Spiel ohne Regeln

von Maximilian Steinbeis
6 Minuten

Dafür zahlen wir nicht. Das ist offenbar die Botschaft, mit der Angela Merkel und ihre Regierung in die Auseinandersetzung mit den mittel- und osteuropäischen Nachbarstaaten einsteigen wollen. Ihr liefert nicht, was ihr zu liefern verpflichtet seid, signalisiert die Kanzlerin den Ungarn und den Polen, die sich der Umverteilung von Geflüchteten in der EU verweigern. Wenn ihr nicht liefert, dann zahlen wir nicht. Wenn ihr euch weigert, einen angemessenen Teil der nach Europa Geflüchteten zu ernähren und integrieren, dann halten wir, die das tun, uns schadlos, indem wir die EU-Strukturhilfen zu euren Lasten und unseren Gunsten umverteilen.

Fair enough. Do ut des; nisi des non do: So reden Vertragspartner miteinander, privatautonome Akteure, die einander in hörnerner Gleichgültigkeit gegenüberstehen, die nichts verbindet als ihr miteinander geschlossener Kontrakt. Wir haben einen Deal, liebe Polen und Ungarn, und was wir von euch erwarten, ist exakt das, was ihr beim Abschluss dieses Deals höchstselbst versprochen habt. Sonst nichts. Was ihr mit eurer Justiz treibt, was ihr mit euren Medien macht, was ihr an eurem Wahlrecht herumschraubt, das interessiert uns alles nicht im Mindesten, das lassen wir eure privatautonome Sache sein. Wir wollen nur, dass ihr das Versprochene liefert.

Auf diese Weise privatrechtlich Hardball zu spielen mit den widerborstigen Polen und Ungarn, scheint einen großen Vorzug zu haben: Man braucht nicht lange mit wolkigen Verfassungsprinzipien herumzufuchteln. Sie ist so schön klar und hart, diese Lieferst-du-nicht-bekommst-du-auch-nichts-Logik. Rechtsstaatlichkeit und Demokratie und diese ganzen „Verfassungswerte“, das ist natürlich fundamental und grundlegend und alles, und es schadet überhaupt nichts, das „Werte“-Wort in der Regierungserklärung an passender Stelle mal fallen zu lassen. Aber das ist nur Gelaber. Da versteht doch eh jeder etwas anderes darunter; da streitet man sich nur zu Tode. So aber: Nix gibt’s, machen wir nicht. Ganz einfach. Zack, Zahlungsstopp.

Das Dumme ist aber: Ungarn jedenfalls hat überhaupt nichts versprochen. Ungarn hat einer solidarischen Verteilung der Geflüchteten, wie sie die Kanzlerin so hardball-mäßig durchsetzen will, nie zugestimmt. Ungarn hat gemeinsam mit Tschechien, Rumänien und der Slowakei (anders als Polen, wo damals noch die Bürgerplattform regierte und nicht Kaczyńskis PiS) laut und vernehmlich Nein gesagt in jener Ratssitzung am 22. September 2015, in der der Umsiedlungsmechanismus beschlossen und in Kraft gesetzt wurde. Was so oder so natürlich nichts daran ändert, dass es an den Beschluss rechtlich gebunden ist (bzw. war; er ist mittlerweile ja ausgelaufen). Aber sie haben eben nicht zugestimmt. Irgendetwas, was man als eine Art privatautonomer Willenserklärung interpretieren könnte, mit dem Ungarn zu liefern versprochen hätte? Hat es nie gegeben.

Man kann auch Verfassungsrecht dazu sagen

Die Pflicht, in die Angela Merkel Ungarn zu nehmen trachtet, ist nicht durch Zustimmung entstanden, sondern durch Regeln kollektiv verbindlichen Entscheidens. Die sind dazu da, um jemanden an eine Pflicht zu binden, der er nie zugestimmt hat. Indem er nach besagten Regeln überstimmt wird. Und deshalb das, was er niemals wollte, weder ex- noch implizit, trotzdem gegen sich gelten lassen muss. Man kann auch Verfassungsrecht dazu sagen.

Ungarn unterlag einer solchen Pflicht und denkt trotzdem nicht daran, sie gegen sich gelten zu lassen, und zwar ganz offen und erklärtermaßen. Das ist der Skandal, der Ungarn erst so richtig in Gegensatz zu den „gemeinsamen europäischen Werten“ bringt. Ungarn und Polen (das obendrein zugestimmt hatte) sind nicht einfach nur säumige Schuldner oder unsolidarische Mitgesellschafter. Das Problem, das wir mit ihnen haben, ist nicht in erster Linie ein privatrechtliches, sondern ein öffentlich-rechtliches. War es die ganze Zeit schon. Wir kommen nicht mit der Art und Weise zurecht, wie Ungarn und Polen ihre Mitgliedschaft im gemeinsamen europäischen Verfassungsverbund praktizieren.

Das ist aber nicht notwendig mitgemeint, wenn die Kanzlerin mahnt, „Solidarität“ sei „keine Einbahnstraße“. Ob Ein-, Zwei- oder Vielbahnstraße: Es geht nicht allein darum, wer oder was in welche Richtung von und nach Ungarn unterwegs ist, sondern ob sich dabei überhaupt an Verkehrsregeln gehalten wird. So hardball-mäßig die Kanzlerin auch rübergekommen sein mag am Tag vor dem EU-Gipfel: Davon hat sie überhaupt nicht gesprochen.

