Lunar Gateway: Nächster großer Schritt in den Treibsand?

Die NASA arbeitet unter Hochdruck an einer Raumstation für den Mond. Vieles an diesem Konzept ist bis heute unausgegoren.

vom Recherche-Kollektiv Die Weltraumreporter:
10 Minuten
Grafik: Lunar Gateway beim Rendezvous mit einem Orion-Raumschiff im Mondorbit, im Hintergrund die kleine Erde

Vor fast genau 20 Jahren startete das erste Modul der Internationalen Raumstation (ISS) in einen erdnahen Orbit. Es war der Auftakt für die größte gemeinsame Basis der Menschheit im All, die nun aber längst in die Jahre gekommen ist. Vielleicht erlebt die ISS noch das Ende des nächsten Jahrzehnts – aber ihre Tage sind gezählt. Heute arbeiten Ingenieure, Lobbyisten der Raumfahrtindustrie und der Raumfahrt wohlgesonnene Politiker an einem neuen großen Ding. Vor allem die USA preschen mit dem Lunar Orbital Platform-Gateway forsch voran, eine Raumstation am Mond.

Die Ideen für ein Deep Space Gateway – wie die Station seit einem Budgetentwurf 2017 ursprünglich genannt wurde – entstanden schon Anfang des Jahrzehnts. Präsident Barack Obama hatte die Pläne seines Vorgängers George W. Bush, wieder Menschen auf den Mond zu schicken, wegen überbordender Kosten gestrichen. Das partiell schon entwickelte Raumschiff Orion sollte stattdessen zu einem erdnahen Asteroiden fliegen – doch ein solches Ziel schien in realistischer Reichweite gar nicht zu existieren. Daher kursierten schon im Jahr 2012 bei der NASA erste Ideen für eine Raumstation am Mond. Dadurch sollten etliche Milliarden Dollar an Steuergeldern, die bereits in das Raumschiff geflossen waren, weiter sinnvoll eingesetzt werden. Orion erhielt schlicht ein realistischeres Ziel.

Aus ersten Ideen für das Gateway im Mondorbit wurde ein Konzept, für das seit 2018 immerhin schon 504 Millionen Dollar im US-Haushalt zur Verfügung stehen, dessen Details aber bis heute noch verfeinert werden. Seit die US-Raumfahrt von Asteroiden als nächstes Ziel für Astronauten auf den Mond umschwenkte, ist die Rückkehr dorthin in Kennedy-Manier ein rhetorischer Selbstläufer geworden. Da scheint es auch egal zu sein, dass die internationalen Partner eher vorsichtig mitziehen, obwohl sie am Erfolg des Gateways einen wichtigen Anteil haben sollen. Das Zögern von Kanada oder Russland liegt wohl auch daran, dass vieles am Lunar Orbital Platform-Gateway weiter erstaunlich unausgegoren ist.

Eine Umlaufbahn im Nirgendwo

Der Mond ist der NASA-Rhetorik zufolge der nächste große Schritt der Menschheit in den Deep Space, also in die Tiefen des Alls. Tatsächlich aber soll das Gateway lediglich im cis-lunaren Raum kreisen. Dieser Begriff beschreibt recht schwammig das gemeinsame Schwerefeld von Mond und Erde.

Bei der anvisierten Umlaufbahn für das Gateway handelt es sich um einen sogenannten Halo-Orbit. Die Station kreist dabei in der Nähe mehrerer Punkte im All, bei denen sich die Schwerkraft von Erde und Mond gerade aufheben und die als Lagrange-Punkte bezeichnet werden. Da diese Lagrange-Punkte im All mit der Zeit wandern und selbst gar keine Schwerkraftwirkung entfalten, ist ein Halo-Orbit nur mit kleinen, aber häufigen Kurskorrekturen zu halten. Der Vorteil der Lagrange-Punkte ist gleichzeitig ihr Nachteil: Sie liegen am Rand der Schwerkraftwirkung der Erde und sind mit irdischen Raumschiffen recht leicht zu erreichen, dafür ist die Distanz zur Mondoberfläche beträchtlich – sie schwankt zwischen 1500 und 70.000 Kilometern. Die aktuelle Bahnhöhe der ISS über der Erde liegt im Vergleich bei gerade 400 Kilometern.

Aus diesem Grund haben mehrere Mondveteranen recht einmütig gegen das Gateway im Halo-Orbit Stellung bezogen, auf einer Tagung der Nutzergruppe des US-amerikanischen National Space Council Mitte November im NASA-Hauptquartier, wie das Magazin SpaceNews berichtet: Die mehrfache Space-Shuttle-Kommandantin Eileen Collins kritisierte, dass erst in zehn Jahren Menschen zum Gateway fliegen sollen. Auch Apollo-Astronaut Harrison Schmitt forderte „mehr Druck“ ein; sein Kollege und zweiter Mann auf dem Mond Buzz Aldrin bezeichnete gleich das ganze Gateway als absurd: „Warum sollte man eine ganze Crew zu einem Punkt mitten im Raum schicken, dort einen Lander besteigen und erst dann [zum Mond] absteigen?“

Eine Raumstation für Orion

Warum dann überhaupt eine Station im cis-lunaren Raum? Die NASA argumentiert mit einer Abwägung verschiedener Fakten: Dazu gehören ein geringer Treibstoffeinsatz zum Halten der Bahn, ein schneller und sicherer Rückflug zur Erde, möglichst seltene Flüge der Station durch den Mondschatten und eine gesicherte Kommunikation mit der Erde. All diese Faktoren seien im Halo-Orbit günstiger als bei einer Station im niedrigen Mondorbit oder gar einer Basis auf dem Boden.

