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VerfassungsNews: Max Steinbeis präsentiert aktuelle Debatten über die (rechtlichen) Grundlagen des Zusammenlebens

von Maximilian Steinbeis
10 Minuten
Zahlreiche Europaflaggen vor einer geschlossenen Gebäudefront.

Berlin, 4. März 2017

Liebe Freunde des Verfassungsblogs,

Stellen wir uns vor, 50 Bundestagsabgeordnete der Regierungsfraktionen würden nach einem kritischen Interview der BGH-Präsidentin Bettina Limperg beim Bundesverfassungsgericht beantragen, ihre Jahre zurückliegende Ernennung zur Präsidentin für verfassungswidrig zu erklären. Stellen wir uns obendrein vor, Bundesjustizminister Heiko Maas hätte einen entsprechenden Antrag beim Bundesverfassungsgericht eingereicht, um drei missliebige Verfassungsrichter aus dem Amt zu klagen. Bei einem Bundesverfassungsgericht, in dem zuvor in jedem Senat fünf der acht Richter von der Regierungskoalition durch eigene Leute ersetzt worden sind.

Eine irre Vorstellung? Zweifellos. Aber man muss nur Deutschland durch Polen ersetzen, um zu sehen: Das passiert gerade.

Natürlich ist die große Koalition nicht mit dem PiS-Parteienbündnis gleichzusetzen. Bettina Limperg ist nicht Małgorzata Gersdorf, und Heiko Maas ist nicht Zbigniew Ziobro. Deutschland ist nicht Polen. Aber das ist kein Grund, so zu tun, als ginge uns das nichts an. Was in Polen – und, schon viel länger, in Ungarn – gerade passiert, ist nicht Außenpolitik für die EU-Mitgliedsstaaten. Das ist europäische Innenpolitik.

Hier dokumentiert eine Regierung, die in allen europäischen Institutionen mit Sitz und Stimme über uns alle mitregiert, für jedermann und jederfrau sichtbar, dass sie das Rechtsstaatsprinzip nicht unbedingt als bindend akzeptiert. Und trotzdem scheinen die meisten europäischen Regierungen, die deutsche eingeschlossen, weiter so zu tun, als sei hier in erster Linie diplomatische Klugheit gefragt. Es mag viele gute außen-, sicherheits- und energiepolitische Gründe geben, Polen zurzeit pfleglich zu behandeln. Wenn uns aber gegenüber eklatanten Verstößen gegen das Rechtsstaatsprinzip und damit den Grundpfeiler der europäischen Rechtsordnung außer Appeasement und ebenso kraft- wie folgenlose Ermahnungen überhaupt nichts einfällt, dann stellen wir selber die Rechtsstaatlichkeit zur Disposition. Und spätestens das ist dann ganz bestimmt nicht mehr nur Außenpolitik.

Die EU-Kommission hat bekanntlich mit großem Getöse ein Rechtsstaatlichkeits-Verfahren gegen Polen angekündigt. Seit letzter Woche liegt die Reaktion der polnischen Regierung vor. Wie sie ausfällt und warum sie die Kommission nicht nur nicht beruhigen, sondern endgültig von der Notwendigkeit eines Sanktionsverfahrens überzeugen sollte, analysieren Kim Scheppele und Laurent Pech in einem fulminanten Beitrag, der mit deutlichen Worten nicht spart. Die Kommission ist nicht zu beneiden, zumal die Mitgliedsstaaten ihr hartnäckig jede Unterstützung verweigern und sich stattdessen hinter dem Feigenblatt eines völlig wirkungslosen „Rechtsstaatlichkeitsdialogs“ verstecken. Für eine Kommission, die ihre Aufgabe als Hüterin der europäischen Verträge ernst nimmt, ist das freilich keine Entschuldigung.

Wie eingeschüchtert die europäischen Institutionen derzeit agieren, zeigt sich auch an ganz anderer Stelle: Das erstinstanzliche Gericht der Europäischen Union hat in dieser Woche Klagen gegen den so genannten „EU-Türkei-Deal“ in Sachen Flüchtlingsschutz als unzulässig abgewiesen – und zwar mit dem Argument, es handle sich vielleicht um einen Türkei-, aber nicht um einen EU-Türkei-Deal. Das waren nur die Mitgliedsstaaten, die sich in den Augen des Gerichts da mit der Türkei verständigt haben, nicht aber die EU, weshalb ein EU-Gericht das Abkommen von vornherein nicht überprüfen könne. Jürgen Bast filetiert den Beschluss aus Luxemburg und kommt zu dem Schluss: Wenn das so stehenbleibt – wenn die Mitgliedsstaaten sich jeder gerichtlichen Kontrolle entziehen können, indem sie einen Akt einfach als Nicht-EU-Akt deklarieren – dann reißt das ein weiteres tiefes Loch in die Herrschaft des Rechts in Europa.

Wenn sie an die Macht kommen

Apropos Löcher reißen: Theo Fournier hat sich genauer angesehen, was Marine Le Pen für Verfassungsänderungen plant, sollte sie im Mai zur Präsidentin Frankreichs gewählt werden. In ihrem Programm, so Fournier, ist beschrieben, wie Frankreich zu einem nahezu absoluten Präsidialregime werden könnte, mit einem geschwächten Parlament, geschwächten Regionalverwaltungen und einer Präsidentin, die mit Hilfe von Referenda weitgehend ungehindert machen könnte, was sie will. Das Schlimmste daran ist: Da die Präsidentin per Referendum die Verfassung ändern kann, gäbe es kaum etwas, was man dagegen noch tun könnte.


Marie Le Pen von Front National bei einer Rede zum ersten Mai im Jahr 2015.
Marie Le Pen von Front National bei einer Rede zum ersten Mai im Jahr 2015.