Was wäre wenn?

Was Ungarn und Polen spielen, ist nicht einfach nur Hardball. Das ist ein Spiel ohne Regeln. Und sie spielen das nicht nur mit ihren eigenen Bürger_innen und Institutionen. Sie spielen das mit uns. Und je mehr Erfolg sie dabei haben, je mehr Erfolg wir sie dabei haben lassen, desto mehr gewinnt das Szenario an Wahrscheinlichkeit, dass auch Deutschland eines Tages in die Hände von Playern fällt, die ihren Willen nur insoweit an Regeln zu binden bereit sind, als diese ihrem Willen eh entsprechen. In Karlsruhe ist die Debatte, was dieses Szenario für das Bundesverfassungsgericht bedeuten könnte, bereits angekommen. Mein Bericht von der bedrückenden Jahrespressekonferenz des Verfassungsgerichts ist hier.

Mit KLAUS FERDINAND GÄRDITZ habe ich dieses Szenario in einem ausführlichen und, wie ich finde, außerordentlich ertragreichen Interview durchgespielt: Wie weit würde eine hinreichend entschlossene Bundestagsmehrheit in Deutschland damit kommen, das Bundesverfassungsgericht zu neutralisieren, die Justiz zu unterjochen, das Wahlrecht zu ihren Gunsten zu manipulieren, ohne einen Buchstaben am Grundgesetz ändern zu müssen? Ergebnis: erschreckend viel.

Ein Riesengrund zum Feiern war diese Woche, dass der Kollege Deniz Yücel nach über einem Jahr endlich aus der Geiselhaft in der Türkei freigekommen ist. Und doch, und apropos unterjochte Justiz: Auf die Zustände im Reich des Präsidenten Erdogan wirft dieser Vorgang ein umso krasseres Licht. DILEK KURBAN schreibt auf, warum das so ist und weshalb der Eindruck, auf das türkische Verfassungsgericht sei doch noch irgendwie Verlass, falscher nicht sein könnte.

Eine regelrechte Agenten- und Kalter-Krieg-Räuberpistole hat sich in den letzten Monaten zwischen Deutschland und Vietnam abgespielt, seit ein vietnamesischer Geschäftsmann mitten in Deutschland gekidnappt und in Vietnam wieder aufgetaucht und dort zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt worden ist. Was aus völkerrechtlicher Sicht zu diesem Vorgang zu sagen ist, analysieren FIN-JASPER LANGMACK und BENJAMIN NUSSBERGER.

Anderswo

ANTJE VON UNGERN-STERNBERG und JULIA WAGNER nehmen das Urteil des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz unter die Lupe, wonach die der AfD zuteilte Zahl von Sitzen in den Landtagsausschüssen schon seine Richtigkeit hat.

MATHIEU CARPENTIER wirft sich mit Lust in die fast 60 Jahre alte und jüngst wieder aufgeflammte Debatte in Frankreich, ob der Präsident durch ein Referendum nach Art. 11 der französischen Verfassung auch eine Verfassungsänderung durchsetzen kann (französisch).

ROSELINE LETTERON analysiert eine neue Entscheidung des französischen Verfassungsrats, wonach es gegen das Gleichheitsgebot verstößt, Entschädigungen für Opfer von Terror und Gewalt während des Algerienkriegs 1954 bis 1962 nur französischen Staatsbürger_innen vorzubehalten (französisch).

PHILIP ALLOTT zeigt, warum Großbritannien, und wenn es noch so energisch auf den Artikel-50-Knopf drückt, das europäische Rechtssystem nicht einfach hinter sich lassen kann (englisch).

ANNICK PIJNENBURG verteidigt den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen den Vorwurf, im Urteil J.R. v. Griechenland die Augen vor den Zuständen in griechischen Flüchtlings-Hotspots und vor den Mängeln des EU-Türkei-Deals verschlossen zu haben (englisch).

MANUEL MÜLLER prophezeit Emmanuel Macron ruhig, dass er seinen Abwehrkampf gegen den Spitzenkandidatenprozess bei den Europawahlen 2019 verlieren werde.

LORENZO GRADONI inszeniert die jüngsten Taricco-Auseinandersetzungen zwischen EuGH und italienischem Verfassungsgericht als Parodie auf die berühmte Kästchenszene im II. Akt von Shakespeares Kaufmann von Venedig (italienisch).

Die nächste Woche bringt unter anderem die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, ob die Bundesbildungsministerin der AfD die sprichwörtliche „Rote Karte“ zeigen darf, ohne damit die Regierung ungebührlich in den Wettbewerb der politischen Parteien zu verwickeln. Außerdem wird sich klären, ob der EuGH Luxemburg sich zutraut, ein EU-Fischereiabkommen mit Marokko für ungültig zu erklären, weil es sich auf die von Marokko völkerrechtswidrig besetzte Westsahara erstreckt. Schließlich werden wir von LAURENT PECH und KIM LANE SCHEPPELE die zehn wichtigsten Fragen und Antworten zu den Möglichkeiten der EU im Kampf gegen den Autoritarismus vorstellen. Wir haben also wieder mal gut zu tun!

Ihnen einstweilen alles Gute und eine erfolgreiche Woche.

Ihr Max Steinbeis

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