Normalitäre im Bundestag

von Maximilian Steinbeis
5 Minuten

Liebe Freunde des Verfassungsblogs,

Am Sonntag Abend wird ausgezählt, und dann werden wir wissen, wie viele AfD-Politiker_innen genau im nächsten Bundestag sitzen werden. Was wir jetzt schon (so gut wie) wissen: Es werden welche im Bundestag sitzen, und zwar nicht wenige. Wenn es hart kommt, sogar dritt- (oder gar zweit-?)stärkste Fraktion. Und da sie einmal drin sind, werden sie es mit einiger Wahrscheinlichkeit bleiben, auch über die nächsten vier Jahre hinaus. Was die NPD, die Republikaner, der Bund Freier Bürger und tutti quanti nie auch nur annähernd geschafft haben, jetzt ist es soweit: der rechteste Rand des politischen Spektrums ist in der „Mitte der Demokratie“ (Paul Kirchhof) angekommen. Salonfähig (blödes Wort). Normalisiert. Normal irgendwie, irgendwann dann auch, wie vor ihr die Linke. In Europa schon lange. Jetzt auch in Deutschland.

Für den Moment scheint es gerade diese Normalisierungs-Perspektive zu sein, die viele besonders verstört. Meine Facebook-Timeline schrillt derzeit vor lauter Alarmschreien nach dem Motto „So hat es mit Hitler auch angefangen!“, was zwar historisch Unsinn ist, aber verständlicher Unsinn. Wer darauf vertraut hatte, die Rechten in gewohnter Manier als Nazis entlarven und so auf Abstand halten zu können, sieht sich jetzt in der Tat dieser Hoffnung beraubt. Es hat nicht funktioniert, offensichtlich. Im Gegenteil.

Ich würde hier gern etwas Hoffnung verbreiten. Jetzt sind wir genötigt, unser Repertoire im Umgang mit den Rechten zu erweitern, und das halte ich für eine gute Sache. Wir kommen nicht mehr davon damit, böse zu finden, was sie sagen. Wir werden uns mit ihnen auseinandersetzen müssen, ob es falsch ist, was sie sagen. Und ich sehe nicht, warum wir diese Auseinandersetzung zu fürchten bräuchten.

Ein erheblicher Teil der Positionen der Rechten beruht auf der Prämisse, dass das Eigene das Normale ist. Die eigenen Leute sind die normalen Leute. Die eigenen Meinungen sind das, was normale Leute denken und fühlen. Das Volk, wer ist das? Wir halt. Wir normalen Bürgerinnen und Bürger. Und „normal“ ist nicht allein empirisch gemeint, im Sinn von „weit verbreitet“ oder „vermutlich der Fall“. Sondern normativ: normal, das ist die Norm. So, wie es sein soll. Wie es seine Richtigkeit hat. Normal halt. Im Unterschied zu anormal. Zu demjenigen, mit dem etwas nicht stimmt.

Von diesem Ausgangspunkt aus unterscheiden die Rechten zwischen „normalen“ Deutschen und „anormalen“ Ausländern, zwischen „normalen“ Weißen und „anormalen“ Schwarzen, zwischen „normalen“ Vater-Mutter-Kind-Familien und „anormalem“ Gleichheits- und Gender-„Wahn“. Und von diesem Ausgangspunkt gehen sie mit Kritik um. Verstehen gar nicht, was die alle haben. Das ist doch nichts Schlimmes, was sie sagen. Das ist doch alles nur normal.

Gegen Verachtung, Empörung, Spott und moralischen Vorwurf ist diese Position immun: Das bestätigt ihnen im Regelfall nur, dass man selbst nicht ganz normal ist. Das haben wir oft und lange genug probiert und sie damit immer nur stärker gemacht. Jetzt sitzen sie im Bundestag.

Lasst uns etwas anderes probieren. Was? Dazu habe ich gemeinsam mit Per Leo und Daniel Pascal Zorn über die letzten Monate ein Buch geschrieben: „Mit Rechten reden“ heißt es und erscheint am 14. Oktober bei Klett Cotta. Einen Einblick liefert jetzt schon mal, Sperrfrist hin oder her, eine am Freitag im Tagesspiegel erschienene, ausführliche und positive Besprechung.

Sie sitzen im Bundestag – gut, dann lasst uns doch mal sehen, ob sie uns überzeugen können. Ich kann nicht erkennen, warum wir es darauf nicht ruhig mal ankommen lassen sollten. Fragen wir sie, wie sie ihre Normen begründen, die sie so selbstbewusst behaupten. Mal sehen, was da kommt außer mehr oder minder sophisticatete Versionen von „Is’ halt so“. Fragen wir nach ihren Kriterien, nach denen sie unterscheiden. Mal sehen, was sie anzubieten haben außer „Na, so dass wir halt auf der Seite der Normalen sind und bleiben“. Normalitäts-Normen bleiben so lange normal, wie ihnen niemand Gründe abverlangt. Die Exklusiv-Ehe zwischen Mann und Frau blieb so lange das normalste Ding der Welt, bis genügend Leute beisammen waren, die fragten: wieso eigentlich? Und die CDU bemerkte, dass ihr darauf keine überzeugende Antwort einfällt.

