Weil sie es sagen

Neues zu Karlsruher Zurückhaltung, parlamentarische Drohungen und anderen aktuellen Verfassungsthemen von Maximilian Steinbeis

von Maximilian Steinbeis
5 Minuten

Liebe Freunde des Verfassungsblogs,

War das eine Drohung, die Bundestagspräsident Norbert Lammert diese Woche, adressiert an das Bundesverfassungsgericht, in die FAZ (11.5.2017, S.6) hineingeschrieben hat? „Kluge Zurückhaltung“ empfiehlt er den Karlsruher Verfassungshütern, und fügt hinzu: „Ein sich in seinen Gestaltungsspielräumen limitiert sehender Gesetzgeber wird sich … womöglich zu wehren suchen, indem er Dinge, für die nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts eine hinreichende verfassungsrechtliche Legitimation bislang noch nicht bestanden hat, seinerseits in die Verfassung schreibt, um für künftige Fälle eine ungewollte Rechtsprechung möglichst zuverlässig zu verhindern…“

Das sind keine leeren Worte. Die aktuelle großkoalitionäre Vierfünftelmehrheit im Bundestag wird zwar kaum mehr größere Verfassungsreformen realisieren können, bevor im September die Legislaturperiode endet. Aber der Zorn des Parlaments gegenüber den Verfassungsrichter_innen dürfte je nach Thema durchaus auch über die Bundestagswahl hinaus hinreichend Bestand haben, um die nötigen Zweidrittelmehrheiten in Bundestag und -rat zu mobilisieren. Die Volksvertreter fühlen sich in manchen Bereichen, beim Wahlrecht etwa oder in der Europapolitik, derart eng von verfassungsgerichtlichen Vorgaben eingeschnürt, dass sie das Gefühl haben, eigentlich gar nichts mehr machen zu können, ohne in Karlsruhe Alarm auszulösen: Jedes Mal, so der Eindruck, wenn wir politische Entscheidungen fällen und verantworten, setzen sich die Acht in Karlsruhe ihre scharlachroten Kappen auf und machen Ts Ts Ts: Wieder falsch. Das kann doch nicht sein.

Das Parlament droht dem Verfassungsgericht. Ist das ein Vorgang von der Sorte, wie wir sie in Ungarn und Polen erlebt haben? Das wäre ein gravierendes Missverständnis. Erstens ist Drohung sowieso der falsche Begriff. Das Verfassungsgericht misst die Taten der Politik am Maßstab des geltenden Verfassungsrechts, und wenn die Politik unter Beachtung der von der Verfassung vorgesehenen Verfahren und Grenzen das Verfassungsrecht abändert, dann ist das keine Gemeinheit gegenüber dem Verfassungsgericht, sondern genau das, wozu der verfassungsändernde Gesetzgeber von der Verfassung selbst befugt und überhaupt da ist. In Frankreich beispielsweise ist es völlig normal, wenn der Verfassungsrat einen Rechtsakt für verfassungsrechtlich problematisch hält, nicht den Rechtsakt, sondern die Verfassung anzupassen. Ein Skandal wäre es, wenn der Gesetzgeber ohne verfassungsändernde Mehrheit die Gewichte zwischen den Verfassungsorganen verschiebt, wie in Polen geschehen. Ein Skandal wäre es weiterhin, wenn der Gesetzgeber mit verfassungsändernder Mehrheit eine neue antipluralistische und antidemokratische Verfassung schreibt, wie in Ungarn geschehen. Die Anforderungen des Grundgesetzes an das geltende Wahlrecht anzupassen, ist kein Skandal, sondern bequem innerhalb der Jobbeschreibung eines verfassungsändernden Gesetzgebers.

Zweitens gibt es durchaus valide verfassungsrechtliche Argumente, das Verhalten des Bundesverfassungsgerichts selber zu problematisieren. Die Rechtsprechung aus Karlsruhe ist bekanntlich stark durch die Staatsrechtslehrer_innen geprägt, die an ihr mitwirken und in die Jurisprudenz etwas hineinzutragen helfen, was in der Rechtswissenschaft nicht zufällig mit dem Wort Dogmatik bezeichnet wird: das Bemühen, den autoritativen Verfassungstext als konsistenten Sinnzusammenhang zu deuten und so aus ihm Maßstäbe für alle möglichen Einzelkonstellationen zu entwickeln. Diese Maßstäbe sind dogmatisch gesetzt: Sie gelten, „weil ich es so sage“. Wer aber ist das Ich dabei? Der Verfassungsgeber ist zur Setzung legitimiert, nicht aber Professor Soundso, und wenn er noch so sehr darauf besteht, dass das lauterste Wissenschaft ist, woraus er seine Erkenntnisse über das Recht bezieht. Er muss sich fragen lassen, wie er dazu kommt, kollektive Verbindlichkeit für seine normative Setzung zu beanspruchen. Und er riskiert, dass sie ihm bestritten wird. Paul Kirchhof fand es Anfang der 90er Jahre sehr einleuchtend, dass alle Bürger_innen auf Basis ihres Wahlrechts aus Art. 38 GG gegen europäische Vertragsänderungen Verfassungsbeschwerde einlegen können sollten, und er konnte genügend seiner Senatskolleg_innen überzeugen, diesen Deutungsvorschlag zu Art. 38 auch einleuchtend zu finden, um ihn im Maastricht-Urteil zu Verfassungsjurisprudenz werden zu lassen. Viele andere finden das aber bis heute überhaupt nicht einleuchtend und fragen beharrlich: Wie kommt ihr dazu? Das ist der Punkt, an dem die Autorität des Verfassungsgerichts auf dem Spiel steht, und an dem Lammerts Forderung nach mehr Zurückhaltung ansetzt. Karlsruhe täte gut daran, ihr zu folgen.

