Denk dir das Verfassungsgericht weg

VerfassungsNews: Max Steinbeis präsentiert aktuelle Debatten über die (rechtlichen) Grundlagen des Zusammenlebens

von Maximilian Steinbeis
6 Minuten
Richter und Richterinnen stehen in roten Roben in einer Reihe

Berlin, 24. Februar 2017

Liebe Freunde des Verfassungsblogs,

ein paar Jahre lang haben wir uns richtig gut gefühlt. Wir Deutschen waren Vorreiter. Mehr noch: Vorbilder. Wir hatten das Bundesverfassungsgericht, vor sechzig Jahren noch von vielen als ein in scharlachrote Fantasiekostüme gehülltes Stück Kompetenzanmaßung belächelt, aber längst zur quasi unbestrittenen Autorität über alle möglichen Grund- und Detailfragen der Rechtsordnung geworden, zum Beschützer der Schwachen und zum Schrecken der Mächtigen, unser ganzer Stolz, ein Ausweis und Garant unserer Rechtsstaatlichkeit und Symbol unseres Aufstiegs from Rags to Riches, kurzum: Das Verfassungsgericht stand für alles, was gut war an Deutschland. Und nicht nur das: Wir hatten das, was alle anderen wollten. Die Osteuropäer rissen sich um unser Modell. Selbst die Franzosen schienen in den 00er Jahren begriffen zu haben, dass ihnen etwas fehlt ohne richtiges Verfassungsgericht. Der US Supreme Court, politisiert bis ins Mark und kaum interessiert an interkonstitutionellem Dialog, hatte seine Strahlkraft weitgehend verloren. Wer wissen wollte, wie man Konstitutionalismus macht, so dachten wir nicht ohne Überheblichkeit, der kam zu uns.

Ist das vorbei? Ich war in dieser Woche in Karlsruhe, um dem Jahrespresseempfang des Bundesverfassungsgerichts beizuwohnen. Welch große Verunsicherung dort wahrzunehmen war, habe ich hier beschrieben. Polen und Ungarn, einst verfassungsjurisprudenzielle Musterschüler Deutschlands: aus und vorbei. In Tschechien scheint es auch Probleme zu geben – darüber versuche ich gerade mehr herauszufinden. In Spanien ächzt der Verfassungsgerichtshof unter der Last, die katalonische Unabhängigkeit abwenden zu müssen, und droht jetzt auch noch in die Mühlen der Politisierung zu geraten. In Großbritannien bekommt es die Justiz, kaum entwickelt sie so etwas wie Verfassungskontrolle des Gesetzgebers, statt mit beifälligem Applaus mit „Enemy-of-the-People“-Zeitungsschlagzeilen zu tun. Dass Richter der Politik in den Arm fallen, scheint von immer mehr Europäern nicht als Segen, sondern als Übergriff gegenüber dem „Willen des Volkes“ wahrgenommen zu werden. Was heißt das für die Verfassungsgerichtsbarkeit insgesamt? Eben noch Vorbild, jetzt Exemplar einer bedrohten Art?

Ich hatte am Mittwoch Gelegenheit, mit dem Verfassungsrichter Peter Müller ein ausführliches Interview zu führen. Zwei Dinge will ich aus dem Gespräch hervorheben: Zum einen deutet Müller die Bedrängnis, in die die Verfassungsgerichtsbarkeit geraten ist, als Teil eines allgemeineren „Erosionsprozesses mit Blick auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie“, und für den macht er nicht nur den Anstieg des Populismus, sondern auch die „Rechtsvergessenheit“ der Regierungen in der Flüchtlings- und Eurokrise verantwortlich. Zum anderen sieht Müller jedenfalls in Deutschland bis auf weiteres die Autorität des Verfassungsgerichts, allem erlittenen Gegenwind in den letzten Jahren zum Trotz, nicht in Gefahr. Selbst wenn einmal eine populistische Mehrheit an die Macht gelangen sollte, sei ein polnisches Szenario kaum vorstellbar: Das BVerfG sei so stark in der Gesellschaft verankert, dass jeder, der versucht, es umzukippen, „sich verheben“ würde.

Apropos Justiz

In Polen nimmt unterdessen die Unterwerfung der Justiz durch die PiS-Regierung weiter ihren Lauf, und sie beschränkt sich längst nicht mehr auf die Verfassungsjustiz. Wie Piotr Mikuli beschreibt, hat sich der Justizminister jetzt den Nationalen Justizrat vor die Flinte genommen, der in Polen die Richterauswahl verantwortet und ihre Unabhängigkeit garantiert. Sein Plan: die jetzigen Mitglieder nach Hause schicken, den Rat neu besetzen und die Möglichkeiten des Präsidenten, Richter seines Geschmacks auszuwählen, ausweiten. Verfassungswidrig? Mag sein, aber mit einem Verfassungsgericht, das so beschaffen ist, wie es das polnische heute ist, dürfte es darauf nicht mehr so sehr ankommen.

Tomasz Koncewicz wiederum fragt in einem zweiteiligen Artikel, inwieweit von der polnischen Justiz zu erhoffen ist, in die vom neutralisierten Verfassungsgericht gerissene Bresche zu springen und selbst Regierung und Parlament am Verfassungsmaßstab zu messen. Fazit: Die Justiz in Polen habe mit dem in sie gesetzten Vertrauen seit Jahren schlecht gewirtschaftet und hätten jetzt die Chance, es zurückzugewinnen.

Eine Frau mit Kopftuch und einem Kleinkind auf dem Arm geht auf einem Bahnsteig. Im Hintergrund sind weitere Menschen zu sehen.
Eine syrische Mutter und ihre kleine Tochter erreichen im September 2015 zusammen mit unzähligen anderen Flüchtlingen den Münchner Hauptbahnhof.