„Dinge von Dauer als Bollwerk der Ruhe gegen die Rastlosigkeit unserer Epoche“

Buchtipp und Fragebogen: „Alle Zeit der Welt“ von Thomas Girst

6 Minuten
Das Meer, ein Mann am Strand, der einen Kopfstand macht.

„Lassen Sie sich alle Zeit der Welt“ – diesen Satz hört heutzutage höchstens noch, wer beim Anwalt zögert, ein wichtiges Dokument zu unterschreiben oder sich beim Arzt nur langsam von der Untersuchungsliege erheben kann, um sich anzukleiden. Jeder weiß, dass hinter dieser beruhigenden Floskel natürlich nicht endlose Langmut steht, sondern der nächste Klient oder die nächste Patientin mit Termin.

In seinem Buch „Alle Zeit der Welt“ (Hanser-Verlag, München 2019) stellt Thomas Girst Menschen vor, die Großartiges geschaffen haben. Solche „Dinge von Dauer“ gelingen, wenn Menschen sich Zeit nehmen. Was wirklich gut, was gewachsen, gereift ist – in der Kunst, in der Wissenschaft – überdauert, so der Grundgedanke in Girsts Buch.

„Alle Zeit der Welt“ ist eine überaus geeignete Lektüre für den Urlaub. Thomas Girst, Kunst- und Literaturwissenschaftler, ehemaliger taz-Korrespondent und seit 17 Jahren Kulturmanager bei der BMW Group – schreibt richtig gut. Jede der 28 Geschichten, die Girst präzise auf je sechs Buchseiten angelegt hat, ist voller Überraschungen, Informationen, Anregungen zum Weiterlesen, Anregungen, um das eigene Tun und Handeln zu überdenken.

Es wäre einfach zu schade, schnell durch diese Geschichten „zu rasen“, einige der enthaltenen Kostbarkeiten könnten überlesen werden. Gleich zu Beginn widmet sich Girst einem Vertreter einer vom Aussterben bedrohten Berufsgattung, dem Briefträger Ferdinand Cheval. Im ehemaligen Gemüsegarten hatte der Franzose 33 Jahre lang, von 1879 bis 1912, seinen „Palais idéal“ gebaut. Ein am Ende 30 mal 15 Meter großes, bis 13 Meter hohes Bauwerk, das Cheval aus Steinen und Muscheln errichtete. Diese hatte er bei seinem täglichen 30 Kilometer langen Postgang in einer selbst gebauten Holzkarre gesammelt.

Knapp 100 Jahre nachdem Cheval seinen Palast fertiggestellt hatte, startete in Halberstadt ein Kunstprojekt, über das Girst in seinem Plädoyer für die Langsamkeit natürlich berichten muss. Seit 2001 wird dort ein Orgelstück von John Cage aufgeführt. Seit Oktober 2013 ist ein Ton aus fünf Orgelpfeifen zu hören (wer einmal hinein hören möchte, hier).

Am 5. September 2020 steht der nächste Klangwechsel an. Die Aufführung endet in 638 Jahren. Cages Hinweis, das Stück „as slow as possible“, „so langsam wie möglich“ zu spielen, wird hier also sehr ernst genommen. In einer Zeit der schnellen Klicks, Pings, Playlists, Vibrationen und Klingeltöne, ist das Projekt eine regelrechte Zumutung. Girst selbst spürt bei seinem Gang durch Halberstadt „kleine Zeitfenster absoluter Ruhe“, die zwar auch in der Kreisstadt im Harzvorland rasch wieder vorbei sind, aber dennoch ein geeignetes Umfeld für diese spezielle Art musikalischer Kunst zu sein scheinen.

