Der Nordpol brennt, die Bestien kommen
Alfred Döblin als Science-Fiction-Autor und Vordenker des Anthropozäns: „Berge Meere und Giganten“ nimmt die Konflikte unserer Zeit vorweg.
Alfred Döblin war Großstädter durch und durch. Er begeisterte sich vor allem für „Häuser, Maschinen, Menschenmassen“. Nach eigenem Bekunden hat er im Alter von fünfzehn Jahren das erste Mal einen Kirschbaum bewusst wahrgenommen. Ihn widere es an, ästhetisch ansprechende Landschaften aufzusuchen, schrieb er.
1921 verließ Döblin dennoch Berlin in Richtung Ostsee. Er fuhr in den Urlaub, nach Arendsee. Dort erlebte der 43-jährige Schriftsteller etwas Unerwartetes. Er habe „einige Steine gesehen, gewöhnliches Geröll, das mich rührte“, notierte er später. „Es bewegte sich etwas in mir, um mich.“ Er nahm Steine und Sand mit nach Hause.
Das Erlebnis wirkte verstörend auf den Schriftsteller. Unerwartet hatte sich seine ganze Wahrnehmung verändert. Die frühere Verachtung war wie weggewischt, die Natur erschien ihm nun “als das Weltwesen, das ist: das Schwere, das Farbige, das Dunkel, die zahllosen Stoffe, als eine Fülle von Vorgängen, die sich lautlos mischen und durchkreuzen." Selbst eine Tasse Kaffee setzte ihn nun in Erstaunen. Der weiße Zucker verschwand in der braunen Flüssigkeit, löste sich, und Döblin fragte sich: “Was tut das Fließende, Flüssige, Warme, dem Festen, so dass es nachgibt, sich hinschmiegt”?
Drei Jahre nach dem Urlaub an der Ostsee veröffentlichte Döblin einen Roman, der die Grenzen des damaligen Vorstellungsvermögens sprengte. Die Handlung von „Berge Meere und Giganten“ erstreckt sich vom Ende des 20. bis ins 27. Jahrhundert. Wer den Roman mehr als neunzig Jahre nach seiner Erstveröffentlichung liest, dem wird klar, dass Döblin nicht nur den Faschismus und den Zweiten Weltkrieg, sondern auch die Krisen und Probleme des 21. Jahrhunderts vorweggenommen hat.
Es geht in dem Werk um Konflikte zwischen Ost und West, um Techniken der Natur- und Menschenbeherrschung, um einen katastrophalen Klimawandel und das Ringen zweier Grundkräfte in der Menschheit der Zukunft: einer naturliebenden Strömung und einer technokratischen Ideologie. Zunächst bekämpfen sich Völker des Ostens und Westens in einem bestialischen Uralischen Krieg. In späteren Jahrhunderten übertreffen sich die Diktatoren unterirdischer Städte gegenseitig in ihrer Menschenverachtung, bis hin zu organisiertem Kannibalismus. Bei einem technischen Großprojekt, das zum Ziel hat, Grönland zu enteisen, werden Zwangsarbeiter, die mit dem dafür vorgesehenen Energienetz in Berührung kommen, „vergast, wie alles Feuchte“.
„Berge Meere und Giganten“ ist der ultimative deutsche Science Fiction und ein Schlüsselroman des Anthropozäns. Doch kennt das Buch kaum jemand. Dabei hat es hat uns in einer Zeit, die sich selbst wie ein Science Fiction anfühlt, einiges zu sagen. Döblin erzählt in einer expressionistischen Sprache, die schwer zugänglich ist und auf den heutigen Leser gekünstelt und schwülstig wirken mag. Günter Grass hat über das Buch gesagt, es sei „wie unter visionärem Überdruck“ geschrieben.
