Astronautin werden ist schwer

Die NASA ernennt seit sieben Jahren ähnlich viele Frauen wie Männer zu neuen Astronauten. Europas Raumfahrtagentur hinkt weit hinterher, doch bald steht die nächste Auswahl an.

vom Recherche-Kollektiv Die Weltraumreporter:
9 Minuten
Astronautin im Raumanzug greift an den Helm und blickt nach links oben, wo erst eine der zwei Helmlampen brennen.

Im Juni 2017 laufen zwölf junge Frauen und Männer auf eine Bühne im Johnson Space Center in Houston. Der Applaus ist amerikanisch überschwänglich; im Publikum sitzen neben US-Vizepräsident Mike Pence mehrere Kongressabgeordnete. Die jungen Erwachsenen auf der Bühne tragen Ganzkörperanzüge mit bunten Aufnähern. Überall sonst auf Planet Erde würde man diese Tracht mit Pyjamas verwechseln, nur hier nicht, was auch die zwölf ernsten Gesichter zeigen. Hier geht es um etwas. Sie haben es geschafft, in die neue Astronautenklasse der NASA berufen zu werden. Sie tragen ihre Pyjamas mit Stolz, denn sie dürfen bald die Erde verlassen und auf die Internationale Raumstation (ISS) fliegen, in einigen Jahren vielleicht sogar zum Mond. Und fünf von ihnen sind Frauen. Doch ausgeglichene Geschlechter im All sind bis dato eine rein amerikanische Angelegenheit.

Die NASA war nicht immer so fortschrittlich: Die erste Astronautenklasse – die legendäre Mercury 7 – bestand ausschließlich aus Männern. Zwar setzte sich der zuständige Flugarzt William Randolph Lovelace in den frühen 1960er Jahren dafür ein, die körperlich fordernden Tauglichkeitsprüfungen für die ersten US-Flüge ins All zeitgleich auch an 13 Frauen durchzuführen; manche von ihnen waren in den Versuchen ihren männlichen Kollegen sogar überlegen. Doch ins All ließ man sie nicht. Ein Grund dafür war ein diskriminierendes Kriterium: Unter den ersten Astronauten waren ausnahmslos Testpiloten zugelassen, eine Tätigkeit, die Frauen damals ebenso nicht ausüben durften. In Folge war bis zum Ende des Mondprogramms 1972 jeder US-Astronaut ein Mann.

Die Mercury 7, sieben Astronauten in silbrigen Anzügen posieren vor blauer Leinwand: Walter Schirra, Donald „Deke“ Slayton, John H. Glenn, Scott Carpenter; hintere Reihe: Alan B. Shepard, Virgil I. „Gus“ Grissom und Gordon Cooper
Die erste Astronautenklasse der NASA, die Mercury 7, von links nach rechts: Walter Schirra, Donald „Deke“ Slayton, John H. Glenn, Scott Carpenter; hintere Reihe: Alan B. Shepard, Virgil I. „Gus“ Grissom und Gordon Cooper

Erst 1978 öffnete sich die NASA auch für Bewerberinnen. Die Astronautenklasse war angesichts des neuen Space Shuttles mit seinen sieben Sitzen riesig – und mit dem Fokus auf Forschung im All ermutigte die Raumfahrtagentur nachdrücklich Naturwissenschaftler und Ingenieure, sich zu bewerben. Unter den 35 neuen Astronauten waren auch sechs Frauen, dazu auch Vertreter afroamerikanischer und asiatischer Minderheiten. Nachdem die Physikerin Sally Ride 1983 als erste US-Astronautin ins All geflogen war – ganze 21 Jahre nach dem weiblichen Erstflug der Russin Walentina Tereschkowa – folgten viele weitere. 1997 kommandierte die erfahrene Kampfpilotin Eileen Collins als erste Frau das Space Shuttle. Unter den 65 Astronautinnen, die bis heute ins All geflogen sind, sind 51 US-Amerikanerinnen.