„Ich erzähle über Dinge von Dauer, die jedem ein Bollwerk der Ruhe inmitten unserer Epoche der Rastlosigkeit sein können“, schreibt Girst in seinem Vorwort. Und so begegnen wir dem Fotografen Michael Ruetz, der Jahre oder sogar Jahrzehnte an Bilderzyklen von Stadt- und Naturlandschaften arbeitet und den Satz sagt: „Zeit ist ein anderer Name für Gott. Sie sind beide allmächtig.“

Wir begegnen dem 1966 geborenen hochbegabten und überhaupt nicht an Geld und Ruhm interessierten Mathematiker Grigori Jakowlewitsch Perelman, dessen Doktorvater Juri Borago im Buch zu Wort kommt: „Schnelligkeit bedeutet nichts. In der Mathematik kommt nichts auf Schnelligkeit an. Sondern alles allein auf die Tiefe.“

Wir begegnen dem Schriftsteller Marcel Proust, den Künstlerinnen Louise Bourgeois und Anita Albus, dem Musiker und Komponisten Tarek Atoui, dem Botaniker William James Beal, dem Künstler Boromir Ecker und vielen, vielen mehr ..

.. und Johann Wolfgang von Goethe. „Schon Goethe war die Gedankenverwirrung zuwider, die allein vom Zeitungswesen ausging, der kaum zu bewältigende Fluss an Informationen, der sich tagtäglich aus den gedruckten Seiten der morgens an seiner Türschwelle abgelegten Gazetten, Journale und Postillen ergoss“, schreibt Girst. Wie würde es dem Dichter wohl heute ergehen, wo die Informationsflut mit den auf Dauerbetrieb geschalteten digitalen Gerätschaften längst in der Wohnung ist und noch nicht einmal mehr eine Türschwelle den Einstrom verhindert.

Das Buchcover von „Alle Zeit der Welt“ Hanser-Verlag: ein Mann liegt unter einer Palme, blau-weiße Zeichnung.
In seinem Buch „Alle Zeit der Welt“ plädiert Thomas Girst für die Kraft der Langsamkeit, die Dinge von Dauer entstehen lässt.

Es empfiehlt sich, nach dem Lesen einer von Girsts Geschichten erst einmal durchzuatmen, höchstens noch im Anhang in den Lektürevorschlägen und Quellenangaben zum jeweiligen Thema zu stöbern und das Buch dann zur Seite zu legen. Wir alle sollten das „still werden“ nicht vergessen und möglichst oft in unseren Alltag und freie Urlaubstage einbauen. Denn nicht nur bei den Großen der Geschichte, sondern vielmehr bei jeder, jedem von uns, kann etwas entstehen, sich entfalten, geschaffen werden, wenn wir der Stille in uns trauen.

TAKTVOLL-Fragebogen mit Thomas Girst

1. Lerche oder Eule?

Eule. Immer Eule. Eule.

2. Was gehört für Sie unbedingt zu einem guten Start in den Tag?

Blütenzarte Haferflocken, kalte Milch und sehr viel Schokopulver. Kein Kaffee, niemals. Die Müdigkeit Anderer gibt mir Energie. Ich bin morgens im Bett augenblicklich hellwach.

3. Pflegen Sie eine spirituelle Praxis?

Nein. Ich kann sehr, sehr lange Kopfstand und mag das gern. Am liebsten am Strand mit Blick auf das Meer. Letzthin interessiert mich Transzendentale Meditation.

4. Wie bereiten Sie sich auf ein besonderes Ereignis (ein Vortrag, ein wichtiges Treffen) vor?

Ich schlage mir leicht und schnell mit den flachen Handflächen vor dem Spiegel auf die Backen, balle die Faust und sage „Yes!“. Ich berühre einen kleinen Kieselstein in meiner Tasche, der mir mit das wichtigste Gut auf der Welt ist. Dessen Geschichte ist anderswo notiert.

5. Was bringt Sie aus dem Takt?

Taktlose Menschen. Rüpel. Distanzlose Menschen. Nationalismus, Chauvinismus, Xenophobie. All jene, die die Schönheit einer Demokratie und der Idee der Europäischen Gemeinschaft nicht sehen.

6. Welche Jahreszeit mögen Sie besonders? Warum?

Spätfrühling und Frühherbst. Beide bergen die größten Versprechen. Ich mag die Jahreszeiten. Indes sollte der Winter zwei Monate kürzer sein. Robert Frosts „Nothing Gold can stay“*** sage ich mir oft beim Spazierengehen vor.

7. Schreiben Sie Tagebuch?

Kein Tagebuch. Aber fast jeden Tag Notizen seitdem ich 15 bin.

