sie mit Mariana Alves vom Amazonas-Forschungsinstitut in Manaus sprechen. Die Biologin berichtet ihr, bei einer Expedition von einer unbekannten Biene gestochen worden zu sein. Am nächsten Morgen konnte sie sich an nichts erinnern, das Nervengift hatte die Erinnerungen eines ganzen Tages gelöscht. Ihr Team hat anschließend drei dieser Bienen gefangen, doch ihr Kollege Fred dos Santos hat die Proben bei einem Unfall verloren. Nein, Fred sei nicht mehr an der Universität, sie habe den Kontakt zu ihm verloren.

Eine Verbindung zwischen Fred dos Santos und Psychable ist schnell hergestellt: Celine findet ein Foto von einer Tagung, die Psychable im Vorjahr in Manaus ausgerichtet hat. Psychable sucht seit einigen Jahren entlang des Amazonas nach neuen Wirkstoffen. Dos Santos hat sich dort mit einem Wissenschaftler der Firma beim Kaffee unterhalten. Doch dann wird es schwierig: Lässt sich nachweisen, dass Psychable die Expedition wiederholt hat, um die Biene zu finden und damit an den Wirkstoff zu gelangen? Weil die brasilianischen Behörden die biologischen Ressourcen des Regenwalds streng schützen, gibt es eine Fülle von einschlägigen Genehmigungen. Doch in das entlegene Gebiet der Serra da Mocidade, wo die seltene Biene angeblich lebt, scheint die Firma nicht vorgedrungen zu sein.

Die Firma interveniert

Tim bringt seine Kollegin schließlich auf die richtige Spur: Psychable hat es von Venezuela aus versucht. Ein europäisches Forscherteam hat vor einigen Monaten mit seiner nagelneuen Ausrüstung auf dem Provinzflughafen Santa Elena für Aufsehen gesorgt und war fotografiert worden. Auf den Fotos ist auch der Gesprächspartner von Dos Santos zu erkennen. Der Flughafen liegt nur wenige Kilometer von der brasilianischen Grenze entfernt. Genügen diese Indizien, um Psychable damit zu konfrontieren? Während Celine noch nachdenkt, erhält sie einen Anruf der Firma. Sie ist überrascht – nicht der übliche digitale Pressesprecher meldet sich zu Wort, es ist die Sprecherin persönlich. „Wir haben von Ihren Recherchen erfahren und möchten Sie bitten, mit Ihrer Berichterstattung noch einige Tage zu warten“, sagt Larissa Guimarães. Mit Hochdruck arbeite man an einer politischen Lösung. „Wir möchten die Öffentlichkeit erst informieren, wenn wir das Gefühl haben, dass die Politik den Einsatz des Wirkstoffs regulieren kann.“

„Was werden Sie den brasilianischen Behörden sagen? Die haben sie umgangen“, erkundigt sich Celine. „Mit denen verhandeln wir parallel über die Nutzungsrechte“, antwortet Guimarães. „Ehrlich gesagt, scheint die Regierung noch nicht zu wissen, ob sie etwas mit dem Wirkstoff zu tun haben will.“ „Aber Psychable wäre bereit, die Rechte abzugeben?“, fragt Celine ungläubig. „Ja, denn wir sehen zwar einen begrenzten Nutzen für die Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen“, sagt Guimarães, „aber darüber hinaus ein großes Potenzial für Missbrauch. Diese Verantwortung möchten wir nicht tragen.“

In der Redaktionskonferenz des „Pharma Observers“ geht es hoch her, als Celine von ihrem Gespräch erzählt. Will man eine derart relevante Geschichte wirklich zurückstellen? „Im neuen Pressekodex gibt es eine Pflicht zur Veröffentlichung“, ruft Tim, als würde er den anderen etwas Neues verkünden. Seit sich Online-Journalisten vor einigen Jahren wieder darauf besannen, dass sie und nicht das Publikum entscheiden, welche Nachrichten wichtig sind, gibt es diese Selbstverpflichtung: Journalisten legen ihre Recherchen immer offen. Am Ende stimmen zehn von zwölf Redakteuren für eine Veröffentlichung. Celine enthält sich und ein Kollege stimmt dagegen, weil er die Recherche noch nicht für abgeschlossen hält.

Die Bombe platzt

Celines Bericht verdrängt den Rücktritt des Innenministers vom Spitzenplatz der Nachrichten. Psychable gibt kleinlaut zu, der Öffentlichkeit Informationen vorenthalten zu haben. Politiker aller Parteien und Verbraucherverbände kritisieren die Firma dafür. Viele Kommentatoren wittern sogar eine Verschwörung gegen das öffentliche Interesse – warum sonst fanden die Verhandlungen im Geheimen statt? Am Abend ist die Firma an der Börse nur noch halb so viel wert. In der Nacht wird ein Brandanschlag auf das Firmengebäude in Darmstadt verübt. Die Polizei vermutet, dass damit der Versuch vertuscht werden sollte, das Nervengift zu stehlen.

Am nächsten Morgen empfiehlt Celines Computer, einen Kommentar zu lesen, den zuletzt mehr als tausend Leser positiv bewertet haben: „Jetzt schickt sich MindSett an, Psychable zu übernehmen. Hat der Pharma Observer seinen Dankeschön-Bonus schon abgeholt, nachdem er den Kurs von Psychable in den Keller getrieben hat?“ Celine stutzt und der Computer muss es ihr erklären: Die Firma MindSett ist über einen Fonds am Verlag Theseus Scientific Publishing beteiligt, also dem Konzern, zu dem auch der „Pharma Observer“ gehört. Celine zuckt zusammen. Ob MindSett diese Verbindung genutzt hat, um ihr vorgestern die Hinweise auf die Vorgänge bei Psychable aufzutischen?

Celine dreht und wendet das Problem noch einige Male, doch ihr fällt keine Alternative ein. Also bittet sie den IT-Spezialisten der Redaktion, ihren digitalen Assistenten auf Manipulation hin zu überprüfen, und versieht den Bericht über Psychable mit einem Hinweis: „Wir untersuchen derzeit, ob unsere Berichterstattung in unzulässiger Weise beeinflusst worden ist, und werden die Ergebnisse dieser Prüfung so bald wie möglich veröffentlichen. Wir haben keinen Zweifel an der Richtigkeit unseres Berichts, doch wir bitten unsere Leserinnen und Leser, keine Schlüsse daraus zu ziehen, solange nicht der vollständige Kontext der Vorgänge bekannt ist.“

Dann bittet sie den Computer, die Firma MindSett unter die Lupe zu nehmen.