„Taktvoll ist eine Gesellschaft, die auf die Rhythmen von Mensch und Natur Rücksicht nimmt“

Die Soziologin Elke Großer über eine „gesunde“ Zeitgestaltung in unserer 24/7-Gesellschaft

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Ein weißer Wecker und eine weiße Kaffeetasse stehen auf einem Tisch.

Elke Großer unterstützt Menschen bei der Gestaltung ihrer Zeit. Wie es ihr selbst gelingt, trotz Termindruck genügend Raum für Ruhe und Muße zu haben, schildert die Soziologin und Zeitforscherin im Taktvoll-Fragebogen.

Lerche oder Eule?

Ich bin schon immer eine sehr, sehr frühe Lerche und genieße diesen frühen Start in den Tag, weil ich zu dieser Zeit gut arbeiten und mich konzentrieren kann. Selbst meine Hausaufgaben habe ich schon als Kind vor dem Schulbeginn erledigt.

Was gehört für Sie unbedingt zu einem guten Start in den Tag?

Zu einem guten Start in den Tag gehört frische Luft, Bewegung, meine Tiere und die Ruhe, die mit den frühen Stunden einhergehen; insbesondere am Wochenende. Das ist auch meine Zeit für mich selbst, in der ich ungern gestört werden möchte. Zum Glück geschieht das selten, weil es mittlerweile in unserer Gesellschaft mehr Eulen als Lerchen gibt. So kann ich mir sicher sein, dass ich bis ca. 11.00 Uhr völlig ungestört arbeiten kann.

Pflegen Sie eine spirituelle Praxis?

Die Yogapraktiken, die ich für mich erlernt habe, besonders auch für die Atmung, helfen mir im Alltag abzuschalten. Aber auch die freie Natur und der Garten, in der/ in dem ich mich viel bewege, sehe ich als so etwas wie eine spirituelle Praxis an – zum Beispiel meine Rosen und Kräuter im Garten, den Frühling oder den Regen zu riechen. Spirituell ist für mich auch, dass ich nie etwas gleichzeitig mache – wenn ich schreibe, dann schreibe ich, wenn ich lese, dann lese ich, wenn ich koche, dann koche ich. Dann sind auch Telefon und Internet weit weg. Ich bin nicht gut in Gleichzeitigkeit. Auch kleine geführte Meditationen begleiten mich seit vielen Jahren.

Außerdem fotografiere ich, das ist für mich auch eine Art von spiritueller Praxis. Dabei kann ich sehr gut entspannen, Zeit und Raum vollkommen vergessen.

Wie bereiten Sie sich auf ein besonderes Ereignis vor?

Eigentlich gar nicht. Ich lasse solche Ereignisse einfach auf mich zukommen – es ist wie es ist; es kommt wie es kommt. Auf Vorträge oder Workshops bereite ich mich natürlich intensiv vor. Da „liebe“ ich den letzten Zeitdruck vor der Deadline, den brauche ich, um gut und konzentriert zu sein.

Was bringt Sie aus dem Takt?

Aus dem Takt bringt mich einerseits die beschleunigte Gesellschaft – ich bin eher ein „langsamer Typ“. Ich brauche Zeit für die Dinge, die ich tun möchte. Andererseits bringen mich auch ungeplante Unterbrechungen aus dem Takt, wenn sie mich in meiner konzentrierten Arbeit stören. Ich muss in meinem „eigenen Rhythmus“, in meiner Eigenzeit leben. Da setze ich aber konsequent Grenzen, wenn mich jemand „stören“ möchte. Das versteht nicht jeder, weil ja eigentlich alle ständig verfügbar sind. Da ich sehr früh morgens konzentriert arbeite oder auch nachts, passt das aber alles schon irgendwie.

Welche Jahreszeit mögen Sie besonders? Warum?

Ich mag alle Jahreszeiten, alle vier haben für mich ihren eigenen Zauber im Rhythmus der Natur. Der Frühling bringt die Natur zum Erblühen. Hier freue ich mich schon immer darauf, dass ich meinen Garten im biologischen Anbau bestellen kann. Im Sommer genieße ich die Sonne und auch schon mal eine durchwachte, warme Nacht unter dem Sternenhimmel, den es hier an dem Ort, wo ich wohne, zum Glück noch gibt. Den Herbst finde ich in seiner Buntheit schön. Den Winter mag ich wegen seiner Ruhe, in der ich selbst zur Reflexion kommen kann.

Schreiben Sie Tagebuch?

Ja, das mache ich. Das gibt mir Kraft, ich kann den Tag damit abschließen und reflektieren. Zum Thema Tagebuch kann ich das Buch von Olaf Georg Klein: „Tagebuch Schreiben“ empfehlen. Das macht Lust darauf, selbst ein Tagebuch zu beginnen.

Welche Rituale ihrer Kindheit praktizieren Sie heute noch, evtl. jetzt mit den eigenen Kindern?

An bestimmte Rituale erinnere ich mich nicht. Ich weiß nur, ich bin schon immer eine Leseratte gewesen und habe als Kind vor dem Einschlafen unter der Bettdecke mit der Taschenlampe heimlich gelesen. Das gemeinsame Lesen vor dem Einschlafen habe ich mit meinen Kindern (die jetzt schon erwachsen sind) fortgeführt.

Tanzen Sie?

In der Öffentlichkeit tanze ich nicht, aber oft schon mal zu Hause für mich allein.