Wer sich aber auf das Chaos einlässt, erlebt eine Überraschung. Dialektisch zuckt die Handlung zwischen Naturliebhabern und Erdbezwingern hin und her. Kaum ist eine Phase relativer Stabilität erreicht, putschen sich neue Diktatoren an die Macht, kommt es zu neuen Kriegen. Und nicht immer sind die Freunde der Natur die Guten, vor allem, als es zum Finale gen Norden geht. Döblin läßt Friedenszeiten als Ausnahmeerscheinung heraustreten. Die ökologischen Krisen von heute nimmt er in fast prophetischer Weise vorweg.
Einer der Protagonisten ist der Berliner Stadtfürst und Botaniker Marduk. Er baut vor den Toren der Stadt eine Art „Soylent Green“-Fabrik, in der er seine menschlichen Opfer und Pflanzen zur Kunstnahrung Meki zusammenwuchern lässt. Sein Schüler Kylin eifert ihm nach. Dem Schweden gelingt es, die geheimen Wachstumskräfte der Steine zu entschlüsseln. „Er hatte das Futter gefunden, mit dem man Gesteine speist.“ Kylin macht sich mit zweihundert Schiffen und einem Flugzeuggeschwader auf den Weg, um die Energie der isländischen Vulkane anzuzapfen, was dazu führt, dass die ganze Insel kollabiert. Es gelingt den Pionieren jedoch, die Energie der Erde in Turmalinen zu speichern, die „das strahlende Feuer der Vulkane an sich saugen“.
„Der sonnenartige Brand am Pol zog wie ein Äquator die Luftströme an.“
Das Unternehmen dient einem ungeheuerlichen Plan: Delvil, ein politischer Führer der westeuropäischen Stadtschaften, will Grönland enteisen, das Klima der Nordhalbkugel ändern und den Golfstrom umlenken, um im hohen Norden neuen Siedlungsraum zu schaffen. Als Kylin in seinem Auftrag die Turmaline gen Grönland transportiert, ist das der Beginn einer neuen unheilvollen Entwicklung. Lebewesen aller Art scheinen magnetisch angezogen zu sein von den Schiffen der Abenteurer. Bald sind sie von einem Meer aus Kraut und Algen umgeben und von Pflanzen überwuchert. Döblin: „Es waren keine Schiffe mehr. Es waren Berge, Wiesen. Sie klangen mit demselben hohen Ton, den die Schleier von sich gegeben hatten, als die Fluggeschwader sie von den Feuerseen Islands abzogen.“
„Ölwolkenschiffe“ und „Gasschiffe“ eilen herbei, um die wertvolle Turmalinfracht zu befreien. Die in ihnen gespeicherten Kräfte breiten sich über den Eismassen aus. Ein weithin sichtbares „rosafarbenes, fast weißes Licht“ legt sich über die Arktis, es wird durch ein feines Stromnetz verstärkt, das ein weiteres Schiffsgeschwader ausgelegt hat.
Zunächst reagiert nur das Klima. „Alle Windrichtungen waren verändert. Der sonnenartige Brand am Pol zog wie ein Äquator die Luftströme an; sie wehten nach Norden in einem heftigen oft zu Böen gesteigerten Drang.“ Grönland zerfällt in zwei enteiste Inseln, die, von der Eislast befreit, wie ein Korken nach oben treiben. Dann setzt die wuchsfördernde Kraft der Turmaline eine Art lebendigen Tsunami in Gang. Es regnet Vogelfedern und Pflanzen, die wie ein Teppich das Wasser bedecken.
Ein „Riesenlager von Lebendigem“ breitet sich aus, ein „grünes Meergebirge“, die Wälder und Wiesen des Meeres wachsen „zu einem einzigen hauchenden Wesen“ ineinander, in dem Lebendes und Totes, Pflanzen, Tier und Boden nicht zu unterscheiden sind. Diese wuchernde Masse gebärt lawinenartig Wesen, wie sie die Erde noch nicht gesehen hat: „wie sie rollten, backten sie an ihren Leib, was sie fassen konnten.“ Ein gigantischer Schwarm ungeheuerlicher Flugechsen, Vögel und Fischwesen entsteht, der sich gen Europa in Bewegung setzt. Das unkontrollierte Wachstum, das Marduk im Brandenburger Labor erdacht hatte, erfasst nun die ganze Erde.