Verfassungskrisen

US-Präsident Trump hat den FBI-Direktor gefeuert, während dieser einem Regierungsskandal von Watergate-Ausmaßen auf der Spur ist. Das Entsetzen darüber drückte sich für viele in einem Wort aus, das die ganze Dramatik dieses Vorgangs auf den Punkt zu bringen scheint: Verfassungskrise! Ob dieser Begriff so ohne weiteres stimmt, ist eine der vier kurzen Fragen, die wir SANFORD LEVINSON gestellt und von ihm ebenso kurz beantwortet bekommen haben: Nicht der Rauswurf des FBI-Chefs begründe eine Verfassungskrise, so der Verfassungsrechtsprofessor aus Texas, sondern die schwachen verfassungsrechtlichen Möglichkeiten eines Rauswurfs Trumps.

Krisenhafte Züge trägt auch ein Vorgang, der bereits zweieinhalb Jahre her, aber immer noch ungelöst ist: der Clash zwischen Völker- und Verfassungsrecht in Italien, seit der italienische Verfassungsgerichtshof in seiner berühmt-berüchtigten Sentenza 238/2014 die Staatenimmunität Deutschlands gegenüber Schadenersatzklagen italienischer Opfer von NS-Verbrechen für unvereinbar mit deren Menschenrechten erklärt hat. In der Villa Vigoni – als deutsches Staatseigentum in Italien in diesem Streit von der Pfändung bedroht – fand in dieser Woche eine Konferenz dazu statt, auf der deutsche und italienische Jurist_innen in einem Akt akademischer Diplomatie gemeinsam nach Lösungsmöglichkeiten suchten. Wir dokumentieren die Konferenz in einem begleitenden Online-Symposium mit Beiträgen von ANNE PETERS, VALENTINA VOLPE, ANDREAS VON ARNAULD, PAOLO PALCHETTI, HEIKE KRIEGER, ALESSANDRO BUFALINI, RICCARDO PAVONI und CHRISTIAN TAMS und einem Livestream des Konferenz-Finales am Samstag mit Diskussionsberichten, einem Roundtable mit PIERRE-MARIE DUPUY, VALERIO ONIDA und BRUNO SIMMA sowie einer Keynote von CHRISTIAN TOMUSCHAT.

In Großbritannien könnte das Post-Brexit-Heulen und -Zähneklappern noch ganz andere, ungeahnte Dimensionen annehmen, wenn die Investoren merken, was ihnen durch den Brexit für finanzielle Schäden drohen, und dieselben vom britischen Staat ersetzt haben wollen. Dafür gibt es in den bilateralen Investitionsschutzabkommen Großbritanniens durchaus Ansatzpunkte, vermutet IOANNIS GLINAVOS, was dann die Rechnung für den Brexit erst so richtig teuer machen dürfte.

Anderswo

THERESA RICHARZ fragt, wo beim Verbot der Leihmutterschaft und ihrer Beurteilung durch das OLG Braunschweig und den Europäischen Menschenrechts-Gerichtshof der Aspekt des Kindeswohls abgeblieben ist,

STEVE PEERS analysiert das jüngste Urteil des EuGH zu dem Klassiker, ob Eltern von Kindern mit Unionsbürgerschaft ein Recht auf Aufenthaltsstatus haben,

TIM OLIVER überlegt, wie sich die Übermacht der Metropole London im britischen Verfassungsrecht besser abbilden und einfangen lassen könnte,

DENIS BARANGER versucht sich vorzustellen, wie Präsident Macron nach den französischen Parlamentswahlen effektiv regieren kann,

MALKAZ NAKASHIDZE berichtet von den jüngsten Bemühungen, in Georgien den Parlamentarismus zu stärken,

JUNTENG ZHENG sieht in der brutalen Jagd auf Homosexuelle in Tschetschenien den Völkerrechts-Tatbestand eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit erfüllt,

AZIZ HUQ stellt Trumps Schlag gegen das FBI in den Kontext der Entwicklungen in Ungarn, Polen und Venezuela und hält die Frage nach der Rechtmäßigkeit desselben für falsch gestellt, während BOB BAUER aufdröselt, in welche rechtlichen Schwierigkeit sich Trump mit seinem Eingeständnis gebracht haben könnte, dreimal von FBI-Chef Comey versichert bekommen zu haben, dass gegen ihn selbst nicht ermittelt wird.

So viel für diese Woche. Ihnen alles Gute,

Max Steinbeis


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