Europa ist keine Story

VerfassungsNews: Max Steinbeis präsentiert aktuelle Debatten über die (rechtlichen) Grundlagen des Zusammenlebens

von Maximilian Steinbeis
6 Minuten
Eine schmale Straße mit Kopfsteinpflaster und historischen Häusern

29. April 2017

Liebe Freunde des Verfassungsblogs,

Die vor uns liegende Woche ist vielleicht die letzte, in der wir noch mit einiger Gewissheit von der Europäischen Union, wie wir sie kennen, im Indikativ Präsens sprechen können. An ihrem Ende wird sich herausstellen, ob künftig Marine Le Pen in Frankreich regiert, und wie wir in diesem Fall über Europa reden werden, wird mit einiger Wahrscheinlichkeit von einem traurigen Präteritum geprägt sein. Einstweilen aber haben wir noch Zeit, uns weiter den Kopf darüber zu zerbrechen, wie das Futur des europäischen Einigungsprojekts beschaffen sein könnte: Noch ist die große europäische Erzählung nicht zu Ende erzählt, und ob sie sich als Verfalls- oder Erfolgsgeschichte herausstellt, das wollen wir doch erst mal sehen.

Was nicht notwendig heißt, dass wir genau die gleiche Erzählung weitererzählen sollten oder können wie in den vergangenen 60 Jahren, als hätte es die Euro- und die Flüchtlingskrise, als hätte es das Brexit-Referendum, als hätte es Marine Le Pen nie gegeben. Brauchen wir für Europa ein neues Narrativ? Das war Thema einer ebenso prominent besetzten wie ertragreichen Konferenz in der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin, organisiert von Claudio Franzius, Franz Mayer und Jürgen Neyer, der ich gestern beiwohnen durfte. Fazit: In der Europarechts- und -politikwissenschaft ist keines der etablierten Angebote, die europäische Integration zu erzählen, mehr unbestritten akzeptiert.

Europa, geeint von der Majestät des Rechts?

Das gilt nicht zuletzt für die Geschichte von Europa als Rechtsgemeinschaft, vom ersten Kommissionspräsidenten (und Juraprofessor) Walter Hallstein einst formuliert und für Generationen von Europarechtlern Leitstern und Bezugsquelle der eigenen Deutungshoheit – Europa als Gemeinwesen, das mangels zentraler Zwangsgewalt von der Majestät des Rechts geeint und zusammengehalten wird. Das stimmt einfach nicht mehr, so Armin von Bogdandy: Diese Geschichte einfach weiterzuerzählen, heiße sich blind machen für die eklatante Zwangsgewalt, denen sich die Griechen in der Eurokrise ausgesetzt sahen und sehen, ebenso wie für den Ausschlag, der einen nicht geringen Teil der britischen Bevölkerung seit einiger Zeit bei Erwähnung des Wortes „EuGH“ befällt. Europa ist politisch und nicht mehr nur Rechtsgemeinschaft, so schwer diese Einsicht den Juristen zu akzeptieren auch fällt. Diese These, von Bogdandy ohne falsche Schonung vorgetragen, blieb nicht unwidersprochen, aber doch im Kern unwiderlegt.

Auf einem anderen Blatt steht, ob es Europa überhaupt gut tut, erzählt zu werden. Den zur Beantwortung dieser Frage nötigen erzähltheoretischen Input lieferte der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke, und der jedenfalls riet den Europarechtlern und -politologen mit Nachdruck davon ab. Narrative, so Koschorke, sind dann erfolgreich, wenn sie ein Deutungsschema bereitstellen, das den Einzelnen ihr individuelles Erleben in Sinnzusammenhänge arrangiert und aus denen, die dieses Schema teilen, eine Wir-Gruppe macht, die ihre Mitglieder mit dem Gefühl von Sicherheit und Anerkennung versorgt. Je mehr die große liberale Erzählung, dass es mit zunehmender Modernisierung allen immer besser geht, ins Schlingern gerät – „was haben Liberale zu erzählen über Massenmigration?“ – desto mehr wird das Narrativ zum Werkzeug der Verengung und Abgrenzung und Abschließung, also des Gegenteils dessen, wofür Europa steht.

Auf dem Markt der Erzählungen hat Europa wenig zu gewinnen und viel zu verlieren.
Albrecht Koschorke

Orbán in Straßburg

Das Narrativ als Domäne der Rechtspopulisten – als Anschauungsbeispiel für diese These kann der Auftritt von Viktor Orbán im EU-Parlament diese Woche gelten. „Ich bin hier hergekommen, um mein Land zu verteidigen“, hielt der Magyarenführer dort mit steinerner Miene den Parlamentariern entgegen, die ihn mit Kritik wegen der Attacke auf die CEU, des Gesetzentwurfs zur NGO-Zivilgesellschaft, der Misshandlung von Asylbewerbern und der manipulative „Stoppt-Brüssel“-Volksbefragung überhäuften. Ungarn sei „ein stolzes Land“, die Ungarn „geben den Kampf nie auf“. Was immer die EU tut, sie macht sein Narrativ nur stärker. Nach dem CEU-Gesetz hat die EU-Kommission jetzt ein weiteres Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn gestartet. Was davon zu erwarten ist und was die EU sonst noch in petto hätte, um Ungarn auf den Pfad der Rechtsstaatlichkeit zurückzuführen – nicht viel – fasst Gábor Halmai zusammen.

Ungarischer Premierminister Viktor Orban.
Der ungarische Premierminister Viktor Orbán auf einer Pressekonferenz in Berlin.