„Reality sucks“

In der Virtuellen Realität bauen sich schon heute Menschen ein alternatives Leben auf. VR Reporterin Eva Wolfangel hat vier von ihnen begleitet, in Virtuellen Welten und in Kuwait, Israel und den USA.

26 Minuten
Durch eine mit Regentropfen übersäte Fensterscheibe sind unscharf die rötlichen Lichter zu erkennen, die auf einem nahen Gebäude scheinen. das Bild vermittelt das Gefühl von Isoliertheit und Abgeschiedenheit.

Endlich hört Ben nicht mehr nur das Pochen seines eigenen Herzens. Die Stimmen seiner Freunde dringen in sein Ohr. Weit entfernt noch, aber sie kommen näher, Meter um Meter. Gleich werden sie da sein. Dann wird er aus dem Schatten der Wendeltreppe hervortreten. Jetzt versteht er einzelne Fetzen der Unterhaltungen, die ersten erreichen wahrscheinlich gerade die Bar. Ben wirft einen letzten Blick zum violetten Vorhang hinter sich, durch den sich winzige blau-kalte Lichtpartikel der Straßenlaternen von draußen nach drinnen arbeiten. Auf dem dunklen Parkettboden werden sie geschluckt von den warmen Strahlen der Lampen, die über der Bar hinter der Holzverkleidung Sonnenuntergangsstimmung verbreiten. Ben schaut sich um. Ist alles perfekt? So, wie es sich gehört für so einen Tag?

Da. Das war Shoos Stimme. Sie kichert. Gefällt es ihr? Das Haus, das er ihr gebaut hat, die Bar mit der großen Fläche, auf der er heute mit ihr tanzen will – was Shoo noch nicht weiß. Ben lauscht, den Kopf leicht schief, und blinzelt aus seinem Schatten in den Raum voller Licht. Die Gäste stehen um die Bar herum und in den Ecken, sie lachen, sie erzählen Anekdoten, manche flüstern, etwas besonderes liegt in der Luft, was wird hier heute geschehen?

Als Shoo verträumt die Torte betrachtet, die sie für ihre Geburtstagstorte hält, schleicht sich Ben von hinten heran, er flüstert ihr ins Ohr „komm mit hoch.“ Shoo folgt ihm die Wendeltreppe hinauf ins Schlafzimmer. Das Bett frisch gemacht mit weißer Satin-Bettwäsche, die Gardinen zugezogen, darüber liegen schwere Samtvorhänge verspielt in Schleifen, auf dem Nachttisch eine kleine Lampe mit goldenem Sockel und warmem Licht, dunkler Parkettboden und weinrot melierte Wände. Nur ein Fetzen Nachthimmel, der durch einen Vorhangspalt dringt, wird Zeuge dessen, was die Gäste im unteren Stock nur durch einen Schrei und ein kurzes Aufschluchzen von Shoo vernehmen. Dann rennt sie die Treppe hinunter: „Ich habe mich gerade verlobt“, ruft sie in die neugierigen Gesichter, in die Avatar-Gesichter, ihre Stimme bricht ein wenig, die Gäste hören den Kloß in ihrem Hals, der sich gerade auflöst, aber sie hören vor allem die Freude in ihrer Stimme.

Das ist alles nicht echt. Zumindest nicht aus der Perspektive unserer hiesigen schnöden Realität. Der Nachthimmel besteht aus Pixeln, ebenso das romantische Schlafzimmer, die Bar und leider auch die Torte. Die Szene spielt sich in der Virtuellen Realität ab. Und doch: wer dieser Verlobungsparty beiwohnt, wer durch das große Haus schlendert und die Einrichtung bewundert, der ist ein echter Mensch, und er ist gewissermaßen auch wirklich hier. Die Gäste haben ein Headset und Kopfhörer aufgesetzt und ihre materiellen Körper zurückgelassen in ihren Wohnzimmern in London, Atlanta, Peking, Berlin oder Kairo. Ihr Bewusstsein hat einen Avatar in der virtuellen Realität bezogen, der sich anfühlt wie ihr Körper, weil sie darin stecken und durch die Welt durch dessen Augen betrachten. Weil er ihren Bewegungen folgt und weil alles um sie herum gewohnten Gesetzen der echten Welt gehorcht: Der Lichtkegel der Lampe hinter der Bar streift ihre Hand, wenn sie daran vorbei gehen, sie hören die Stimmen jener lauter, die gerade ihren Weg kreuzen – und dabei gehen sie auch in der anderen Welt der Wohnzimmer mit ihren biologischen Körpern. Doch diese andere, „echte“ Welt bleibt zurück hinter dem Virtual Reality Headset.

Sie alle haben Controller in der Hand, die sich in der virtuellen Welt in echte Hände verwandeln, mit denen sie sich ein Stück Kuchen nehmen können, mit virtuellen Sektgläsern anstoßen oder mit denen sie Shoo umarmen können – was gerade viele tun, um ihr zur Verlobung zu gratulieren. Fast alle haben verfolgt, wie sich das Paar in den Virtuellen Räumen von Altspace VR kennen gelernt hat, einem Treffpunkt in der Virtuellen Realität, wie sie dort gemeinsam Kunstwerke gestalteten und Partys feierten, und wie schnell klar wurde, dass sie zusammengehören. Wie sie schließlich stets gemeinsam auftauchten, immer öfter im Partnerlook, immer dicht beieinander, stets das Glück in ihren Stimmen. Shoo die Aufgedrehte, Ben der Ruhige. Allen ist klar: das alles ist echt. Und vor allem eines ist echt: die Liebe zwischen Ben und Shoo.