Dass Politik kein Logikseminar ist, weiß ich natürlich auch. Gerade die Normalitären erzielen ihre politischen Erfolge nicht durch überzeugende Gründe, sondern durch Feindbestimmung und Opferpose. Aber wir müssen dieses Spiel vielleicht nicht jedes Mal mit der gleichen ermüdenden Vorhersagbarkeit mitspielen, mit der wir sie in den letzten Jahren bis in den Bundestag gemästet haben, oder? Denn wenn wir das weiter tun…

Deutschland hat mit seinem Mehrparteiensystem und Verhältniswahlrecht den großen Vorzug, dass Bundestagswahlen nicht immer gleich die komplette Machtfrage beantworten. Man bekommt erst mal Bundestagsmandate, aber nicht gleich die ganze Macht. Gesetze ändern, Polizei schicken, Steuergelder verteilen, solche Sachen.

Das ist es, was nicht passieren darf: dass der AfD wirklich staatliche Machtmittel in die Hände fallen. Denn dann kann sie mittels dieser Macht tatsächlich die Voraussetzungen ihres Erfolgs gestalten, auch ohne noch groß irgendjemand mit Gründen überzeugen zu müssen. Siehe Russland, siehe Ungarn, siehe Türkei.

Fast schon die Normalität in Europa, könne man fast meinen, wenn man sich ringsum umguckt. Aber wieso eigentlich?

Größere und kleinere Explosionen

Apropos Bundestagswahl: die Zahl der Mandate könnte diesmal aus komplizierten wahlrechtlichen Gründen förmlich explodieren, hört man oft. Ob das stimmt und was dahinter steckt, hat sich JEROME SCHRÖDER genauer angesehen – mit durchaus überraschendem Ergebnis.

Eine weitere Besonderheit des deutschen parlamentarischen Systems, die man im Ausland nur mühsam erklärt bekommt, ist die Absprache zwischen CSU und CDU, wonach die einen nur in Bayern und die anderen nur in Bayern nicht antreten, zum beiderseitigen nicht geringen Vorteil. Was verfassungsrechtlich von diesem Deal zu halten ist, analysiert ANNA VON NOTZ.

In Europa dürfte das große Thema der Woche, neben der Brexit-Rede von Theresa May in Florenz, der Kampf der spanischen Regierung gegen das geplante Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien am 1. Oktober gewesen sein. ANDRÉS BOIX PALOP fächert die verfassungsrechtlichen Hintergründe auf.

Am EuGH in Luxemburg steht eine Entscheidung zur irreführend so genannten „Scharia-Scheidung“ und ihrer Anerkennung in Deutschland bevor. NADJMA YASSARI klärt auf, was es damit und den Schlussanträgen des Generalanwalts genau auf sich hat.

Das EuGH-Urteil zur Flüchtlingsverteilung in Europa Anfang September hat hier auf dem Verfassungsblog schon für intensive Diskussionen gesorgt, die ihren Weg auch in die überregionale Tagespresse gefunden haben. GABRIELE BUCHHOLTZ nimmt den Gerichtshof vor seinen Kritikern in Schutz.

Anderswo

NICO SCHRÖTER nimmt die jüngste Wahl des künftigen Verfassungsrichters Josef Christ im Bundestag – die erste, die nach neuen Regeln vom Plenum und nicht im Arkanum des Wahlausschusses stattgefunden hat – zum Anlass für einen verfassungshistorischen Rückblick.

STEVE PEERS filetiert Theresa Mays Florentiner Brexit-Rede.

ANTHONY SFEZ versucht zu entwirren, wer im katalonischen Unabhängigkeitsdrama alles welche Gesetze der jeweils anderen Seite für null und nichtig erklärt hat.

SENEM GUROL lenkt unsere Aufmerksamkeit auf ein Urteil des EGMR zu Gender Stereotyping.

MICHAEL C. DORF hält den neuesten Aufschlag der US-Republikaner, Obamacare zu ersetzen, für verfassungswidrig.

GAUTAM BHATIA diskutiert die radikal meinungsfreiheits-skeptische Linie des indischen Supreme Courts anhand eines neuen Urteils zum Verbot eines Buches.

Nächste Woche werden wir voraussichtlich nicht nur wissen, wie stark die AfD nun tatsächlich abschneidet, sondern auch erfahren, ob und wie sich das katalonische Dilemma auflösen lässt. Zum Referendum am 1. Oktober, oder was bis dahin davon übrig ist, werde ich übrigens nach Barcelona fahren und mir selbst ein Bild zu machen versuchen. Mehr dazu demnächst in diesem Theater.

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Ihnen alles Gute und bis nächste Woche,

Max Steinbeis



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