Ausschlaggebend sind aber letztlich die limitierten Fähigkeiten des Orion-Raumschiffs selbst: Jede Bahnänderung, die näher zum Mond führt, kostet Treibstoff, weil dafür die Bahngeschwindigkeit geändert werden muss. Die geänderte Geschwindigkeit, kurz delta v, ist begrenzt, denn Orion hat eine endliche Menge Treibstoff dabei, die wiederum durch die maximale Nutzlast der Rakete SLS begrenzt wird. Und Orion schafft es nun einmal nicht weiter als in den Halo-Orbit. Ein Weiterflug vom Gateway zur Oberfläche des Mondes ist mit Orion nicht möglich.

Tabelle mit denkbaren Umlaufbahnen des Gateways am Mond
Mögliche Orbits für das Gateway, mögliche Parameter (grün), technisch mit dem Orion-Raumschiff gerade noch erreichbare (gelb) sowie mit aktueller Technik unmögliche (rot)

Ein Treibstoffdepot fernab der Rohstoffe

Treibstoff ließe sich natürlich auch im All gewinnen. Theoretisch wäre es denkbar, die Zutaten für einen soliden Raketenantrieb auf dem Mond zu gewinnen: Wasserstoff und Sauerstoff. Raumsonden haben bestätigt, dass in ständig schattigen Kratern am Mondsüdpol viel Wasserstoff lagert. Vermutlich gibt es dort auch Wassereis, das Sauerstoff liefern würde. Sauerstoff ist dazu überall im Silikatgestein des Mondes gebunden. Eine neue Bergbauindustrie müsste auf dem Mond also die Grundstoffe gewinnen und verarbeiten, um reinen Wasserstoff und Sauerstoff zu gewinnen.

Ab diesem Zeitpunkt wäre eine Mondbasis unabhängig von den wohl wichtigsten Rohstoffen der bemannten Raumfahrt: Treibstoff für den Antrieb und Wasser für den Menschen. Doch dieser Treibstoff läge nun auf der Mondoberfläche und müsste wiederum zum Treibstoffdepot transportiert werden, dem Gateway auf jenem Halo-Orbit, der auch vom Mond aus nur unter größerem Energieeinsatz (delta v) zu erreichen ist.

Ein Tor nach (n)irgendwo

Nun steckt das Wort Gateway weiter im Namen der Mondstation: Das Lunar Orbital Platform-Gateway soll also eine Art Tor sein, laut NASA vielleicht irgendwann eine Zwischenstation für Flüge zum Mars. Der US-Mondforscher Clive Neal von der University of Notre Dame im Bundesstaat Indiana glaubt nicht daran. Er sagt: Die anvisierte Lebenszeit des Gateways liege bei gerade 15 Jahren. Und es sei kaum realistisch, in dieser Zeit parallel zu bemannten Mondflügen auch noch eine bemannte Mission zum Mars zu starten.

Das Gateway ist somit höchstens eine Forschungsstation ähnlich der ISS, die aber vielfach kleiner und nur an drei Monaten im Jahr bemannt sein soll. Und sie könnte eine Zwischenstation auf dem Weg zur Mondoberfläche sein.

Eine Mondstation (noch) ohne Landefähre

Es scheint, das Gateway hat trotz der vielen eingegangenen Kompromisse zumindest einen Vorteil: Es liegt näher am Mond als die Erde und kann daher als Plattform für Ausflüge auf die Oberfläche dienen. Wenn es auch Orion nicht bis zur Oberfläche schafft, könnte ein separater Lander als Fähre zwischen dem hohen Halo-Orbit und dem festen Mondgrund pendeln.

Tatsächlich gibt es Pläne, eine Fähre vom Gateway hinab in den niedrigen Mondorbit – oder direkt zur Oberfläche – fliegen zu lassen. Nur: Wirklich sinnvoll ist das für tonnenschwere Raumschiffe mit Menschen an Bord nicht. Verglichen mit einem Direktflug Erde–Mondoberfläche kostet der Umweg über das Gateway deutlich mehr Energie.