Eine zweite Realität

Die beiden hätten nie gedacht, dass eines Tages ihr Realitätsbegriff in Frage stehen würde. Doch dazu führt diese neue Form der Realität: sie stellt derzeit vieles auf den Kopf, was wir für gegeben hielten. Der Traum ist alt, aber nun ist die Technik weit genug und auch für Konsumenten erschwinglich, so dass es erstmals im Leben der Menschheit die Möglichkeit gibt, sich zwischen mehreren Realitäten zu entscheiden – jenseits von Phantasiereisen, Wahnvorstellungen oder Drogentrips. „Die virtuelle Realität ist genauso real wie die physische Welt“, sagt der Australische Philosoph David Chalmers in einem TED-Talk, „es muss keinerlei Illusion daran beteiligt sein, wenn wir die virtuelle Realität nutzen.“ Der Philosoph beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Theorie des Bewusstseins und der Frage, wie echt eigentlich die physische Welt ist. Woher wissen wir, dass sie nicht nur eine Simulation ist? Darüber streiten Philosophen seit René Decartes Gedankenexperiment im 17. Jahrhundert: wir könnten ebenso gut in einer Illusion leben, gesteuert und getäuscht von einem Dämon. Können wir sicher sein, dass die reale Welt nicht nur ein Produkt unseres Gehirns ist?

Spätestens mit dem Film „The Matrix“ hat diese Frage die breite Öffentlichkeit erreicht. Und die virtuelle Realität zwingt uns erneut dazu, uns damit zu beschäftigen. Die Immersion, das Gefühl des totalen Eingetauchtseins, ist so hoch, dass Zweifel aufkommen, ob es überhaupt relevante Unterschiede gibt zur echten Welt. Chalmers sagt Nein: „Die virtuelle Realität ist keine zweite Klasse Realität.“ Sie stehe der echten in nichts nach.

Ben hat sich noch wenig Gedanken über die Klassifikation seiner Realitäten gemacht. Aber eines ist klar: dieses echte Leben, das ihn, den Entwickler besonderer Effekte für Gruselfilme, gerade in Atlanta, USA, festhält – dieses Leben ist alles andere als erste Klasse. Und das liegt nicht am Job, der ihm Spaß macht, sondern an Shoo, genau genommen an ihrem Fehlen in dieser Realität: sie ist so verdammt weit weg. In dieser Realität sitzt Ben an einem Oktober-Abend in seiner kahlen neuen Wohnung, in der vor allem ein Computer steht, viele Kabel, Headsets, Sensoren in den Ecken des Raumes.

Ein junger Mann mit Vollbart und beginnender Glatze trägt eineine VR-Headset auf dem Kopf. Er steht in einem leeren, kahlen Raum. Die Jalousien vor den Fenstern sind geschlossen.
Bens Wohnung in Atlanta ist weitgehend leer: er ist gerade erst hier her gezogen. Weil er wegen seines Berufs oft umziehen muss, hat er wenige Freunde in seiner materiellen Realität.

So fern und doch so nah

Ansonsten: ein leerer Kühlschrank, eine Gitarre in der Ecke. Zwischen all dem ein junger Mann Ende 20 mit Vollbart, Glatze und breiten Schultern. „Ich halte mich nicht für besonders attraktiv“, sagt er, der Bauch sei ein wenig zu dick und er eigentlich schüchtern. Shoo ist seine erste Freundin. Er habe sich davor nie getraut, jemanden anzusprechen. Dazu kommt der Job, wegen dem er ständig umziehen muss. „Ich habe kaum Freunde im echten Leben.“ Im Virtuellen ist das anders. Die Sorge vor dem eigenen Aussehen fällt weg, physische Distanzen spielen keine Rolle. Innere Werte haben eine Chance. Und diese Realität ist einfacher zu erreichen als viele Orte auf der Welt.

Als er vor einiger Zeit in ein Flugzeug stieg, um seine Geliebte zum ersten Mal im echten Leben zu treffen, wurde Ben in den vielen Stunden oberhalb der Wolken vor allem eines klar: wie weit weg Shoo ist. Er führt eine Fernbeziehung, nur war das bisher nicht aufgefallen. Seither spürt er den vielen Raum zwischen sich und ihr, gerade jetzt, wo sie in ihrer Heimat China ist ohne Zugang zum virtuellen Traumhaus, um ein Visum für die USA zu beantragen. Ein langwieriges Unterfangen. Die Realität hält Barrieren bereit, die das Virtuelle mühelos überwindet. Oder: „Reality sucks“, wie Ben es ausdrückt. Seine Beziehung fühlt sich im Virtuellen realer an als in der Realität, zumindest momentan.

Vielleicht ist diese Unterscheidung aber auch überholt.

