Warten auf Jamaika

von Maximilian Steinbeis
7 Minuten

Liebe Freunde des Verfassungsblogs,

209 Tage hat es in den Niederlanden gedauert. 541 Tage in Belgien. 344 Tage in Spanien. Wenn es blöd läuft, dann reiht sich in diese Hitparade der in die Länge gezogenen Regierungsbildungen demnächst auch die Bundesrepublik Deutschland ein, und zwar womöglich durchaus auf einem der vorderen Ränge. Zur Stunde dauern die Sondierungsgespräche zwischen CDU, CSU, FDP und Grünen noch an, aber nach allem, was ich lese und höre, sieht es nicht so aus, als ob sie bald in einer stabilen, freudig und machtbewusst in die Zukunft blickenden Regierungskoalition münden werden. Vier der sechs Parteien im Bundestag versprechen sich offenbar, aus durchaus nachvollziehbaren Gründen, von der Oppositionsrolle mehr Profit als von der riskanten Aufgabe, als Juniorpartner an Angela Merkels Macht und Verantwortung teilzuhaben, (und mit der AfD will aus noch viel nachvollziehbareren Gründen ohnehin niemand koalieren).

Was, wenn es tatsächlich nicht klappt? Was dann passiert, ist in Art. 63 Grundgesetz nachzulesen: Dann schlägt der Bundespräsident dem Bundestag jemanden – Angela Merkel – zur Wahl vor. Die scheitert in zwei Wahlgängen an der erforderlichen absoluten Mehrheit, die sie ja mangels Koalition nicht hat. Im dritten Wahlgang reicht die einfache Mehrheit, und dann obliegt es dem Bundespräsidenten zu entscheiden, was ihm für Deutschlands Wohl förderlicher erscheint: Angela Merkel zur Minderheitskanzlerin zu ernennen oder Neuwahlen auszurufen. Neuwahlen hieße, dass es wohl wieder Sommer wird, bis Deutschland wieder eine handlungsfähige Regierung hat – wenn überhaupt, denn wer sagt, dass das Ergebnis die Regierungsbildung überhaupt leichter machen würde (siehe Spanien). Und das in Zeiten wie diesen.

Ist das Demokratieversagen? Zeigt das, dass mit unserem System etwas nicht stimmt? Wenn man die Verfassung als eine Art Software betrachtet, deren Aufgabe es ist, aus dem Input des Volkswillens den Output einer zu kollektiv verbindlichen Entscheidungen legitimierten und fähigen Mehrheit zu generieren, dann liegt der Gedanke nicht fern. Dann, so könnte man meinen, leistet das System nicht, was es leisten soll. Dann müssen wir es eben ändern. Dann brauchen wir eben ein anderes Wahlrecht! Wenn nicht gar eine Präsidialdemokratie!

Ich würde eine solche Schlussfolgerung für einen Riesenfehler halten. Gerade weil die Zunahme nicht koalitionsfähiger oder -williger Parteien in den Parlamenten Europas ein Krisenzeichen der Demokratie ist, wäre es fatal, dieses Zeichen durch Modifikationen am System zu neutralisieren. Denn dadurch geht die Krise nicht weg, genauso wenig wie der Infekt weggeht, wenn man Schnupfenspray benutzt.

Am Donnerstag war der große kanadische Philosoph Charles Taylor in der American Academy am Wannsee zu Besuch (wenn ich 86 werde, will ich aussehen wie er!). Sein Thema war die Empfänglichkeit der Demokratie für bestimmte „Pfade der Degeneration“ – so wie der Körper je nach Konstitution für bestimmte Krankheitserreger empfänglich ist. Ein solcher Pfad demokratischer Selbstzerstörung ist die Neigung, das Mehrheitsprinzip überzubetonen und darüber zu vergessen, dass an der Res Publica alle ihren Anteil haben, ob Mehr- oder Minderheit. Ein anderer ist der Impuls, diesen Anteil an der Res Publica identitär zu verabsolutieren und zwischen mehr oder weniger „echten“ Teilhabern zu unterscheiden, zur Identitätsstärkung der ersteren und zum Ausschluss der letzteren.

