Revolte in Chile: Fünf Dinge, die ich bei den Protesten gelernt habe

Im Oktober 2019 wurde aus dem Protest gegen höhere U-Bahn-Fahrpreise in der Hauptstadt Santiago eine landesweite Revolte. Sophia Boddenberg hat die Bewegung über ein Jahr lang begleitet und ein Buch darüber geschrieben.

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eine Gruppe von Menschen, die ein Plakat halten [AI]

1) Wirtschaftswachstum heißt nicht Wohlstand für alle

Wenn man das erste Mal im Zentrum der Hauptstadt Santiago ist und die gläsernen Hochhäuser, das gut ausgebaute U-Bahn-Netz und die riesigen Einkaufszentren sieht, könnte man meinen, man befinde sich in einer mitteleuropäischen Großstadt. Chile gilt als Vorzeigeland Lateinamerikas: Konstantes Wirtschaftswachstum, niedrige Kriminalitätsraten und moderne Infrastruktur haben zu dem guten Ruf des schmalen Landes an der Pazifikküste beigetragen.

2010 wurde es als erstes südamerikanisches Land Mitglied der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), dem Club der 37 „entwickeltesten“ Länder. Gemessen am Pro-Kopf-Einkommen sind die Chilenïnnen die Reichsten des Kontinents. Aber was die schillernden Wirtschaftszahlen nicht zeigen, sind die Schattenseiten des chilenischen Wirtschaftsmodells.

Der Weltbank zufolge gehört Chile zu den zehn Ländern der Welt mit der größten sozialen Ungleichheit. In den Armenvierteln Santiagos, den sogenannten „poblaciones“, liegt die Lebenserwartung von Frauen um 18 Jahre niedriger als bei denjenigen, die in wohlhabenden Vierteln leben, wie eine Studie der Drexel University zeigt. Und das liegt nicht nur am Einkommensunterschied, sondern auch beispielsweise am ungleichen Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung.

Im Jahr 2018 starben knapp 26.000 Menschen, während sie auf der Warteliste der öffentlichen Krankenhäuser auf eine Behandlung warteten. Die Proteste, die am 18. Oktober 2019 in einen landesweiten Aufstand umschlugen, richteten sich deshalb nicht nur gegen die Erhöhung der Fahrpreise der U-Bahn, sondern gegen die extreme soziale Ungleichheit im Land.

eine Gruppe von Menschen, die ein Schild halten [AI]
„Es war keine Depression, sondern Kapitalismus“, steht auf dem Schild dieser Demonstrantin in Santiago de Chile.
eine Gruppe von Soldaten, die in einer Reihe stehen [AI]
Zum ersten Mal seit dem Ende der Militärdiktatur schickt die Regierung Soldaten auf die Straßen.
eine Gruppe Männer steht vor einem Zaun [AI]
Demonstrant*innen mit Augenverletzungen treffen sich vor dem Regierungspalast La Moneda in Santiago, um eine Entschädigung von der Regierung zu fordern.
ein Mann sitzt auf dem Boden und eine Gruppe von Leuten um ihn herum [AI]
Um die verletzten Demonstrant*innen zu verarzten, wurden zahlreiche Erste-Hilfe-Gruppen bei den Protesten gegründet.
eine große Menschenmenge in einer Stadt [AI]
Am 25. Oktober 2019 protestieren über eine Millionen Menschen in Santiago – es ist einer der größten Demonstrationen seit dem Ende der Pinochet-Diktatur.
Ein Buchcover mit der Überschrift „Revolte in Chile“ ist auf grauem Grund zu sehen. Unter der Schrift sind drei illustrierte Frauen, die Lärm mit Kochtöpfen und Trillerpfeifen machen.
„Revolte in Chile“ von Sophia Boddenberg