„Der Mythos der Echtheit“

Thomas Metzinger sitzt in seinem Büro an der Universität Mainz und zeigt auf das rote Sofa in der Ecke. „Ist das real?“, fragt er. Er wartet – und schüttelt den Kopf. „Nein, der Inhalt Ihres Erlebens jetzt gerade, in diesem Moment, dieses Rot des Sofas, das sind Eigenschaften eines Modells in unserem Gehirn.“ Was wir so direkt und unvermittelt erleben, ist es weit weniger. „In Wirklichkeit ist es eine kontrollierte Online-Halluzination, die Sie nicht als solche erleben, weil das „Sehen“ und das „Ich“ selbst ein Teil dieses Halluzination sind“, sagt er. Nach seiner Theorie gibt es keine farbigen Gegenstände vor unseren Augen, sondern Mischungen von Wellenlängen. „Rot“ oder „blau“, das sind Aspekte von Modellen, die unser Gehirn erstellt. „Wir erleben nicht Realität, sondern virtuelle Realität – eine Möglichkeit.“ Die beste Hypothese. Eine Vorhersage. „Dass sich etwas real anfühlt, bedeutet, dass das Gehirn ein Modell erzeugt mit hoher Vorhersagegenauigkeit."

Diese Genauigkeit erleben Bens und Shoos Gäste: Sie treten unter den Kegel einer Lampe und sehen nun alles heller – wie erwartet. Sie hören Menschen von weitem – und je näher sie kommen, desto lauter werden ihre Stimmen. Sie steigen die Wendeltreppe hinauf und sehen alles von oben. Die Gesetze der Physik, die wir von klein auf lernen und als gegeben hinnehmen, sie werden zu Zeugen der Realität.

Ähnlich geschieht es unserem Bewusstsein, so Metzinger: „Das Gefühl, Sie selbst zu sein, also Ihr Ich-Bewusstsein, ist eine Simulation Ihres Gehirns, ein inneres Modell des Selbst mit vielen Schichten.“ Das Gehirn berechne aus allen Informationen, die ihm zur Verfügung stehen, was die beste Hypothese ist, die wahrscheinlichste Variante der Wirklichkeit und des Selbst in ihr – und präsentiert uns diese als Realität. In diesem Fall also, dass wir in unserem biologischen Körper stecken. Seit Millionen von Jahren existiere die virtuelle Realität in unserem Kopf. „Und wenn wir es geschickt anstellen, glauben Sie, Sie seien in einem anderen Körper.“

Metzinger hat das mit Kollegen aus der Hinrforschung in einigen Experimenten ausprobiert und bereits 2007 Menschen ein Stück weit in virtuelle Körper versetzt: damals erzeugten die Forscher ein Bild des Probanden von hinten und ließen ihm das durch eine Virtual-Reality-Brille so erscheinen, als stünde es etwa zwei Meter vor ihm. Dann streichelten die Forscher den Teilnehmer am Rücken, gleichzeitig sah er, wie der virtuelle Körper vor ihm ebenfalls gestreichelt wurde. „Dadurch beginnt das Gehirn zu glauben, dass der Eigenkörper-Avatar irgendwie zum eigenen Körper gehört. Das wird auf einmal zur besten Hypothese, und so erleben wir es auch.“ Für Metzinger ist die Virtuelle Realität ein Glücksfall, denn sie erlaubt erstmals, das berühmte Gummihand-Experiment auf den ganzen Körper zu erweitern.

Thomas Metzinger spricht von einem „Mythos der Echtheit“, der unserer scheinbar realen Welt anhängt. Das spricht aus seiner Sicht nicht dagegen, dass es physische Körper und die Außenwelt gibt. Aber es stellt ihren Alleinvertretungsanspruch als Realität in Frage.

Aber was ist überhaupt real?

VR vereint

Jerusalem. Eine weiße Steinmauer, eine weiße Säule, ein schwarzer Tisch, weißer Marmorboden und dazwischen vor allem – nichts. Doch davon viel. Am Rande dieses Nichts in einer Ecke sitzt Chris Duguid auf einem großen grauen Sofa. Der 48-jährige Kanadier sieht klein aus in dieser riesigen Wohnung, auch wenn er das real nicht ist, und er wirkt fremd wie ein Eindringling. Er schaut auf die weiße Schirmlampe auf dem kleinen schwarzen Wohnzimmertisch, ihr Fuß sieht aus wie eine antike Vase, sie soll Gemütlichkeit vermitteln. Aber er weiß nicht einmal, wo der Lichtschalter ist. Das rote Schlüsselband an seinem Hals, sein oranger Pulli und eine blaue Jacke über dem Kleiderständer in der Ecke sind die einzigen Farbpunkte.

Das ist Duguids Leben nun, seit zwei Monaten, er lebt aus dem Koffer, die wenigen eigenen Dinge reichen bei weitem nicht aus, um die Wohnung so wirken zu lassen, als sei sie ein Zuhause. Duguid wirkt einsam und entwurzelt, wie er da so sitzt, hineingebeamt in diese fremde sterile Umgebung.

Doch es ist nicht so wie es wirkt. Der Sicherheitsmechanismus klickt, die Wohnungstür springt auf, Charlotte und Lilly, zwei Teenager mit Zahnspangen und liebevoll geflochtenen Frisuren kommen herein und ziehen ihre Mutter Julie hinter sich her. Charlotte wirft sich sofort aufs Sofa und kuschelt sich an ihren Papa, Lilly und Julie setzen sich auf das Sofa gegenüber. Sie sind gemeinsam gebeamt worden, sie sind zusammen, und das ist in Duguids Leben das, was Heimat ausmacht. Er darf seinen Arbeitgeber nicht nennen, nur so viel: seine Arbeit führt dazu, dass er alle zwei bis drei Jahre mit seiner Familie in ein neues Land zieht, häufig arme oder konfliktträchtige Regionen. Und diese Arbeit führte auch dazu, dass sich die Familie eine alternative Realität gesucht hat, damals als die reale Realität sie zerriss und damit das bisschen Heimat zerstörte, das man sich in so einem Leben erhalten kann.

