Das Lexikon der mächtigsten Naturwissenschaftlerin

Was es gerade bedeutet, dass Angela Merkel Quantenchemikerin ist. Andreas Rinke über sein Lexikon der Kanzlerin.

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Angela Merkel steht mit Mitarbeitern in einem Labor.

Sie haben Angela Merkel als Politikkorrespondent schon zu vielen Wissenschaftsterminen begleitet. Nimmt Wissenschaft einen normalen oder einen überdurchschnittlichen Anteil im Terminplan der Kanzlerin ein?

Wissenschafts- und Technologietermine nehmen – im Vergleich – einen wesentlichen Teil in Merkels Agenda ein. Sie besucht regelmäßig Wissenschafts-, Forschungs- und Bildungseinrichtungen. Vor allem thematisiert Merkel aber das Thema Forschung sehr oft in Reden. Für sie scheint das eng mit der Zukunftssicherung Deutschlands verbunden zu sein. Deshalb hat sie auch Druck gemacht, dass die CDU das EU-Ziel, dass jedes Land drei Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Forschungs und Entwicklung ausgibt, nun auf 3,5 Prozent erhöht. Natürlich müsste das auch durchgesetzt werden. Merkel mahnte aber mehrmals, dass Südkorea und Israel bereit erheblich darüber lägen und Deutschland in Wahrheit in einem internationalen Wettbewerb steht und sich nicht zurücklehnen kann, weil man nun in der EU zur Spitzengruppe gehört.

Wie wichtig ist es für den Politikstil von Angela Merkel, dass sie Naturwissenschaftlerin ist? Und ist sie eine besonders wissenschaftsfreundliche Kanzlerin?

Sie ist sicher der wissenschaftsfreundlichste Regierungschef, den es in der Bundesrepublik je gab. In ihrer Regierungszeit haben sich die Bundesausgaben für Forschung verdoppelt – maßgeblich auf ihr Betreiben. Sie selbst führt ihr analytisches Denken auf ihre Physik-Ausbildung zurück und pflegt enge Kontakte zu Wissenschaftlern. Termine bei Wissenschaftsorganisationen gehören nicht nur zu den ständigen, sondern von ihr auch als wichtig angesehenen Auftritten im jährlichen Politikkalender. Jährlich referiert sie am „girl’s day“, wie hoch der Anteil junger Frauen ist, die sich für ein naturwissenschaftliches Studium entscheiden.

Sie waren auch dabei als die Bundeskanzlerin Donald Trump getroffen hat. Trump will die Ausgaben für Gesundheits- und Umweltforschung brutal zusammenstreichen, Merkel sie ausbauen. Ist die Kanzlerin jetzt die wichtigste Unterstützerin der Wissenschaft?

Mein Eindruck ist, dass Merkel jede Überhöhung ihrer Rolle eher unangenehm ist. Das gilt für die „Führungsfigur der liberalen westlichen Welt“ ebenso wie „wichtigste Unterstützung der Wissenschaft“: Erfolg in diesem Bereich dürfte sie eher so definieren, dass er erreicht ist, wenn andere sich ebenfalls stark für mehr Wissenschaftsausgaben einsetzen. Dass etwa Klimaschutz und Klimaforschung ihr wichtig sind, hat sie aber auch seit Trumps Amtsantritt mehrfach betont. Aber das unterscheidet sie eigentlich nicht von vielen anderen westlichen Regierungschefs. Die Ausnahme ist eher die Trump-Regierung.

Zu Ihrem Buch. Es gibt schon viele Merkel-Biographien. Was hat den Ausschlag gegeben, ausgerechnet ein Lexikon über die Kanzlerin zu schreiben?

Es gab vor allem drei Motive. Eines hat mit der „post-faktischen“ Debatte zu tun. Ein Lexikon ist eigentlich die demütigste Darstellungsform, weil der Autor hinter den beschriebenen Themen zurücktritt – und dies bitter nötig ist in dieser meinungsfreudigen Zeit. Außerdem ist es einfach ein neuer Versuch, die Komplexität einer Person besser zu erfassen und zu beschreiben. Biographien neigen dazu, ein Leben unter eine These zu stellen, ein einheitliches, sich linear entwickelndes Bild einer Person zu zeichnen. Ein Lexikon mit mehr als 340 Stichworten „filettiert“ dagegen eine Person thematisch, die man dann bei der Lektüre weder Stück für Stück zusammensetzen kann. Dieser Ansatz zeigt die widersprüchliche Gleichzeitigkeit im Denken und Verhalten besser, die fast jeden Menschen auszeichnet. Drittens bietet ein Lexikon den leserfreundlichsten Zugang – ein Leser springt genau an die Stelle zu dem Thema, die ihn oder sie interessiert.

Was war der erste Kontakt mit Angela Merkel, an den Sie sich erinnern können?

Der erste direkte Kontakt fand Ende Oktober 2005 statt, für ein Interview vor dem EU-Gipfel im britischen Hampton Court bei London. Merkel stand zu diesem Zeitpunkt bereits als künftige Kanzlerin fest, war aber noch nicht ins Amt eingeführt. In dem Handelsblatt-Interview diktierte sie ihrem noch amtierenden Vorgänger Gerhard Schröder erstmals Positionen, denn der SPD-Politiker vertrat Deutschland bei diesem EU-Gipfel ein letztes Mal. Das Gespräch fand im Büro der damaligen Fraktionsvorsitzenden im Jakob-Kaiser-Haus statt, einem der Bundestagsgebäude. Das Büro bot einen wunderschönen Blick über die Spree. Merkel strahlte eine große Ruhe aus und war über die EU-Politik bereits sehr genau und detailliert informiert.

Ein Portrait des Journalisten Andreas Rinke
Der Politikjournalist und Buchautor Andreas Rinke beobachtet Kanzlerin Merkel im Hauptberuf.