8. Welche Rituale ihrer Kindheit praktizieren Sie heute noch, evtl. jetzt mit den eigenen Kindern?

Siehe 2, den ersten Satz.

9. Tanzen Sie?

Ab und an bei lauter Musik in den frühen Morgenstunden der Metropolen. Sonst mit der Tochter auf dem Arm. Früher wild und willenlos.

10. Sie kommen nach einem anstrengenden Tag nach Hause, welche Musik hören Sie?

Bach. Drum and Base. Französische Chansons.

11. Ein freier Tag liegt vor Ihnen, was machen Sie am liebsten?

Nicht auf die Uhr schauen. Mich in Selbstgesprächen überraschen. Herumgammeln ohne schlechtes Gewissen geniessen. Popvideos aus den 80ern auf YouTube und Filme von Tarkovsky und Hitchcock schauen.

12. Welche Rhythmen in der Natur begeistern Sie?

Wie sich die Erde im Weltall dreht und sich auf riesenhaften Bahnen bewegt und um sie herum Trillionen und Aberbilliarden von Gestirnen als Bälle im dunkelsten Nichts in unvorstellbaren Entfernungen voneinander eine geheime Choreographie vollführen. All das und näher dort, wo wir sind: Wolken.

13. Wie sehen kleine Atempausen in Ihrem Alltag aus?

Unter der Dusche. Auf dem Fahrrad. Auf dem Rudergerät. Bei der Lektüre. Beim Spazierengehen mit Freunden im Nymphenburger Schlosspark. Wenn die mentale To Do Liste durch ist, dann bilden sich Gedanken, die ich später in Worte erlöse.

14. Zeitung lesen: Papier oder digital?

Beides. Es gibt hier wie so oft im Leben ein „sowohl als auch“ und kein „entweder oder“.

15. Urlaub: immer das gleiche Ziel oder jedes Mal Neues entdecken?

Auf Dienstreisen besuche ich seit zwei Jahrzehnten weltweit jährlich dieselben zwanzig Städte. Urlaub also: jedes Mal neu! Langsam schleicht sich das Gewohnheitstier ein. Sehnsuchtsort ist der Luberon, wenn auch derzeit noch eine Kategorie des Geistes.

16. Wie wichtig sind Ihnen gemeinsame Mahlzeiten mit dem Partner/Partnerin, der Familie?

Wenn Streit- und Mobiltelefonverbot gilt: wunderbar! Auch ein Gebet davor und anschliessend ein gegenseitiges an der Hand nehmen bei gleichzeitiger gemeinsamer Intonation von „Fröhlich sei das Mittagessen, guten Appetit“.

17. Partnerschaft, Ihre Erfahrung: „Gegensätze ziehen sich an“ oder „Gleich und gleich gesellt sich gern?“

Polyamorie

18. Lesen Sie vor dem Einschlafen? Welches Buch liegt gerade auf Ihrem Nachttisch?

Ich kann nur lesend einschlafen. Ich liebe allabendlich diesen Augenblick. Mary McLane, „Ich erwarte die Ankunft des Teufels“ und der erste Teil von Virginie Despentes‘ „Vernon Subutex“. Beide keine Nachtlektüre!

19. Gibt es eine Zahl, die eine besondere Bedeutung in Ihrem Leben hat?

829. Meine Schicksalszahl. Schon in der zweiten Klasse schrieb ich sie aus welchem Grund auch immer auf jede Seite meiner Schulbücher. Sie ist mein ständiger Begleiter. Mein zweiter Sohn ist am 28. September geboren.

20. Welche Rituale oder Rhythmen sind Ihnen unangenehm?

Schuhe binden, Spülmaschine ausräumen, Koffer packen, Telefonkonferenzen, den Kindern hinterherräumen.

21. Was fällt Ihnen zum Begriff „taktvoll“ ein?

Ein wunderbares Adjektiv: Nimmt man es für sich in Anspruch, wäre es taktlos. Wird es einem zugesprochen, definiert es einen edlen Charakter.

***Nothing Gold Can Stay

Nature’s first green is gold,

Her hardest hue to hold.

Her early leaf’s a flower;

But only so an hour.

Then leaf subsides to leaf.

So Eden sank to grief,

So dawn goes down to day.

Nothing gold can stay.

(Robert Frost)

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