Wenn Chris Duguid von dieser Zeit im Sommer 2016 erzählt, als Selbstmord-Attentäter eine Bäckerei im Diplomatenviertel von Dhaka, Bangladesch, stürmten, nur wenige hundert Meter vom Haus der Duguids entfernt, und 25 Menschen töteten, darunter Bekannte der Familie, dann zögert er bei jedem zweiten Wort, denkt sehr genau nach, er stottert auf einmal ein wenig – und seine Tochter kuschelt sich noch enger an ihn. „Das kam so plötzlich“ flüstert sie. Glücklicherweise ist die Familie an diesem Tag nicht vor Ort in Bangladesch, sondern im Urlaub in Italien. Duguids Arbeitgeber verfügt, dass die Kinder zurück müssen nach Kanada, das Leben vor Ort ist zu gefährlich.

So findet sich der Vater von einem auf den anderen Tag allein im Haus wieder. Er wird morgens im gepanzerten Wagen zur Arbeit gefahren, abends zurück. Das Haus darf er ansonsten nicht verlassen. Abend für Abend sitzt er in diesem Zuhause, das sich immer weniger wie ein Zuhause anfühlt, er läuft rastlos durch die Wohnung wie ein gefangener Tiger – in einem großen Käfig zwar, aber das hilft nichts. Immer wieder geht er durch die beiden Kinderzimmer, sie sehen aus, als wären sie nur für kurz verlassen worden. Aber seine beiden Töchter werden nie wiederkommen. Duguid fühlt sich einsamer als je zuvor im Leben. Die Telefonate mit seiner Familie helfen nicht, sie machen ihm nur klar, wie weit weg seine Liebsten sind. Diese Verzweiflung spürt seine Frau Julie durch das Telefon – aber sie ist hilflos. Durch das Telefon lässt es sich so schwer trösten. „Ich habe mir Sorgen gemacht um seine psychische Gesundheit“, sagt sie heute.

Doch dann liegt da das Virtual-Reality-Headset im Haus in Bangladesch, noch verpackt im Karton. Erst schmerzt Chris Duguid auch dieser Anblick. Es sollte doch ein gemeinsames Abenteuer mit den Töchtern werden, diese Reise ins Virtuelle. Er öffnet es zögernd, er hat sowieso nichts zu tun, wieso also nicht einmal ausprobieren?

Das Headset liegt auch heute da in der großen Wohnung in Jerusalem – und so sind die Kinderzimmer von damals bis heute nur eine kurze Bewusstseinsreise entfernt: er hat die Zimmer damals mit Hilfe von 360-Grad-Bildern in der virtuellen Realität nachgebaut, und sich dort mit seinen Töchtern getroffen: in Altspace VR in den virtuellen, aber echten Kinderzimmern. „Ich wollte ihnen die Chance geben, sich wenigstens zu verabschieden“, sagt er.

Chris Duguid zieht sein Headset über – und da ist er wieder, der Schmerz des Sommers 2016: Die Stofftiere, die einsam in Lillys Zimmer liegen, ein riesiger Bär in ihrem Bett; die Schuhe in der Ecke, die halb geöffnete Schultasche unter Charlottes Schreibtisch neben dem Hochbett. Chris läuft verloren durch die Räume, dann schlüpft er unter Headset und Kopfhörern hervor und kommt zurück in die Jerusalemer Realität. Die virtuelle Realität, sie sei damals seine Rettung gewesen. „Wir waren endlich wieder zusammen. Am Telefon sprichst du mit Menschen, die weit weg sind, Videogespräche sind so unnatürlich und fremd. In der Virtuellen Realität triffst du die Menschen wirklich.“ Die Familie spielte Karten dort gemeinsam oder Tennis – und die Töchter stritten, so wie immer. Doch selbst darum war Chris dankbar: „Es war alles so real.“ Wie das echte Leben.

Das, was Familie Duguid zusammengebracht hat, nennen Forscher „place illusion“. Das Gefühl, real vor Ort zu sein, hängt nicht an einer möglichst perfekten Grafik: unser Gehirn ergänzt den Rest. Dass die Avatare bei Altspace mehr wie Roboter denn wie Menschen aussehen stört nicht. Im Gegenteil, das erleichtert es dem Gehirn sogar, sich auf das wesentliche zu konzentrieren: die Interaktion ist wichtig für das Hier-Gefühl. Das bestätigen erste Studien: Keisuke Suzuki vom Sackler Centre for Consciousness Science der University of Sussex ließ Nutzer verschiedene virtuelle Welten ausprobieren und fand heraus, dass die Interaktion der zentrale, echtheitserzeugende Faktor ist: „Sobald ich mit Menschen oder Dingen interagieren kann, fühlt es sich echt an.“ Denn dann kann unser Gehirn seine Hypothesen überprüfen: „Es will eine kohärente Geschichte.“ Die Theorie sei nicht neu, aber dank Virtueller Realität gebe es endlich auch Evidenz dazu.