Sie kommen nach einem anstrengenden Tag nach Hause, welche Musik hören Sie?

Medien, auch Musik, spielen nach einem anstrengenden Tag für mich keine Rolle, vielmehr genieße ich die Ruhe, die mich umgibt. Wenn man Blätterrauschen oder Regengeräusche als Musik bezeichnen kann, dann sind das diese.

Ein freier Tag liegt vor Ihnen, was machen Sie am liebsten?

Ehrlich gesagt gibt es bei mir keine richtigen „freien“ Tage, weil ich zusätzlich zu meiner Arbeit einen Bauernhof in Subsistenzwirtschaft führe. Aber genau das erfüllt mich auch. Diese Arbeit, dieses Tätigsein, entspannt mich vielmehr.

Welche Rhythmen in der Natur begeistern Sie?

Alle Naturrhythmen, ob Jahreszeiten, wie schon erwähnt; aber auch der Tag- und Nachtrhythmus.

Wie sehen kleine Atempausen in Ihrem Alltag aus?

Ich nehme mir regelmäßig meine Pausen, nicht nur kleine Atempausen. Und dann sind Telefon und Internet auch ganz weit weg und tabu. Dann gehe ich mit meinen Hunden, meist auf unserem großen Grundstück, spazieren.

Zeitung lesen: Papier oder digital?

Zeitung lese ich sowohl digital als auch in der Printversion. Wenn ich digital lese, drucke ich mir wichtige Artikel allerdings aus. Bücher lese ich immer als gedrucktes Exemplar, weil ich mir beim Lesen viele Notizen, Unterstreichungen im Buch mache – das „arme“ Buch!

Urlaub: immer das gleiche Ziel oder jedes Mal Neues entdecken?

Urlaub gab es in den letzten Jahren kaum. Aber Neues interessiert mich sehr, fremde Länder, fremde Gewohnheiten. Ich bin sehr, sehr offen und erweitere gerne den eigenen Horizont. Jetzt haben wir uns ein Wohnmobil gekauft – unser Traum fürs Alter. Da werden wir bestimmt sehr viele neue Orte erkunden, in dieser Zeit vor allem erst einmal hier in der weiteren Umgebung.

Wie wichtig sind Ihnen gemeinsame Mahlzeiten mit dem Partner/Partnerin, der Familie?

Gemeinsame Mahlzeiten sind für mich schon immer sehr wichtig gewesen. Aber wenn wir alle (auch meine erwachsenen Kinder) zusammen sind, dann sitzen wir immer lange am Tisch und reden und lachen sehr viel. Und es gibt eisernes Verbot, an welches sich auch alle halten – kein Smartphone!

Partnerschaft, Ihre Erfahrung: „Gegensätze ziehen sich an“ oder „Gleich und gleich gesellt sich gern?“

Irgendwie beides: Mein Mann ist Diplomingenieur – ich Soziologin. Da haben uns schon viele Leute gefragt, wie das zusammenpasst. Wir haben oft zeitgleich die gleichen Gedanken, sprechen das auch zeitgleich aus und müssen meist auch darüber lachen.

Lesen Sie vor dem Einschlafen? Welches Buch liegt gerade auf Ihrem Nachttisch?

Vor dem Einschlafen lese ich mittlerweile weniger. Ich lese lieber mitten in der Nacht und genieße den Lichtschein der kleinen Nachtleuchte und die ungestörte Ruhe in dieser Zeit. Es ist ein ganzer Stapel von Büchern, die rund um mein Bett liegen, und ich lese viele gleichzeitig – ob Fach- und Sachbücher oder Romane, fragen Sie nicht wie viele. Ein Buch liegt mir gerade besonders nahe, dass mir eine Autorin geschickt hat, Eva Rosenkranz: Überall ist Garten. Ansonsten sind es Bücher rund ums Thema Zeit, Tätigsein oder Nachhaltigkeit. Mein ganzes Haus ist eine einzige Bücherwelt – meine größte Schwäche.

Gibt es eine Zahl, die eine besondere Bedeutung in Ihrem Leben hat?

Die Primzahl 7.

Welche Rituale oder Rhythmen sind Ihnen unangenehm?

Die schnellen Rhythmen unserer globalisierten, ökonomisch organisierten 24/7 Gesellschaft. Immer muss möglichst schnell geantwortet werden. Aber da kann ich mittlerweile meine eigenen, zeitlichen Grenzen setzen. Ich bin ein Mensch, der die Ruhe schätzt, und ich finde, dass unsere Gesellschaft sehr überdriftet und überhastet ist. Nicht umsonst nehmen psychische Erkrankungen, wie Burn Out und Depressionen, zu.

Was fällt Ihnen zum Begriff „taktvoll“ ein?

Das Wort Takt stammt ja aus der Musik, der Takt bestimmt als Grundzeitmaß das Tempo eines Musikstücks. Das Wort „taktvoll“ hat für mich mehrere Bedeutungen: Taktvoll kann ein Mensch sein, der sich in andere einfühlt. Taktvoll ist für mich eine Gesellschaft, die auf die vielfältigen Rhythmen von Menschen und Natur Rücksicht nimmt und darauf eingeht und entsprechende wirtschaftliche wie soziale Strukturen für Lebensqualität für alle Menschen schafft. Meine Buchtipps zu dem Thema: Hartmut Rosa„Resonanz“ und Fritz Reheis „Die Resonanzstrategie“.

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