Nur drei Frauen aus Europa schafften es bisher ins All. Die Britin Helen Sharman flog 1991 als kommerzielle Kosmonautin und erste Westeuropäerin auf die Station Mir. Die Französin Claudie Haigneré flog ebenfalls zur Mir und zuletzt 2001 zur gerade errichteten ISS. Noch einmal sieben Jahre später schrieb die ESA ihr neues Astronautenkorps aus. Es war – und ist bis heute – ein seltenes Ereignis und eine Gelegenheit für alle Bewerber in Europa, die nur einmal im Leben vorkommt. Die letzte derartige Auswahl lag fast ein Jahrzehnt zurück. Wer sich jetzt nicht bewarb, dürfte bei der nächsten Auswahl zu alt sein. Fünf Astronautenstellen wollte die ESA besetzen, eine weitere steuerte die italienische Raumfahrtbehörde ASI bei. Der Auswahlprozess zog sich über elf Monate hin; die finale Entscheidung stand erst zwei Tage vor der geplanten Bekanntgabe fest.

Die sechs 2009 ausgewählten neuen ESA-Astronauten posieren in einem Modell eines Moduls der Raumstation: Timothy „Tim“ Peake (GB), Andreas Mogensen (Dänemark), Alexander Gerst (Deutschland), Luca Parmitano (Italien), Samantha Cristoforetti (Italien), Thomas Pesquet (Frankreich)
Die 2009 rekrutierten neuen ESA-Astronauten: Timothy „Tim“ Peake (GB), Andreas Mogensen (Dänemark), Alexander Gerst (Deutschland), Luca Parmitano (Italien), Samantha Cristoforetti (Italien), Thomas Pesquet (Frankreich)

Auf der Pressekonferenz in der ESA-Zentrale am 20. Mai 2009 stellte der damalige Generaldirektor Jean-Jacques Dordain in Paris persönlich die neuen Raumfahrer vor. Das Astronautenkorps erfüllte den in Europa so wichtigen Proporz: Erfolgreiche Bewerber aus Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien vertraten die größten Beitragszahler der ESA. Doch unter den sechs ausgewählten Astronauten war nur eine Frau, noch dazu eine, die auf ihrem Werdegang großes Glück hatte: Samantha Cristoforetti entschied sich nach ihrem Studium der Luft- und Raumfahrttechnik, im italienischen Heer Kampfpilotin zu werden. Nur ein Jahr zuvor hatte Italiens Militär diesen Weg für Frauen eröffnet. Und erst mit dieser kombinierten Fähigkeit stach Cristoforetti nun wohl unter den anderen 8413 Bewerbern (unter ihnen 7586 Männer und 1430 Frauen) hervor. Hätte die ESA nur zwei Jahre früher nach Astronauten gesucht, hätte es keine italienische Kampfpilotin wie Cristoforetti gegeben.

Die ESA sieht in ihrer Auswahl von 2009 keine Benachteiligung für Frauen: Der Anteil der Bewerberinnen hat bei gut 18 Prozent gelegen. Dieser Anteil sei in allen Zwischenschritten der Auswahl beibehalten worden, bei der körperliche, geistige und soziale Fähigkeiten abgeprüft wurden. Und am Ende stehe ja Samantha Cristoforetti unter ihren fünf männlichen Kollegen ziemlich genau für den Frauenanteil unter den anfänglichen Bewerbern. Die Auswahl sei damit „geschlechtsneutral“ erfolgt.

„Die NASA berücksichtigt das Geschlecht bei Einstellungsentscheidungen nicht.“ (Brandi Dean, NASA-Sprecherin)

Den Frauenanteil einer Astronautenklasse zu beurteilen – zwischen 50 Prozent bei der NASA-Klasse 2013 und 15 Prozent bei der ESA 2009 – ist anspruchsvoll. Die formalen Anforderungen bei der ESA sind ähnlich wie während der Anfänge der Raumfahrt die obligatorische körperliche Fitness und eine Flugtauglichkeitsprüfung durch einen Arzt. Dazu kommt neuerdings eine Sehfähigkeit, die sich im Zweifel laserchirurgisch verbessern lässt. Wichtigste Voraussetzung ist ein abgeschlossenes Hochschulstudium in Medizin, Naturwissenschaften oder technischen Fächern mit anschließender dreijähriger Berufserfahrung, während Erfahrungen als Pilot oder Pilotin zuträglich sind. In den meisten dieser Felder stellen Frauen noch immer eine Minderheit: In Deutschland etwa waren 2018 gerade 31 Prozent der Absolventen in MINT-Fächern weiblich. Kaum ein Zwanzigstel aller Abvolventen der Flugschulen sind Frauen.