„Ich gehöre nicht in diese Welt.“

Während das Leben seiner Frau und seiner Töchter in Kanada weitergeht, ist Chris Gefangener im eigenen Haus in Dhaka, ein großes Haus, das sich um ihn herum zusammenschnürte. „Es fühlte sich klein an.“ So zieht er in die Virtuelle Realität, Abend für Abend. „Hej Chris, wie geht es dir?“ fragt ihn eines Abends eine sanfte Frauenstimme. „Ich genieße gerade, wie diese Welt hier meinen eigenen Raum wieder wachsen lässt“, platzt er heraus – und sorgt sich sofort, wie wirr das klingen mag.

Aber der lila Avatar ihm gegenüber nickt verständnisvoll, „komm mit, ich zeig dir meinen Raum.“ Es ist Sana, eine Witwe aus Kuwait, eine streng gläubige Muslimin, immer ein bisschen traurig. Chris philosophiert Abende lang mit Sana an ihrem offenen Kamin in ihrer „Zeitmaschine“, wie sie ihren Raum in Altspace nennt, über den Sinn des Lebens, über Zeitreisen, über Religion. Sie diskutieren über ihre melancholischen Gedichte, die sie an die Wände ihres Raumes geschrieben hat und über ihr Verhältnis zu Männern.

„Wir sind kein Paar“, ruft Sana dann immer aus, wenn es um einen amerikanischen Entwickler geht, der sie meist umgibt, wenn sie online ist. Er liest ihr die Wünsche von den Augen ab. Sie ist die Kreative, schreibt Gedichte und Geschichten, ihr Verehrer baut daraus virtuelle Welten. Und Chris erkennt eine Gemeinsamkeit zwischen sich und Sana trotz all der Unterschiede: auch sie ist gewissermaßen Gefangene in ihrem Haus. Ihre Religion verbietet den engen Kontakt mit Männern, als muslimische Frau hat sie kaum Freiheiten im Alltag. Hier im Virtuellen kann sie tun und lassen, was sie will – ihr biologischer Körper ist schließlich allein Zuhause in ihrer Wohnung, dort, wo er hingehört.

Aber für Sana gibt es einen weiteren Grund, vielleicht sogar einen, der wichtiger ist als die Angst vor ihrem Gott, für den sie ohne Ausnahme fünf Mal am Tag und auch in der Nacht betet und für den sie ihre Tochter in der Pubertät gezwungen hat, das Kopftuch zu tragen. Als Muslimin Männer in der Virtuellen Realität zu treffen, das ist schließlich so wie freitags Maultaschen zu essen als Christ in der Hoffnung, dass Gott schon nicht sieht, was man wirklich tut (nämlich Fleisch essen). Auch die gesellschaftliche Ächtung ist nur ein Puzzleteil zu Sanas Leben im Virtuellen.

Die drei Avatare stehen in einem großen Raum in der virtuellen Realität von Altspace. Hinter ihnen brennt ein virtuelles Feuer.
Die Autorin (blau) mit Sana (lila) und ihrem Verehrer Evildoer in Sanas Raum in der Virtuellen Realität. Am Kaminfeuer haben die drei nächtelang philosophiert. Das Bild an der Wand ist eine traurige Geschichte, die Sana dorthin geschrieben hat.

Wer mehr erfahren will, muss viele Abende mit Sana am virtuellen Kaminfeuer verbringen, wo sie eines Tages über ihren Mann spricht, der vor mehr als 25 Jahren im Golfkrieg gefallen ist, als Sana gerade Anfang 20 war und ihre Tochter knapp zwei. Hier am virtuellen Kaminfeuer wird klar, wie sehr sie ihn geliebt hat, so sehr, dass sie sich nichts sehnlicher wünscht als dass die Zeitreisen, die sie in ihrem Raum thematisiert, eines Tages Wirklichkeit werden. Aber das muss ein Traum bleiben. An diesem Punkt der Gespräche schweigen ihre Besucher stets betroffen. „Ich bin ein düsterer Mensch“, sagt sie dann und alle starren ins Feuer.

Es sind nicht nur die Männer, es ist nicht nur Gott. Es ist ein Thema, für das sie ihrer Gesprächspartnerin, der Journalistin, in die Augen schauen will. Und das geht nicht im Virtuellen. Sana wechselt den Raum, um über das zu reden, das sie seit der Kindheit begleitet. Sie wechselt den Raum in die Realität.

Als sich die Reporterin aus der Virtuellen Realität tatsächlich im echten Leben ankündigt, bekommt Sana Angst. „Sie wird mich dann auch nicht mehr mögen, sie wird merken, wie langweilig ich bin.“ Sie denkt, sie muss ihr die Stadt zeigen, aber sie kennt sich nicht aus. Sie verlässt das Haus fast nie. „Was mache ich mit ihr?“, fragt sie ihre virtuellen Freunde am Vorabend, „wird sie mich komisch finden?“ Dieser fixe Gedanke, nicht in diese Welt zu gehören, hat sich verselbständigt. Sana geht nie raus, sie gibt den Menschen keine Chance, mit ihr zu reden. „Ich bin schüchtern“, sagt sie, doch im Virtuellen ist wenig davon zu spüren.


Sana steht mit dem Rücken zur Kamera unter der riesigen Glaskuppel einer Aussichtsplattform. Von dort oben kann man große Teile Kuwaits sehen.
Sanas (vorne rechts) materielle Welt ist von ihrer Religion geprägt und von ihrem Gefühl, nicht in diese Welt zu gehören. Sie verlässt ihr Haus normalerweise nicht. Hier hat sie eine Ausnahme gemacht, weil sie der Besucherin ihre Heimatstadt Kuwait City zeigen möchte.