Der dritte Degenerationspfad, den Taylor hervorhob, ist die sich selbst verstärkende Feedback-Schleife des Abgehängtseins: das Gefühl, nicht teil zu haben an der Res Publica, nichts zu haben von ihr, schafft sich seine Gründe selbst. Mit steigender Zahl der Protest- und Nichtwähler wird das System immer dysfunktionaler, und entsprechend wächst die Zahl der Gründe, Sand-ins-Getriebe-Streuer bzw. überhaupt nicht zu wählen. Je mehr Leute sich kopfschüttelnd abwenden und nicht mehr verstehen, was vor sich geht, desto unleserlicher wird die Gesellschaft sich selbst, und desto mehr Resonanz erntet magic thinking nach der Art von „Make America Great Again“. Diese Feedback-Schleifen sind kein vermeidbarer Unfall und auch keine bloße Folge des Fehlverhalten irgendwelcher törichter Menschen, sondern der Demokratie gleichsam eingebaut, und damit sie nicht außer Kontrolle spiralen, bedarf es der Gegensteuerung: aktiver Bemühungen, die Res Publica wieder zum Projekt aller zu machen, die an ihr teilhaben.

Um zum Thema Regierungsbildung zurückzukommen: Dass die Parteibindung sich auflöst, die Volksparteien erodieren und charismatische Protestbewegungen ihnen den Spielraum zur Mehrheitsbildung rauben, ist kein Output-, sondern ein Inputproblem. Das geht nicht dadurch weg, dass man versucht, die Software so zu modifizieren, dass sie wieder den richtigen Output auswirft. Da hilft nur Geduld und eine robuste Konstitution und der von Einsicht getragene Entschluss, die Krise nicht um kurzfristiger Gewinne willen tiefer zu machen als notwendig, auf dass sich nicht unnötig Feedback-Kreisläufe schließen. Mir bleibt einstweilen nur wenig mehr, als bei den liberalen und christsozialen Sondierungs-Protagonisten auf diese Einsicht zu hoffen.

Das dritte Geschlecht

Ein Projekt, für das wir einen handlungsfähigen Gesetzgeber in Deutschland brauchen, ist die Umsetzung des Verfassungsgerichtsurteils zum 3. Geschlecht. Wir haben uns erlaubt, dafür schon mal etwas Hilfestellung zu leisten. ANNA KATHARINA MANGOLD hat in dieser Woche in dem von ihr organisierten Online-Symposium ein eindrucksvolles Maß an Sachverstand zusammengetrommelt, um das Feld für den Gesetzgeber schon mal zu ordnen. SARAH ELSUNI zeigt unter der wunderbaren Überschrift „harter oder weicher Sexit?“, welche Optionen der Gesetzgeber jetzt hat, und zu welchen Konsequenzen. NORA MARKARD analysiert die weitreichenden Folgen des Karlsruher Beschlusses für die Dogmatik des Diskiminierungsverbots in Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz generell. BERIT VÖLZMANN nimmt unter die Lupe, wie sich Persönlichkeitsrecht und Gleichheit in dem Beschluss zueinander verhalten. ROMY KLIMKE beleuchtet den völkerrechtlichen Hintergrund, und ULRIKE KLÖPPEL die Auswirkungen des Beschlusses auf die Praxis, kosmetische Genitaloperationen an Kleinkindern vorzunehmen. ELISABETH GREIF weist auf eine bevorstehende Entscheidung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs in gleicher Sache hin, und KATHLEEN JÄGER listet auf, welche Regelungen im Ausland dem deutschen Gesetzgeber als Vorbild dienen könnten.

Meanwhile in Polen: Dort strebt die PiS-Regierung an, die liberale Verfassung von 1997 durch eine neue illiberale Verfassung zu ersetzen. TOMASZ KONCEWICZ beschreibt mit Schaudern, was Polen von einer solchen „Verfassung der Furcht“ zu gewärtigen hätte. Übrigens: Die Jamaika-Koalition, so sie zustande kommt, will ihrem aktuellen Gesprächsstand zufolge (S. 50) „den Rechtsstaatsmechanismus der EU … verbessern“ und „die Kommission in ihrer Rolle als Hüterin der Verträge stärken.“

Anders als Kaczynski verfügt der japanische Ministerpräsident Shinzo Abe, seinerseits kein Nationalist von Traurigkeit, seit den jüngsten Unterhauswahlen in Japan über eine verfassungsändernde Mehrheit. TOMOAKI KURISHIMA sieht allerdings in den aktuell diskutierten Verfassungsänderungen noch keinen allzu großen Anlass, sich die Haare zu raufen.

