Her mit einer Theorie, ruft das Anthropozän

Das Buch „Molekulares Rot“ des Medienforschers McKenzie Wark kündigt Wegweisendes an, liefert es aber nicht.

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Globus des Künstlers Ingo Günther

Seit der Atmosphärenchemiker und Nobelpreisträger Paul Crutzen im Jahr 2000 bei einer wissenschaftlichen Konferenz das Wort „Anthropozän“ benutzte, hat dieser Begriff eine unerwartete Karriere gemacht. Die Menschheit verändert die Erde so tiefgreifend und so langfristig, dass unser Wirken eine neue geologische Erdepoche darstellt, lautet die Hypothese. Viele Wissenschaftler haben sich ihr inzwischen angeschlossen. Nicht nur den menschgemachten Klimawandel ziehen sie als Beleg heran, sondern auch eine Vielzahl davon unabhängiger Geschehnisse, die die Natur beeinträchtigen.

Der Artenschwund verändere den Lauf der Evolution, technische Erzeugnisse verwandelten sich in neuartige Fossilien; Plastikmüll, Nuklearabfälle und andere Hinterlassenschaften trügen zu einer unverkennbaren geologischen Signatur der Menschheit bei. Und alle diese Faktoren seien noch in ferner Zukunft messbar. Ein hypothetischer Geologe des Jahres 1002017 würde demnach sehr leicht zu dem Schluss kommen, dass zu unserer Zeit etwas Epochales geschah.

2016 hat nach mehrjähriger Prüfung eine Arbeitsgruppe, die von der für die Erdzeitrechnung zuständigen Internationalen Stratigraphie-Kommission eingesetzt wurde, eindeutig dafür votiert, das Anthropozän als Folgeepoche des aktuellen Holozäns anzuerkennen. Parallel zum mehrjährigen Prüfprozess der Geologen hat der Begriff weit über die Naturwissenschaft hinaus große Bedeutung erlangt – und das aus gutem, ja zwingendem Grund. Oftmals zusammen mit Naturwissenschaftlern erkunden Künstler, Geisteswissenschaftler, Politiker und Umweltschützer an vielen Orten, was genau das bedeutet, wenn die Menschheit zum Akteur auf der geologischen Zeitskala wird. Dieser interdisziplinäre Diskurs ist dringend nötig, denn in der Anthropozänhypothese ist auch ein kultureller und philosophischer Umbruch von großer Dimension angelegt.

„Philosophie der lebendigen Erfahrung“

Die Sphären von Natur und Kultur, von Menschheitsgeschichte und Erdgeschichte, von Leben und Technologie wurden bisher sorgsam getrennt. Ganze Generationen von Philosophen haben sich damit abgemüht, die jeweiligen Grenzen zu ziehen, zu bewahren und zu verteidigen. Die Perspektive des Anthropozäns jedoch durchbricht diese Linien mit unheimlicher Wucht. Sie macht sichtbar, dass sich künstliche Kategorisierungen in der anthropozänen Welt auflösen, einer Welt, in der Natur ein Kulturprodukt wird und Kultur umgekehrt durch ihre Allgegenwart Eigenschaften von Natürlichkeit entwickelt.

Dabei reicht es nicht, eine Rekordzahl zum Plastikmüll, zur Erderwärmung oder zur Menge von Beton pro Quadratmeter Erdoberfläche auf die andere zu stapeln. Das Anthropozän schreit förmlich nach einer Theorie, die aus der Fülle von Beobachtungen, die der Begriff subsummiert, eine neue Perspektive auf unser Dasein anbietet, so wie das die Evolutionstheorie geleistet hat.

Mit „Molekulares Rot“ legt der Medien- und Kulturwissenschaftler McKenzie Wark ein Buch vor, das in der deutschen Ausgabe genau dies verheißt: „Theorie für das Anthropozän“. Doch leider löst das Buch dieses Versprechen in keiner Weise ein. Überlegungen, die zum Wesen des Anthropozäns vordringen und seine Wirkung auf Erde und Zivilisation gedanklich und begrifflich zu fassen versuchten, sind nur in Spuren zu finden. Die einleitende Darstellung der Anthropozänidee und einige abschließende Gedanken nach mehr als dreihundert Seiten wirken wie angeflanscht. Der Verdacht drängt sich auf, der Autor habe seinem Werk nur einen leuchtend roten Mantel gegeben, auf dass dieser den Inhalt interessanter mache.

Globus des Künstlers Ingo Günther.
Der New Yorker Künstler Ingo Günther thematisiert anthropozäne Phänomene mit Hilfe von Globen – etwa ökologische Krisengebiete im Ozean.
Globus des Künstlers Ingo Günther. Dieser ist komplett weiß und darauf sind Wörter in verschiedenen Sprachen geschrieben.
Das Wort „Erde“ in 80 Sprachen – mit solchen Kunstwerken weckt Günther zugleich das Gefühl für Verbindendes und Trennendes.
Globus des Künstlers Ingo Günther. Darauf sind schwarze Linien eingezeichnet.
Globale Vernetzung: Reisen, Geldströme, Waren, Informationen – unsere Zeit ist hyperkonnektiv. Die Natur war das schon immer.