Wer denkt bei diesen Visionen nicht an den globalen Klimawandel? In der Arktis mehren sich die Anzeichen für eine stetige Erwärmung von Luft und Wasser, mit Effekten, vor denen es Wissenschaftlern gruselt. Die Korallenriffe leiden darunter, da das Meer wärmer und saurer wird. Döblin sieht voraus, dass Naturzerstörung nicht automatisch zur Besinnung führt, sondern wahres Berserkertum hervorbringen kann – wenn nämlich der Glaube besteht, der Mensch sei der Gebieter der Erde.
Je mehr die Menschen die Natur zerstören, desto tiefer stecken sie in ihr drin.
Im Verlauf der Geschichte steigert sich das Ausmaß der Zerstörung ins Groteske. Während Kylin, der Anführer der Siedler, auf die Shetlandinseln flieht, nimmt auf dem Festland der Diktator Delvil den Kampf gegen die in der Arktis freigesetztem Unwesen auf, die Hamburg und andere Städte verwüsten und jedem, der sie berührt, einen schrecklichen Tod bereiten. Delvil hasst die Natur: „Man hatte nicht dazu die Äcker verachten gelernt, das Korn weggeworfen, das der Boden gab, das Vieh, das sich selbst fortpflanzte, um dies zu erdulden.“ Er schwört Rache, so lässig wie der Wachmann in Macbeth, der über den Regen sagt: „Let it come down“. „Die Bestien! Die Kreidezeit! Die ganze Kreidezeit! (…) Sie sollen kommen. Je mehr desto besser. Sie sollen es fühlen“, ruft Delvil. Er lässt Steine, Tiere, Pflanzen und Menschen zu riesigen, lebendigen Türmen verbauen, die an den Küsten eine Front von Riesen bilden, um die Unwesen aus dem Norden abzuwehren.
Die Bevölkerung lässt Delvil in unterirdische Techno-Städte umsiedeln, in denen sie abhängig von Kunstnahrung und Apparaten leben und sich mit brutalen Zirkusspielen amüsieren. „In diesen meilenweiten warmen Bezirken in der Erdrinde gab es nicht Tag und Nacht. Keine Vögel sangen; Gräser Pflanzen Bäume wuchsen nicht.“ Auch die Smartphonesucht sah Döblin kommen. Er beschreibt Unterhaltungsapparate, an denen die Menschen „wie Fliegen an der Honigstange“ hängen.
Wenige „Giganten“ gewinnen im Abwehrkampf gegen die entfesselte Natur eine unglaubliche Macht. Sie können in die Gestalt von beliebigen Lebewesen, sogar Wolken schlüpfen und die Bevölkerung terrorisieren. Döblin lässt Delvil den Imperativ der heutigen Ökonomie ausrufen: „Wachst! Saugt die Erde auf. Nehmt auf die Fahrt mit, was ihr könnt.“ Damit nimmt er vorweg, was sich angesichts heutiger, vom Kapitalismus getriebener Zerstörungen abzeichnet: dass dieses Wirtschaftssystem schon tot ist, ohne es bemerkt haben, dass es dabei ist, sich zu zerstören und die eroberte Materie wieder in den Naturkreislauf zurückzugeben. Denn je mehr in Döblins Roman die Giganten wachsen, desto mehr verwachsen sie mit der Erde, die sie doch hassen – bis sie sich schließlich selbst in Gebirge verwandeln.
Als „Hochspannungsprosa“ haben Kritiker den Zukunftsroman bezeichnet. Das Wichtigste an diesem Werk ist aber nicht die hollywoodtaugliche Action, sondern der sich über Jahrhunderte erstreckende Strang der Kriegszyklen auf der negativen Seite und auf der positiven Seite die Beschreibung einer nahezu unausweichlichen Annäherung der Zivilisation an die Natur. Es gibt in diesem Buch kein Entkommen aus der Erde. Je mehr die Menschen die Natur zerstören und vor ihr entfliehen wollen, desto tiefer stecken sie in ihr drin.
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