Rhythmus und Bewegung – wie das Gehirn auf Musik reagiert

Die Wirkung musikalischer Rhythmen auf die Nervenzellen

15 Minuten
Hände trommeln auf einer Djembé

Auf einer Radtour im Frühling 2013 bleibt Mike Gabel plötzlich zurück. Am Morgen war er noch fröhlich zusammen mit seiner Frau und Freunden aufgebrochen, doch jetzt verlassen ihn die Kräfte. Mikes Frau ist schon länger aufgefallen, dass etwas nicht stimmt. Er wirkte oft niedergeschlagen und Arme und Beine schienen nicht so beweglich wie sonst. Als das Paar von der Tour zurückkommt, suchen sie den Rat eines Neurologen. Der findet recht schnell die Ursache: Mike ist an Parkinson erkrankt.

Was ihm nach der niederschmetternden Diagnose am meisten hilft, ist die Musik. Schon immer hat er gerne Musik gehört und auch selbst musiziert. Wenn ihm ein Lied gefällt, findet er rasch die Begleitakkorde auf der Gitarre und singt den Song selbst nach. Beim Musikmachen komme er in Kontakt mit sich selbst, Musik sei ein Teil von ihm, schildert er im Interview mit der Neurowissenschaftlerin und Opernsängerin Indre Viskontas.

Mike spielt und singt weiter, auch mit Parkinson. Relativ schnell nach der Diagnose schließt er sich einer Tanzgruppe an, deren Teilnehmer alle an der Krankheit leiden. Eigentlich ist er gar kein Tänzer, aber in der Gruppe ist es anders. Ein Pianist begleitet die Stunden, Tänzer und Therapeuten leiten die Teilnehmer an. Bewegungen gelingen, die sonst nicht mehr möglich sind. Wer vorher nachdenklich und grau die Halle betrat, verlässt sie nach der Stunde mit geröteten Wangen, einem Lächeln und dem Gefühl von Leichtigkeit.

Musik als Medizin

Musik als Medizin zu nutzen, hat eine lange Tradition. Schon seit der Steinzeit versuchen Menschen, Krankheiten mit Musik und Rhythmus zu heilen. „Die meisten Schamanen und Heilerinnen der Naturvölker nutzten Trommeln und Gesang zum Kurieren psychischer und körperlicher Leiden“, schreibt Rüdiger Braun in seinem Buch „Unsere 7 Sinne – die Schlüssel zur Psyche“ (1). Altägyptische Papyrusrollen priesen die Heilkraft der Musik ebenso wie das Alte Testament der Bibel. „Im Mittelalter musste jeder angehende Arzt auch Musik studieren“, heißt es in dem Buch weiter.

Wir empfinden Musik und Rhythmus als wohltuend, wohl auch weil wir selbst Rhythmus sind. Wir atmen rhythmisch, laufen rhythmisch und unser Herz schlägt mal in einem schnelleren, mal in einem langsameren Takt. Innere Uhren in allen Körperzellen sorgen für tagesrhythmische Schwankungen der Organaktivitäten, von der Immunabwehr bis zur Verdauung. Auch unser Gehirn schwingt und wummert in einem wellenförmigen Rhythmus, einem Auf und Ab der elektrischen Aktivität, über die die Nervenimpulse weitergegeben werden (2).

Die Neurowissenschaftlerin und Pianistin Jessica Grahn von der University of Western Ontario erforscht den Zusammenhang zwischen Gehirn und Musik (3). Bei dem diesjährigen Abendvortrag der Jahresversammlung der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina in Halle an der Saale, den die Forscherin aus Kanada Ende September hielt, ging es um „Rhythmus, Timing und Bewegung – Wie das Gehirn auf musikalischen Rhythmus reagiert“.

Die Neurowissenschaftlerin Jessica Grahn neben dem Präsidenten der Leopoldina Jörg Hacker auf der diesjährigen Jahresversammlung der Nationalen Akademie der Wissenschaften.
Die Neurowissenschaftlerin Jessica Grahn neben dem Präsidenten der Leopoldina Jörg Hacker auf der diesjährigen Jahresversammlung der Nationalen Akademie der Wissenschaften.

Grahn beschäftigt sich mit Fragen wie: Warum lässt uns mancher Rhythmus, mancher Beat fast automatisch mit den Fingern schnipsen, mit den Füßen wippen oder Kopf und Körper hin- und herbewegen? Wie kommt es überhaupt, dass wir im Gehörten ein regelmäßiges zeitliches Muster, einen Grundschlag erfassen können und warum kann das für Menschen mit Bewegungsstörungen nützlich sein?

