Wie man sich wehrt

Max Steinbeis präsentiert aktuelle Debatten über die (rechtlichen) Grundlagen des Zusammenlebens

von Maximilian Steinbeis
6 Minuten
Menschen auf einem Platz vor einem Gebäude mit einem großen Plakat, das Erdogan zeigt.

25. März 2017

Liebe Freunde des Verfassungsblogs,

dies war eine relativ ruhige Woche auf dem Verfassungsblog, ganz im Gegensatz zur Welt da draußen. In London gab es einen neuen Terroranschlag, in Deutschland haben wir einen neuen Bundespräsidenten, und in den USA gibt es womöglich bald einen neuen Richter auf Lebenszeit am Supreme Court. Neil Gorsuch heißt er, ist 49 Jahre alt und soll nach dem Willen der Republikaner beim Niederreißen des Regulierungsstaats helfen, auf dass das Recht der freien Kapitalgesellschaft, Gewinne zu privatisieren und Risiken zu vergesellschaften, nicht länger unter der Oppression durch bürokratische Klima-, Umwelt- und anderer Experten zu ächzen habe. Ob er diese Hoffnung der Republikaner erfüllt, wird man sehen. In dieser Woche stand Gorsuch im Senat Rede und Antwort, und in der nächsten werde ich zu dieser Personalie ein Interview mit Mattias Kumm führen, der als Verfassungsrechtsprofessor in New York und in Berlin forscht und lehrt und deshalb besonders gut erklären kann, was es mit so obskuren Dingen wie der „Chevron-Doktrin“ auf sich hat.

Nicht mehr neu, dafür jeden Tag atemberaubender ist der Konflikt mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der von dem Anschlag in London noch nichts wissen konnte (hoffe ich jedenfalls), als er in einer Rede in Ankara damit drohte, kein Europäer werde „auch nur irgendwo auf der Welt sicher und beruhigt einen Schritt auf die Straße setzen können“. Das Oberhaupt des drittgrößten Nato-Mitgliedsstaats ein Fall für die Gefährderliste – wer geglaubt hatte, Erdoğans Nazi- und Gaskammer-Unterstellungen in Richtung Europa ließen sich an schierer Irrsinnigkeit nicht mehr toppen, sah sich eines Besseren belehrt.

Die Strategie des Schulhofbullys

Apropos Irrsinn: Pathologisierung ist, wie auch bei Trump, selten eine gute Idee, sich auf das Verhalten von Politikern einen Reim zu machen. Natürlich, und das weiß auch jeder, hat Erdoğan seine Ratio in dem bevorstehenden Verfassungsreferendum, mit dem er am 16. April sein Land in eine dysfunktionale Präsidialdemokratur zu verwandeln strebt, nach dem Motto: Europa will eine schwache Türkei, und wenn ihr das nicht wollt, dann wählt eine starke Türkei – ergo Ja zum Präsidialsystem. Dieses Argument glaubt nur, wer seine Prämisse glaubt, weshalb alles darauf ankommt, dass Europa tatsächlich der Türkei möglichst feindselig gegenübertritt, und das erreicht man nach bewährter Schulhofbully-Manier, indem man unprovoziert und mit maximaler Aggressivität und Brutalitätsbereitschaft die Faust vor die Nase hält.

Zur Schulhofbully-Strategie gehört, dass man als ihr Opfer nur verlieren kann. Wehrt man sich, tut man dem Bully den Gefallen, ihm Anlass und Grund für seine Aggressivität gleichsam rückwirkend nachzuliefern. Wehrt man sich nicht, hat der Bully sowieso gewonnen. Die Risikolosigkeit dieser Strategie (deren passiv-aggressive Variante übrigens auch dem Vorgehen der Kommentar-Trolle zugrunde liegt, die seit einiger Zeit auch den Verfassungsblog immer öfter heimsuchen) ist der Grund, warum es meist Feiglinge sind, die sich ihrer bedienen.

Durchkreuzen lässt sich die Schulhofbully-Strategie, indem man sie selbst zum Thema macht. Auch die gewalttätige Rede ist eben nicht nur Gewalt, sondern auch Rede – ein Gesprächsangebot. Wer, die Faust des Bullys vor der Nase, den Mut aufbringt zu fragen, was der Bully eigentlich will, der hat keine schlechten Chancen, wenn schon nicht unbedingt seine Nase, so doch seine Würde zu retten.

Vorgelagert ist die Frage, was der Schulhofbully überhaupt auf „unserem“ Schulhof zu suchen hat. Das türkische Verfassungsreferendum ist nicht nur in punkto Wahlkampf, sondern auch als Wahlakt selbst ein mitten in Deutschland lokalisierter Vorgang: Wer in Deutschland lebt und einen türkischen Pass hat, kann in ein türkisches Konsulat gehen und dort seine Stimme abgeben. Dass Expatriates mitwählen können, obwohl sie der Macht, um die es geht, gar nicht unmittelbar unterworfen sind, ist ein relativ neues und vielleicht problematischeres Phänomen als wir dachten. Auch dazu haben wir in der nächsten Woche ein ausführliches Interview mit einem der profiliertesten Experten auf diesem Gebiet vereinbart, nämlich mit dem Politologen und Democratic-Citizenship-Forscher Rainer Bauböck vom Europäischen Hochschulinstitut in Florenz.

Zusammenhalt und Austritt

Die britische Premierministerin Theresa May wird nächste Woche den so genannten Artikel-50-Knopf drücken, benannt nach dem Artikel im EU-Vertrag, der den Austritt von Mitgliedsländern regelt, womit die Zweijahresfrist für den Brexit offiziell zu laufen beginnt: Ab April 2019 ist dann das Vereinigte Königreich definitiv draußen. Für Großbritannien ist der Brexit nicht nur ökonomisch und politisch, sondern auch verfassungsrechtlich eine Zäsur: Die „Souveränität des britischen Volkes“ durch Austritt aus der EU zurückzugewinnen, ist in einem Land, wo nicht das Volk, sondern das Parlament souverän ist, keine triviale Sache – ein Dilemma, das nach Ansicht von Oliver Garner durch Neuwahlen aufgelöst werden müsste.

Eine Demonstration in Barcelona im Jahr 2014: Die Menschen fordern die Unabhängigkeit Kataloniens und schwenken katalonische Flaggen.
Eine Demonstration in Barcelona im Jahr 2014: Die Menschen fordern die Unabhängigkeit Kataloniens und schwenken katalonische Flaggen.