In den USA lag der Anteil der MINT-Absolventinnen mit 35 Prozent kaum höher, doch die NASA schritt bei der Auswahl neuer Astronautinnen forsch voran. 2013 wählte sie erstmals paritätisch vier männliche und vier weibliche Astronauten aus. Unter den 6300 Erstbewerbern lag der Frauenanteil damals mit 22 Prozent nur unwesentlich höher als in Europa fünf Jahre zuvor. Dennoch sagt Brandi Dean, Sprecherin am für die Astronautenauswahl zuständigen Johnson Space Center: „Die NASA berücksichtigt das Geschlecht bei Einstellungsentscheidungen nicht.“ Entscheidend sei die Eignung – und bei der strengen Auswahl habe man schlicht die fähigsten Kandidaten ausgewählt. Das bedeutet im Klartext: Frauen waren zwar in der Endauswahl stärker vertreten als unter den Erstbewerbern – aber sie konnten Dean zufolge schlicht etliche männliche Mitbewerber sowohl fachlich wie auch bei sozialen, körperlichen und psychischen Kriterien ausstechen.

Die NASA-Astronautenklasse 2013 posiert vor blauer Leinwand: Anne McClain, Tyler „Nick“ Hague, Nicole Aunapu Mann, davor Jessica Meir, Josh Cassada, Victor Glover, Andrew „Drew“ Morgan und Christina Hammock (Koch)
Die Astronautenklasse 2013 der NASA: Anne McClain, Tyler „Nick“ Hague, Nicole Aunapu Mann, davor Jessica Meir, Josh Cassada, Victor Glover, Andrew „Drew“ Morgan und Christina Hammock (Koch)

Auch die kanadische Raumfahrtagentur (CSA) wählte 2017 zeitgleich zur NASA zwei neue Astronauten aus. Unter 3772 Bewerbern waren grob 30 Prozent weiblich. In allen Auswahlschritten lag darauf folgend der Frauenanteil bei 30 Prozent, bis am Ende ein Astronaut und eine Astronautin ausgewählt wurden. Wie die NASA gibt auch die CSA vor, keine Frauenquote anzusetzen und nur nach Fertigkeit zu entscheiden.

Den vier NASA-Astronautinnen von 2013 kann man nicht vorwerfen, Quotenfrauen zu sein, also im Auswahlprozess wegen ihres Geschlechts bevorzugt worden zu sein. Anne McClain ist erfahrene Kampf- und Testpilotin mit Abschlüssen in Maschinenbau, Luft- und Raumfahrttechnik und Internationalen Beziehungen. Auch Nicole Mann hat neben ihrer intensiven Erfahrung als Kampfpilotin einen Maschinenbauabschluss. Christina Koch ist Elektroingenieurin und Physikerin, hat bereits auf einer Antarktisstation überwintert und entwickelte vor ihrer Auswahl wissenschaftliche Instrumente für die NASA. Die vierte, Jessica Meir, hat Abschlüsse in mariner Biologie und Psychologie, war zuvor bereits Mitglied eines Forschungsteams in einer Unterwasserstation der NASA und arbeitete als Assistenzprofessorin für Anästhesie.

Die letzten zwei – Christina Koch und Jessica Meir – tauschten im Oktober 2019 ein defektes Ladegerät für die solar versorgten Batterien an einem der Module der ISS aus. Es war der erste Weltraumausstieg zweier Frauen überhaupt und verlief erfolgreich. Nach sieben Stunden und 17 Minuten konnte die Batterie wieder ordnungsgemäß geladen und entladen werden.

Claudia Kessler deutet den großen weiblichen Erfolg in der Astronautenauswahl der NASA folgendermaßen: „Viele Frauen bewerben sich erst, wenn sie die Erwartungen zu 100 Prozent erfüllen, während etliche Männer das schon bei 60 Prozent wagen“, sagt sie und zitiert dabei eine Erfahrung des US-Konzerns Hewlett-Packard. Die Luft- und Raumfahrtingenieurin Kessler gründete 2015 die Initiative Die Astronautin, die zum Ziel hat, an der rigiden ESA-Auswahl vorbei eine Deutsche ins All zu bringen. Die Astronautin erhielt dafür 400 Bewerbungen, doch „etliche der fähigsten Interessentinnen riefen mich vorher an, um ganz sicher zu gehen, dass sie auch wirklich für eine Bewerbung in Frage kommen“, sagt Claudia Kessler.