Diese Fähigkeit ist hochkomplex und erfordert das Zusammenspiel vieler verschiedener Hirnregionen. Sie verbindet Menschen aller Kulturen, die sich trommelnd, singend, tanzend zum Rhythmus bewegen. Gleichzeitig ist die Fähigkeit entwicklungsgeschichtlich sehr alt. Manche Tiere, Seelöwen, Singvögel und Kakadus bewegen sich rhythmisch zur Musik. Kinder können sich manchmal schon zu einem Rhythmus bewegen, bevor sie überhaupt laufen können.

„Wir hören die Melodie, aber wir spüren den Beat“, schrieben die Psychologinnen Jessica Phillips-Silver und Laurel J. Trainor vor einigen Jahren treffend im Fachmagazin „Science“ (4).

Rhythmische Bewegungen synchron zum gehörten Grundschlag gelingen nur, wenn wir den Grundschlag, den Beat, erfassen. Hören wir einen Rhythmus oder ein Musikstück zum ersten Mal und entdecken den Beat, schwingen Teile unseres Gehirns mit ein, die Schlagfrequenz wird quasi verinnerlicht. Wir können wegen der Regelmäßigkeit weitere Beats voraussagen, bevor sie überhaupt zu hören sind und den Körper dazu bewegen. Wenn der Beat erst einmal gefunden ist, wird er stabil im Inneren gespürt, selbst wenn er äußerlich über das Gehörte einmal aussetzt oder musikalische Akzente außerhalb des Grundrhythmus, so genannte Synkopen, erklingen.

Um herauszubekommen, welche Hirnareale dabei eigentlich aktiv sind, nutzt Jessica Grahn die Magnetresonanztomographie. Testpersonen werden in den Hirnscanner geschoben und ihnen verschiedene Rhythmen vorgespielt. Auf die akustischen Signale reagiert das Hörzentrum in der Hirnrinde, der so genannte auditive Cortex. Zusätzlich sind aber auch Regionen unterhalb der Hirnrinde aktiv: das Kleinhirn, der Thalamus (der Teil des Zwischenhirns, der der Großhirnrinde die Informationen der sensorischen Organe zuträgt) und die Basalganglien, die wie das Kleinhirn an der Bewegung und dem Bewegungsgedächtnis beteiligt sind.

Selbst wenn die Probanden, die Jessica Grahn und ihr Team untersuchen, sich nicht zur Musik bewegen, sind die Bewegungsregionen in den Basalganglien aktiv. Je stärker der eingespielte Beat, desto stärker reagieren die Basalganglien. Es tut sich also etwas im Bewegungszentrum des Gehirns, allein beim Hören eines Rhythmus oder von Musik. Genau dies versucht man bei Therapie von Menschen mit Parkinson zu nutzen.

Parkinson

Parkinson ist eine Krankheit, die mehr oder weniger schnell voranschreitet. Zu Beginn sterben Nervenzellen in einer Hirnregion, der „Substantia nigra“ im Mittelhirn der Betroffenen ab. Diese Zellen produzieren den Neurotransmitter Dopamin. Mit ihrem Niedergang ist immer weniger Dopamin im Gehirn verfügbar. Das betrifft besonders die Regionen, die für das Erlernen und Ausführen von Bewegungen verantwortlich sind, die Basalganglien. Die Bereiche also, die wichtig sind für das Erkennen von Rhythmus und das Ausführen rhythmischer Bewegungen.

Parkinson-Patienten haben genau damit Probleme. Es fällt ihnen schwer, gleichmäßig zu laufen, mit beiden Beinen gleich große Schritte zu machen, flüssig und schnell zu gehen. Sich vom Sofa zu erheben, um eine Tasse Kaffee aus der Küche zu holen, kann für Menschen mit Parkinson eine echte Herausforderung sein. Sich zu erheben und in Bewegung zu setzen, fällt schwer, typisch ist ein „Einfrieren“ von Bewegungen.

Musik oder rhythmische Impulse können bei einigen Parkinson-Patienten nun kleine Wunder vollbringen. Flüssigere und schnellere Bewegungen sind möglich. Ungefähr 20% reagieren so positiv wie der betroffene Mann, dessen Amateurvideo Grahn auf dem Vortrag einspielt. Menschen mit einem ohnehin guten Rhythmusgefühl profitierten besser, so die Forscherin. Menschen, denen es schwer falle, Rhythmen zu erkennen, helfe die Musik aber ebenfalls. Dann nämlich, wenn sie aufgefordert würden, sich schlichtweg an der Musik zu freuen.

Noch völlig unklar ist, wie genau der Rhythmus die Patienten in Bewegung setzt. Sicher spielen die Basalganglien bei dem therapeutischen Effekt des Beat eine Rolle. Womöglich sorgen die Freude an der Musik und das „Sich-in-Einklang-Bringen“ und damit verbundene Glücksgefühle für einen Dopamin-Kick oder einen Anstieg anderer Neurotransmitter im Gehirn, was die Bewegungen erleichtert.