In Luxemburg steht der Whistleblower Antoine Deltour vor Gericht, der die dubiosen Praktiken im Steuerparadies in Gestalt des Luxleaks-Skandals hatte auffliegen lassen. JEAN-PHILIPPE FOEGLE findet, dass der Fall die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Sachen Whistleblower-Schutz als lückenhaft entlarvt.

In Griechenland ist immer noch die Syriza-Regierung von Alexis Tsipras an der Macht. Dessen einstiger Finanzminister Yanis Varoufakis hat jetzt ein Buch herausgebracht, in dem er seinen Clash mit den Euro-Finanzministern aus seiner Sicht schildert. PAVLOS ELEFTHERIADIS hat das Buch für uns rezensiert und kommt zu einem vernichtenden Befund: „Varoufakis believes that his book’s narrative exposes the European Union’s deception and hostility to democracy. It does nothing of the sort. If anything, it provides evidence that the EU respects its own principles, even in moments of crisis. This is perhaps what should alarm those Brexiteers who hope to craft, like Varoufakis, a ‘bespoke’ deal to reflect some imaginary balance of power.“

Vor dem EGMR hat sich Deutschland eine Verurteilung eingefangen, weil es die Kennzeichnung von Polizisten nicht hinreichend sichergestellt hatte. Wie daraus ein Menschenrechtsverstoß entstehen kann, arbeitet JOHANNES GRAF VON LUCKNER heraus.

Anderswo

MANUEL MÜLLER leitet aus dem Schlagabtausch zwischen Europaparlamentspräsident Tajani und FDP-Chef Lindner um die europäische Finanztransaktionssteuer Hinweise ab, „was von der Europapolitik einer möglichen künftigen Jamaika-Koalition zu erwarten ist“, nämlich nichts Gutes.

MATEJ AVBELJ empfiehlt als Arznei in der gegenwärtigen Krise der konstitutionellen Demokratie „popular constitutionalism“ im Gegensatz zu „populist constitutionalism“ – „Constitutionalism which will listen and be responsive to the anxieties of the people; which will provide the solutions that will make a real difference in people’s life, while simultaneously staying faithful to the essential values of constitutional democracy.“ Eine sehr lesenswerte Reihe von Blogposts zum Thema „Populist Constitutionalism“ findet sich auf der Seite der EUI-Arbeitsgruppe von Gabor Halmai, mit Beiträgen von KIM SCHEPPELE, BOJAN BUGARIČ, PAUL BLOKKER, GABOR HALMAI, THÉO FOURNIER und JULIAN SCHOLTES.

ALEKSANDRA SOJKA fragt, wofür der Nationalismus in Polen marschiert.

JACQUES HARTMANN erklärt, was Dänemark während seines Turnus im Vorsitz des Europarats in punkto Reform der Europäischen Menschenrechtskonvention vorhat.

ANTONELLO CIERVO analysiert die Rede des französischen Präsidenten Macron vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.

VALESKA DAVID und SARAH GANTY sind enttäuscht über das Urteil des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofs Garib v. Niederlande, das kein Problem mit dem Recht auf Freizügigkeit darin erkennt, dass in den Niederlanden armen Menschen der Zuzug zu sozialen Brennpunkten untersagt werden kann.

ALBERTO CODDOU MCMANUS berichtet von den Verfassungsreformplänen in Chile und der zwiespältigen Rolle von Meinungsumfragen dabei.

ELEONORA BOTTINI untersucht, warum im US-Bundesstaat New York das Referendum für eine Reform der Staatsverfassung so krachend durchgefallen ist.

LEONID SIROTA berichtet über ein Urteil des kanadischen Supreme Court zur Religionsfreiheit eines Ureinwohnerstamms, nach dessen Glauben ein Stück Land vom Grizzly Bear Spirit bewohnt wird und daher nicht bebaut werden darf.

Soweit für diese Woche. Für die übermäßige Verwendung von Infektions- und Erkältungsmetaphern in diesem Brief bitte ich um Verzeihung, mir sitzt dieser verdammte Infekt halt noch in den Knochen. Ihnen alles Gute, und bleiben Sie gesund!

Max Steinbeis


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