Geschlechtsneutral und fair?

Generaldirektor Jan Wörner schreibt der ESA seit zwei Jahren Diversität und Geschlechtergerechtigkeit auf die Fahnen und ermuntert Frauen, sich auf alle ausgeschrieben Stellen der Behörde zu bewerben. Tatsächlich stieg der Anteil von Bewerbungen von Frauen auch, zwischen 2017 und 2018 von 23 auf 28 Prozent, während die ESA zuletzt sogar 40 Prozent aller neuen Stellen mit Frauen besetzte. Doch bei den Spitzenposten hinkt die Raumfahrtagentur hinter den Ansprüchen ihres Generaldirektors hinterher. Unter ihren zehn Direktoren gibt es nur eine Frau. Von 21 laufenden oder geplanten ESA-Satelliten und -Raumsonden werden lediglich zwei von einer Missionsleiterin geführt.

ESA-Astronautin Samantha Cristoforetti schwebt im Cupula-Modul der ISS, mit großen Fenstern und Erde im Hintergrund, hält eine große Kamera in der Hand und blickt konzentriert nach draußen.
Samantha Cristoforetti im Februar 2015 auf der Internationalen Raumstation

Die nächste europäische Astronautenauswahl steht voraussichtlich ab 2021 an. Die ESA schreibt auf Anfrage, die Auswahl werde wiederum „geschlechtsneutral“ durchgeführt. Man wolle aber in der verbundenen PR-Kampagne „eine möglichst diverse Zahl von Bewerbern“ ansprechen. Dennoch ist wohl absehbar, dass kaum mehr als 30 Prozent aller Bewerbungen von Frauen stammen werden, vermutlich deutlich weniger. Wird es die ESA schaffen, ähnlich wie die NASA Bewerber ohne Ansehen des Geschlechts zu beurteilen? Oder braucht die ESA eher eine Quote für Astronautinnen?

Claudia Kessler sagt: „Die NASA hat es heute nicht mehr nötig, eine Quote einzuhalten, weil es in den USA im Militär oder in der dortigen Luft- und Raumfahrtindustrie eine Menge Frauen in Führungspositionen gibt.“ In Europa sei man noch nicht so weit – und Kessler wäre deshalb für eine Quote, die möglichst in allen Schritten der Astronautenauswahl beibehalten wird. Sie hat Jan Wörner bereits angeboten, die Kriterien der ESA bei der nächsten Astronautenauswahl weiterzuentwickeln – bislang hat er nicht darauf reagiert.

Ob eine harte Quote der richtige Weg ist, ist längst nicht nur bei der Astronautenauswahl umstritten. Wie bei Konzernvorständen oder öffentlichen Ämtern besteht die Sorge, dass Bewerberinnen nur wegen der Quote genommen werden – und das allgemeine fachliche Niveau absinkt. Die USA und Kanada gehen einen alternativen Weg zur Quote: Dort ist seit der Astronautenauswahl 2017 das Geschlecht eine freiwillige Angabe, was den Auswahlgremien zumindest in der ersten Auswahlrunde dabei hilft, ausnahmslos auf die Fähigkeiten der Bewerberinnen und Bewerber zu achten.

Am Ende aber müssen sich genügend Frauen entscheiden, überhaupt eine Bewerbung abzuschicken. Dafür muss auch die ESA wohl noch stärker anerkennen, dass sie nicht einfach ein paar Jobs anbietet, die zu einem Flug ins All einladen. Es geht um Mädchen, die einen staunenden Blick an den Himmel richten und die auf der Suche nach ihrem Weg im Leben von sich sagen: Ich werde Astronautin. Ob dieser Wunsch realistisch ist, ist unerheblich: Nur grob 0,07 Prozent aller Bewerber werden genommen und daran ändert ein höherer Frauenanteil in der Endauswahl kaum etwas. Aber es geht darum, dass Astronautinnen überhaupt öffentlich wahrgenommen werden und der Weg realistisch scheint, zunächst einmal einfach Physikerin, Elektroingenieurin oder Kampfpilotin zu werden. Und dass manche von ihnen, wenn sie die Begeisterung und die passenden Kompetenzen mitbringen, auch Astronautin werden können.

Dieser Text erschien kürzlich in ähnlicher Form auf Spektrum.de.

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