„Die Kombination von Musik und Bewegung macht glücklich“, schreibt Rüdiger Braun in seinem Buch. Mike Gabel zum Beispiel vergisst in seiner Tanzgruppe, wie er erzählt, dass er Parkinson hat. Er begegnet den Menschen in der Gruppe nicht als Mitpatienten sondern als Menschen. Mike geht jede Woche sehr gerne hin. Musik und die Synchronisierung von Bewegung stärkt die soziale Bindung. Das kann auch Jessica Grahn aus ihren Messungen am Gehirn ablesen:

Die beteiligten Hirnregionen sind noch aktiver, wenn nicht nur allein sondern mit mehreren ein Rhythmus gespürt und gemeinsam dazu im Takt geklopft und geklatscht wird. Das regt offenbar das Belohnungssystem im Gehirn an, dessen Hauptakteur das Dopamin ist, der Neurotransmitter also, an dem es bei Parkinson mangelt. Sogar das Verhalten ändert sich nach solchen Gemeinschaftserlebnissen, im Test zeigen Studienteilnehmer eine größere Hilfsbereitschaft.

In der frühen Menschheitsgeschichte sei Musik vor allem rhythmusbasiert gewesen, zitiert Rüdiger Braun in seinem Buch den Neurowissenschaftler Petr Janata, der sich an der University of California mit der Psychologie der Musik beschäftigt. „Diese Musik diente dazu, Menschen zu synchronisieren, in der Partnerwerbung ebenso wie bei der Jagd, beim gemeinsamen Mahlen von Mehl oder anderen Gruppenaktivitäten“, heißt es in dem Buch weiter. Soziale Bindungen würden aufgebaut und verfestigt. „Menschen seien eher dazu bereit, miteinander zu kooperieren, wenn sie vorher im Gleichklang waren“, zitiert Braun Janata weiter.

Musik setzt in Bewegung

Mike Gabel versucht, auch im Alltag die Kraft des Rhythmus zu nutzen. Er gebraucht dafür, wie er sagt, seinen „inneren iPod“. Wenn ihm Lieder in den Sinn kämen, versuche er den Beat wie in der Tanzstunde für die eigene Bewegung zu nutzen. Mike ist jemand, den die Musik immer schon inspirierte. „Musik bewegt mich. Wenn ich Musik höre, ist der emotionale Teil meines Gehirns immer aktiviert. Ich kann mich anders und viel einfacher bewegen als ohne die Musik.“

Mike wird durch die Musik bewegt, innerlich und äußerlich. Sein Beispiel zeigt auch, wie stark das scheinbar greifbare, messbare Körperliche mit der oft so schwer greifbaren seelischen Komponente unseres Daseins verwoben ist. In seinem spannend geschriebenen und umfangreich recherchierten Buch (das nominiert ist für das „Wissensbuch 2019“), beschreibt Braun den Menschen als genau diese untrennbare Einheit von Körper und Seele. Körperliche und seelische Vorgänge bedingten sich gegenseitig: „Jede tief empfundene Angst oder Freude findet einen körperlichen Ausdruck. Und im Gegenzug lassen sich durch eine bestimmte Mimik und Körperhaltung entsprechende Gefühle erzeugen“, schreibt Braun.

In der Psychotherapie würden die Sinne als Zugänge zur Seele zunehmend entdeckt, die Wirkungen von Kunst- und Musiktherapie gelten weitgehend als gesichert. Die moderne Forschung habe für das unauflösliche Miteinander zwischen Körper und Geist einen neuen Begriff gefunden: Embodiment. „Laut der These einiger Kognitionswissenschaftler (..) braucht das Bewusstsein einen Körper, eine Verleiblichung“, schreibt Braun. Körperliche Zustände beeinflussten psychische Zustände und umgekehrt. „Eine Entstehung von Bewusstsein, ohne dass Sinne oder Sensoren einen Kontakt zur umgebenden Welt herstellen, sei demnach unmöglich“, so Braun.

Rhythmus und Musik sind solch eine verbindende Brücke, eine heilsame Brücke nicht nur für Parkinson-Patienten sondern für jeden von uns.

Literatur und Quellen:

  1. Rüdiger Braun: „Unsere 7 Sinne – Die Schlüssel zur Psyche“. Kösel-Verlag, München 2019
  2. Ulrike Gebhardt: „Gesundheit zwischen Fasten und Fülle“. Springer-Verlag, Berlin 2019
  3. http://www.jessicagrahn.com
  4. https://science.sciencemag.org/content/308/5727/1430
  5. „Finding the beat: a neural perspective across humans and non-humans primates.“
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