Dazu kommt, dass die Entwicklung solcher Lander längst noch nicht so weit fortgeschritten ist wie die des Gateways selbst. Obwohl bei der NASA Studien für einen wiederverwendbaren Lander laufen, ist die Entwicklungsarbeit vorerst an Japans Raumfahrtbehörde JAXA und die ESA outgesourct. Die ESA hat zwar auch schon ein entsprechendes Programm namens Heracles angestoßen, das aber bislang kaum über Konzeptstudien hinausgekommen ist und dessen erste Schritte ohnehin unbemannte Lander wären, die vielleicht von Astronauten an Bord des Gateways ferngesteuert werden könnten. Dass darauf binnen weniger Jahre bemannte Raumfähren für die Mondoberfläche folgen werden, ist zweifelhaft: Denn weder ESA noch JAXA sind bei Mondlandern bislang sonderlich erfahren. Beide Raumfahrtagenturen haben keine einzige Sonde auf dem Erdtrabanten gelandet. Ihre Lernkurve dürfte steil sein.

Landefähre von Apollo 12
Vor fast 50 Jahren: Landefähre von Apollo 12

Europas Beitrag: Industriepolitik oder Moon-Village-Vision?

Während die NASA beim Gateway voranprescht und Russland schon wegen seiner Erfahrungen beim Bau von Raumstationen gern mit dabei wäre, sind die kleineren Partnerstaaten der ISS beim Gateway vorsichtiger. Ein Besuch von NASA-Administrator Jim Bridenstine in Kanada endete kürzlich nicht mit der erwarteten Zusage eines Roboterarms, den der nördliche US-Nachbar für das Gateway bereitstellen sollte. Und das, obwohl kanadische Roboterarme zuvor sowohl dem Space Shuttle als auch der ISS spendiert worden waren. Nachtrag 28.11.: Japan ist offenbar bereit, beim Gateway mitzuwirken, kann aber zusätzlich zur ISS keine weiteren Mittel dafür ausgeben.

Die ESA ist dagegen anscheinend ganz vorn mit dabei: Die Entscheidung für den europäischen Beitrag zu Orion fiel allerdings lange bevor die US-Raumfahrt auf den Mond als Ziel umschwenkte und auch bevor Jan Wörner 2015 als neuer ESA-Generaldirektor seine Idee eines Moon Village zum neuen Ziel der internationalen Raumfahrt ausrief: Schon 2011 sagte Europas Raumfahrtagentur zu, mit dem Servicemodul eine elementare Komponente des Orion-Raumschiffs zu liefern, deren erste Ausführung im Oktober 2018 an die NASA geliefert wurde.

Ein Foto des Automated Transfer Vehicle, eine Grafik des geplanten Orion-Raumschiffs
Foto links: Das europäische Automated Transfer Vehicle lieferte Nachschub zur ISS. Grafik rechts: Das Orion-Raumschiff der NASA wird ein Servicemodul verwenden, das dem ATV entlehnt ist.

Warum macht nun Europa bei Orion mit? Das scheint vor allem industriepolitische Gründe zu haben: Insgesamt fünf Automated Transfer Vehicles (ATV) fertigte die europäische Raumfahrtwirtschaft für Flüge zur ISS. Nicht nur optisch ähnelt Orions Servicemodul der Rückseite des ATV: Die Erfahrungen der Ingenieure flossen direkt in das Servicemodul ein, das nun wohl vielfach gebaut und gestartet werden muss. Zwar hat die ESA bislang nur zwei Antriebsmodule bestellt; vermutlich dürften jedoch bei einem 15-jährigen Betrieb des Gateways noch etliche hinzukommen.

Später wird alles besser?

Die erste Ausbaustufe des Lunar Orbital Platform-Gateway soll frühstens 2026 abgeschlossen sein, wenn eine erste Crew eine Luftschleuse installiert und die kleine Raumstation erstmals betritt. Irgendwann ab 2030 könnte das Gateway nach aktueller Planung mit einem Habitatmodul, einem Logistikmodul für Stauraum, zwei Luftschleusen und zwei großen Solarzellenausleger fertiggestellt sein. Damit wird das Gateway nur ein Bruchteil des Größe erreichen, die die ISS bietet. Und Flüge zur Mondoberfläche dürfte es in dieser Ausbaustufe vermutlich noch nicht geben, weil keine Fähre existiert, was wiederum die Suche nach Ressourcen auf dem Mond verzögern dürfte. Der US-Raumfahrtingenieur Robert Zubrin bezeichnet das Gateway daher als „nächsten großen Schritt in den Treibsand“.

Ein Lichtblick: Das Konzept des Gateways ist derzeit noch immer im Wandel begriffen. Der Beitrag erfahrener Raumfahrtnationen wie Russland ist noch nicht ausgehandelt; auch China könnte sich beteiligen, sollte der politische Wind in den USA sich drehen. US-Unternehmen wie SpaceX und Blue Origin planen gewaltige Raketen, mit denen sie Flüge zum Mond günstiger und damit auch für privatwirtschaftliche Kunden attraktiv machen könnten. Es ist somit vorstellbar, dass das Gateway trotz aller Kritik schließlich das wird, was es immer sein sollte: der nächste große Schritt des Menschen ins All.

Vielen Dank an unseren Leser Oliver Moldenhauer für die Anregung zu diesem Thema. Die Weltraumreporter freuen sich jederzeit über Kommentare zu diesem Text und Anregungen zu neuen Recherchen an ku@weltraumreporter.de!

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