Dort in dieser anderen Realität, in Sanas kleiner Wohnung in Kuwait City, die Regale voller Bücher, der Fernsehtisch voller Süßigkeiten, dort klebt an jedem Fetzen Luft die Hitze, eine Klimaanlage rattert, nur ein winziger Streifen Tageslicht schummelt sich durch die Pappe, mit der Sana ihre Fenster verklebt hat. Und schon in ihrem ersten Satz wird klar, wie fremd sie sich in dieser Realität fühlt: „Ich gehöre nicht in diese Welt.“ Sie sei schon immer alleine, in der Schule habe sie keine Freunde gehabt und auch später nicht. „Mich mag einfach niemand. Ich bin langweilig.“ Sie ist ihr Leben lang allein, bis auf jene kurze heftige Liebe mit ihrem Mann, und bis auf ihre Tochter, die gleichzeitig da und nicht da ist: die junge Frau, Mitte 20, huscht ab und zu durch das Wohnzimmer und verschwindet schnell wieder hinter ihrer geschlossenen Zimmertür.

Hier in Kuwait City hat sie sich ein Leben als Bücherwurm eingerichtet, liest den ganzen Tag, betet, und liest. „Ich hatte mich damit abgefunden.“ Bis ihr eines Tages ihr Bruder ein Virtual-Reality-Headset ausleiht. Die andere Realität fühlt sich sofort an wie ein Zuhause. „Zum ersten Mal habe ich Menschen getroffen, denen es geht wie mir“, sagt sie. Auch sie spüren, dass sie nicht in diese reale Welt gehören. Auf einmal hat sie ein Sozialleben. „Ich sage manchmal: Altspace ist eine psychiatrische Klinik, eine Nervenheilanstalt“, sagt Sana und lacht, „wir sind doch alle nicht normal.“

Jeder wählt seine Realität selbst

Doch womöglich ist genau das in Zukunft normal: „Wir werden bald auswählen, in welcher Realität wir uns aufhalten“, sagt Philip Rosedale. Der heute 49-jährige Internet-Unternehmer hat 2003 „Second Life“ gegründet, jene Plattform, auf der sich Millionen Menschen ein „zweites Leben“ aufbauten: Der Gedanke alternativer Realitäten fasziniert offenbar, die Plattform hat mehr als 36 Millionen registrierte Benutzer – aber sie ist zweidimensional, auf dem Bildschirm, die Immersion der Virtuellen Realität fehlt. Viele halten sie für gescheitert, doch bis heute bestreiten ein paar Tausend Menschen ihren Lebensunterhalt in Second Life.

Rosedale wittert seine Chance in der Immersion. „Schon als Junge wollte ich die Physik der echten Welt in den Computer bringen“, berichtet er in seinem Studio in San Francisco. Jetzt hat er die Chance dazu. Dann wechselt auch er die Realität in seine VR-Repräsentanz „High Fidelity“ – „kommen Sie einfach mit“, sagt er, und reicht ein Headset. Noch sei nicht alles perfekt, sagt er beim Spaziergang zwischen moosigen Felsblöcken, rot leuchtenden Fliegenpilzen und riesigen Kleeblättern, aber das dauert nicht mehr lang. Er erforscht gerade, wie man die Mimik in die Gesichter der Avatare übertragen kann, andere arbeiten an der Haptik. „In einigen Jahren werden wir die reale Welt als Museum betrachten“, sagt er. Als eine Option unter vielen, als die Altmodische unter ihnen. Jeder kann dann wählen, in welcher Realität er sich gerade wohl fühlt. „Wir werden nur zurückkehren um zu essen und zu lieben.“

Ein Mann mittleren Alters mit etwas kantigem Gesicht und bereits angegrauten blonden Haaren lächelt ganz leicht in die Kamera. Er steht in einem Raum im industriellen Look.
Träumt schon immer davon, den Raum zwischen den Computern zu beleben: Second-Life-Gründer Philipp Rosedale sieht in der Virtuellen Realität eine große Chance.

Für Sana ist es nun Zeit zurückzukehren in ihr virtuelles Leben. Nach zwei Tagen im „echten“ Leben mit vielen tiefgründigen Gesprächen in Cafés, die sich anfühlen wie jene am Kaminfeuer in Sanas Zeitmaschine, mit viel kindlicher Entdeckungslust in Museen, und einigen unfreiwilligen Stadtrundfahrten, weil sie ihre Heimatstadt nicht kennt, hat sie genug von dieser Realität. Sie geht nach Hause und betet. Dann verabschiedet sie sich vom echten Leben.

Dort, wo sie gerade eben noch gekniet ist und ihrem Schöpfer gesagt hat, wie sehr sie zu ihm steht, dort, wo sie gerade noch die Stirn zur Erde gesenkt hat, in der Ecke neben ihrem Bett, im Schlafzimmer, wo die Gebete von Frauen nach der Überlieferung am meisten zählen, dort zieht sie nun ihr Virtual-Reality-Headset über die Augen und verlässt diesen Raum. Nur ihr Körper bleibt zurück. Sie trifft sich mit ihren Freunden in der VR-Welt „RecRoom“, spielt dort Tennis und Montagsmaler mit dreidimensionalen Kunstwerken. Im düsteren Schlafzimmer in Kuwait, dort bleibt nur das Lachen, das zwischen den Wänden hallt, das Lachen einer Frau, die gerade ganz wo anders ist.

Sie sind glücklich, diese Menschen, die die virtuelle der angeblich realen Realität vorziehen. Doch es gibt Mahner und Warner. Die Menschen fliehen vor der Realität, wo führt denn das hin? „Es ist unglaublich schwer, das wertfrei zu betrachten, was da gerade entsteht“, gibt der Philosoph Thomas Metzinger zu. Aber warum nicht? Die Bedenken, dass Menschen sich verstellen oder vorgeben, jemand zu sein, der sie nicht sind, hat er schnell entkräftet. Auch die Stimme transportiert „embodied information“, verkörperte Information. Und auch Emotionen vermitteln sich darüber: Manche Forscher versuchen, die Mimik allein aus der Stimme zu rekonstruieren mittels Künstlicher Intelligenz – mit vielversprechenden Ergebnissen. Wir hören, wie sich unsere Mitmenschen fühlen.

„Ich sehe nicht, wieso man in einer virtuellen Umwelt nicht ein ebenso erfüllendes und sinnhaftes Leben führen können sollte, wie in der Realität“, sagt David Chalmers. Noch fehlten einige Aspekte des echten Lebens, manche Dinge wie Sex, Hunger, Geburt oder Tod ließen sich vielleicht nicht übertragen, „aber gib dem ein paar Jahre, dann haben wir zumindest eine Matrix-artige VR, die kaum unterscheidbar ist von unserer Art Realität.“ Und für manche könnte sie vielleicht sogar besser sein, sagt Metzinger: „Es ist ja nicht so, dass das, was wir jetzt haben, besonders gut funktioniert.“

Manche Nutzer bestehen darauf, schon jetzt Umarmungen im Virtuellen zu spüren – auch wenn das nicht sein kann. Aber auch im echten Leben werde menschliche Nähe allzu oft nur halluziniert, sagt Metzinger: „Sie ist manchmal gar nicht echt, sondern in kulturell eingebetteten Gehirnen erzeugt.“ Wie oft hören wir Sätze wie Er hat mir die ganze Zeit etwas vorgemacht! Wieso sollte man es verurteilen, wenn sich Menschen andere Realitäten suchen, die sie glücklich machen? Die für sie besser funktionieren? „Verurteilen sollte man in diesem Sinne gar nichts“, sagt Metzinger. Für viele ist das eine Chance, von diesem Körper unabhängiger zu sein, dem wir bisher auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren.

VR befreit

Für Cattz ist dieser Körper wie ein Klotz am Bein. Wer ihn im Virtuellen treffen will, muss schnell sein. Er verwandelt sich in wenigen Sekunden vom Star Wars-Krieger in eine kleine Katze, dann in ein Mischwesen aus Hase und Maus, schließlich in ein gruseliges Monster und wieder in einen Krieger. Er springt vom einen in den anderen Raum, spielt hier ein Spiel und mischt sich dort in eine Diskussion ein, um gleich wieder zu verschwinden. Wer hinterherkommt und ab und zu einen Spruch erträgt, a la „Du bist sicher eine hübsche junge Frau, komm mich doch mal besuchen“, der kann viel Spaß mit ihm haben. Er hilft bei jeder Frage, er zeigt die besten Spiele, er klettert auf Bäume und hinter Mauern und zeigt alle Geheimnisse der Virtuellen Realität.

Man möchte ihn festhalten und rufen: Stopp, Cattz, wer bist du eigentlich? Jeder kennt ihn hier, er scheint immer online zu sein. Wer es schafft, ihn festzuhalten, in einem privaten Raum in Altspace, geschlossen für andere Nutzer, bekommt Stichworte zugeworfen: er lebt in Spokane, USA, ist schwer herzkrank, hat fünf Kinder verteilt über die USA von zwei Ex-Frauen, keinen Kontakt zu diesen und ist einsam, lebt von Frührente, ist ziemlich pleite und hat laut seiner Ärzte noch etwa drei Jahre zu leben. „Ich fliehe vor meinem echten Leben“, sagt er ganz offen, „hier ist es schöner.“

Hier kann er einen Körper beziehen, der jung und fit ist, hier kann er überall dabei sein. Auf seiner Freundesliste in Altspace stehen 2000 Namen. Nicht alle sind begeistert. Für Sana ist er ein Flegel, ein oberflächlicher Zeitgenosse, das hat sich schon bei ihrem ersten Treffen manifestiert, als er hörte, dass sie Araberin ist und sie fragte: „Bist du eine Bauchtänzerin?“ Aber ist er nicht arm dran? „Naja noch ist er nicht gestorben – und er spricht schon seit mehr als einem Jahr davon.“ Chris findet ihn „sozial ein wenig seltsam“, er mache Witze, die vor 35 Jahren lustig waren, „aber er ist schon ok“. Er gehört zu dieser Gemeinschaft wie der Klassenclown zu einer Klasse. Wie im echten Leben hat auch hier jeder seine Rolle.

Am Ende stirbt Cattz tatsächlich auf eine gewisse Art. Er verschwindet von einem Tag auf den anderen. Ein Lehrstück, was geschieht in dieser Zukunft, wenn ein virtueller Körper von seinem Bewusstsein getrennt wird – und anders herum.

Erstmal wundert sich keiner der 2000 Freunde. Immer wieder sind Menschen hier verschwunden. Wahrscheinlich haben sie ihr Glück dann doch in der anderen Realität gefunden, mutmaßen sie hier. Das ein oder andere Pärchen, das sich hier gefunden hat, ist sang- und klanglos verschwunden. Kein Wunder, sagen sie hier, für das Liebesleben hat die echte Welt eben doch Vorzüge. Wer hier weg ist, ist weg. Noch gibt es kaum Verbindungen zwischen diesen beiden Welten. Aber Cattz? Ob ihm etwas zugestoßen ist?

Von seiner Realität abgeschnitten

Zunächst ist es schwierig herauszubekommen, was überhaupt passiert ist. Es gibt kein Lebenszeichen, Mails laufen ins Leere, das Facebook-Profil ist verwaist, und die Plattform Steam, auf der man schauen kann, wer seiner Freunde gerade welches VR-Spiel spielt, weiß nur, dass Cattz seit zwei Monaten nicht mehr online war.

Schließlich taucht ein Foto auf Facebook auf, ein brennendes Haus, dazu ein Link zu einem Zeitungsartikel: ein Großbrand in einem Wohnhaus in Wichita-Falls, Kansas, ein Film von Feuerwehrleuten, die atemlos berichten, dass sie keine Chance hatten gegen das Feuer. Das letzte Bild der Fotogalerie zeigt die Grundmauern. „Ich war in diesem Feuer“, schreibt Cattz darunter. Zwei seiner virtuellen Freunde markieren den Beitrag mit traurigen Emoticons, keiner kommentiert ihn. Dann wieder Schweigen.

Irgendwann ein Post über den Facebook-Messenger, eine Chat-App fürs Smartphone. Ein widerwilliges „Ich bin ok“ auf unzählige besorgte Nachfragen, daraufhin über Tage Lebenszeichen im wahrsten Sinne des Wortes: morgens „bin wach“, abends „gehe schlafen“, dazwischen: nichts. Äußerungen des Körpers, in dem Cattz gefangen ist seit jenem Brand, der nicht nur sein Zuhause verschlungen hat, sondern auch seinen Computer und sein Virtual Reality Headset. Das Tor zu seinem Leben ist weg. „Cattz, ich komme dich jetzt besuchen.“ „Komm nicht, ich bin hässlich.“ Tags darauf: „Ich bin eklig. Ich warne dich.“

Aber das stimmt nicht. Sein biologischer Körper hat die Gestalt eines bärenhaften väterlichen Nerds. Zwischen den langen grauen Haaren und dem grauen Bart ein junges Gesicht und Augen, die an einen seiner Avatare erinnern: manchmal blitzen sie so unternehmungslustig wie die des kleinen Maushasen. Wäre da nicht der Körper, der die Unternehmungslust ausbremst, der ihn schwer atmen lässt, sobald er sich schneller bewegt und der ihn die meiste Zeit auf dieser fleckigen Matratze hält, hier in einem Kellerraum in Spokane. Eine trostlose amerikanische Stadt in Washington, gerade weit genug weg von der Westküste, dass hier auch Normalverdiener leben können. Um zu überleben vermieten sie stinkende, schmutzige Kellerräume für 400 Dollar im Monat. Mehr kann Cattz nicht bezahlen.

Doch viel schlimmer für ihn: sein Headset ist verbrannt. Und er wird lange sparen müssen, um sich irgendwann ein neues kaufen zu können. Lieber verzichtet er auf Essen.


Cattz, ein älterer mann mit langen grauen Haaren, struppigem Vollbart und Brille, sitzt auf einem Picknicktisch im Wald. Die Sonne scheint ihm ins Gesicht. Vor ihm auf dem Tisch steht ein Softdrink und etwas zu Essen.
Cattz verlässt seine Kellergruft nur ungern – die Autorin hat ihn überzeugt, mit ihr hinaus zu gehen. Doch er bleibt dabei: die materielle Welt ist nichts für ihn.

Es ist schwer zu ertragen, die Tage mit einem Mann, der nur unfreiwillig im echten Leben ist. Er verlässt sein Zimmer nur in Notfällen, vor allem dann, wenn dieser biologische Körper nach Essen oder Trinken verlangt, dann geht er zu Taco Bell, weil ein Fünf-Dollar-Menü von dort auch noch fürs Abendessen reicht, und weil er den 1-Liter-Colabecher kostenlos erneut auffüllen darf, so oft er will. Das tut er zuletzt beim Rausgehen, der Becher steht stets halb gefüllt neben der Medikamententasche auf dem kleinen Tisch in seiner Keller-Gruft. Fünf Herztabletten am Tag, drei Becher Cola Zero, ein paar Scheiben Toastbrot. Er will nicht raus, will niemanden treffen. „Menschen sind mein Problem“, sagt er, „sie mögen mich nicht.“

Am nächsten Tag, seinem 52. Geburtstag, investiert er seinen letzten Dollar in eine Cola. Erst in drei Wochen bekommt er wieder Rente. Wovon lebt er bis dahin? Er zuckt mit den Schultern. Leben ist sowieso relativ ohne Headset. Er wird sich so bald keines leisten können. Er ist jetzt nicht mehr Cattz sondern Mark, ausgespuckt von seinem virtuellen Körper, gewaltsam und unfreiwillig gelandet in dieser anderen Welt, die angeblich sein echtes Leben sein soll. Per Definition mag das stimmen, er lebt jetzt wieder in diesem Körper, mit dem er einst auf die Welt gekommen ist. Aber es Leben zu nennen, das wäre Euphemismus. Cattz hat sein Leben verloren.

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