Regierungsbericht zur biologischen Vielfalt in Deutschland: Rückschritte statt Öko-Wende
Das Bundeskabinett beschließt den "Indikatorenbericht zur biologischen Vielfalt". Einmal mehr zeigt der Report, wie dringend eine Wende in der Landwirtschaft ist

Die Bundesregierung hat eingestanden, dass sie die selbstgesteckten Ziele für den Schutz der Vielfalt der Natur in Deutschland in weiten Teilen nicht erreicht. Fortschritte im Kampf gegen den Artenschwund sind selten, Stillstand und Rückschritte die Regel. Besonders verheerend wird – wieder einmal – die Lage in der Agrarlandschaft bewertet.
Dies geht aus dem „Indikatorenbericht zur Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt“ hervor, den das Bundeskabinett heute verabschiedet hat.
Weit über 300 Ziele hatte sich die Regierung schon 2007 mit ihrer Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt gesetzt, um das Sterben von Arten und Lebensräumen zu stoppen und zu einem harmonischen Miteinander von Mensch und Natur zu kommen. Die versprochene Transformation zu einer Gesellschaft, die schonend mit den natürlichen Gütern umgeht, die biologische Vielfalt bewahrt und die eine gesündere und nachhaltigere Wirtschaftsweise praktiziert, steht aber noch aus.
Der Bericht, den die Kanzlerin und die Ministerinnen und Minister am Mittwoch beschlossen, legt dar, wie stark die Realität hinter dem selbstgesteckten Zeitplan hinterherhinkt. Von 13 bewerteten Indikatoren lagen elf weit oder sehr weit vom angestrebten Zielbereich entfernt, nur ein einziger („Landschaftszerschneidung“) lag innerhalb des Zielbereichs und ein weiterer (Nachhaltige Forstwirtschaft) lag überhaupt nur „in der Nähe“ des Zielbereichs.
Die meisten Lebensräume in Deutschland bleiben verarmt
Wie dramatisch die Lage ist, haben mehrere in den vergangenen Wochen vorgelegte Berichte von Bundesregierung und EU-Kommission bereits gezeigt. Der nationale Bericht zur Umsetzung der Konvention zur biologischen Vielfalt CBD fiel ebenso ernüchternd aus wie der gerade von der Europäischen Kommission vorgelegte Bericht zur Lage der Natur in Europa, in den ebenfalls Daten aus Deutschland einflossen.
Grundlage für die neuerliche Bilanz der Bundesregierung sind 18 Indikatoren, die ein Gesamtbild über die Lage und die erreichten Fortschritte bei der Bewahrung der biologischen Vielfalt geben sollen. Solche Indikatoren sind beispielsweise Fortschritte auf dem Weg zu einer nachhaltigeren Forstwirtschaft, Verbesserungen in den Beständen gefährdeter Arten, Fortschritte im ökologischen Gewässerzustand und im Kampf gegen die zunehmende Eutrophierung der Ökosysteme. Auch die Entwicklung des ökologischen Landbaus, das Bewusstsein der Bevölkerung für biologische Vielfalt und der Grad der Landschaftszerschneidung sind eigene Indikatoren. Wie schlecht es um die Natur in Deutschland bestellt ist, zeigt ein Blick in ausgewählte Indikatoren.

Schlüsselindikator „Artenvielfalt und Landschaftsqualität“
Besonders wichtige Indikatoren sind beispielsweise die für „Artenvielfalt und Landschaftsqualität“, „Gefährdete Arten“ und „Erhaltungszustand der FFH-Lebensräume und FFH-Arten“. Denn hinter diesem sperrigen Namen verbirgt sich die Bilanz über das blühende, summende und zwitschernde Leben: Wie entwickeln sich die Bestände von Vogelarten, die für bestimmte Landschaften typisch sind, wie die von bereits bedrohten Arten und in welchem Zustand sind europaweit besonders geschützten Lebensräume wie Moore, Wiesen, Wälder und Trockenrasen? Das sind die konkreten Größen, die mit diesen Indikatoren erfasst werden.
Der Indikator "Artenvielfalt und Landschaftsqualität" wird von der Bundesregierung als „Schlüsselindikator“ für die Nachhaltigkeit in der Landnutzung angesehen. Er misst die Bestände ausgewählter Vogelarten in den wichtigsten Lebensraumtypen. Der Gedanke dahinter: Je besser ein Lebensraum in Schuss ist, desto mehr typische Vogelarten finden dort ein Auskommen. Die Größe der Populationen charakteristischer Vogelarten spiegelt mithin die Eignung der Landschaft als Lebensraum und damit ihre ökologische Funktionsfähigkeit wider.
Weil Vögel auch von Insekten und anderen Lebewesen abhängig sind, lässt sich am Zustand der gefiederten Bewohner auch indirekt die Lage anderer wichtiger Tiergruppen ablesen. Um die unterschiedlichen Landschaftstypen abzubilden, wurden für die Teilindikatoren Agrarland, Wälder, Siedlungen, Binnengewässer, sowie Küsten und Meere repräsentative Vogelarten ausgewählt.
Braunkehlchen, Zwergseeschwalbe und Mittelspecht sind Indikatorarten für ihren Lebensraum
Braunkehlchen, Kiebitz, Goldammer und Rotmilan und Neuntöter beispielsweise sind die „Zeigerarten“ für den Zustand des Lebensraums Agrarland. Wie es Austernfischern, Eiderenten, Kornweihen und Rotschenkeln ergeht, wird zur Grundlage der Bewertung des Lebensaums Küsten und Meere genommen. Schreiadler, Kleiber, Klein-Mittel- und Schwarzspecht, Waldlaubsänger und andere bilden den Teilindikator Wald.



Je nach Anteil der Fläche eines Landschaftstyps an der Gesamtfläche Deutschlands wurden die Teilindikatoren gewichtet: Mehr als die Hälfte der Landesfläche sind landwirtschaftlich genutzt, also erhielt der Teilindikator Agrarland bestehend aus typischen Agrarvogelarten den größten Gewichtungsfaktor 0,52. Wälder folgen mit 0,28 und so weiter.
Über alle Lebensraumtypen hinweg betrachtet stagniert dieser Schlüsselindikator auf schlechtem Niveau: Das Ziel ist es, die Populationen der Indikatorenarten bis 2030 auf einen Stand zu bringen, den sie hätten erreichen können, wenn alle europäische und nationalen Naturschutzvorgaben zügig umgesetzt worden wären. „Bei gleichbleibender Entwicklung ist für den Gesamtindikator eine Zielerreichung bis zum Jahr 2030 ohne erhebliche zusätzliche Anstrengungen von Bund, Ländern und auf kommunaler Ebene nicht möglich“, heißt es jetzt in dem Bericht.

Wieder mal zieht die Landwirtschaft die Gesamtbilanz nach unten
Ein genauerer Blick auf die Ergebnisse der einzelnen Teilindikatoren verrät, woran das liegt. Während es vor allem den Waldvögeln in den vergangenen Jahren offenbar deutlich besser geht und der Teilindikator Wald sich mithin signifikant verbessern und sogar in den „Zielbereich“ vorarbeiten konnte, der bis 2030 erreicht werden soll, stagniert die Entwicklung in anderen Lebensräumen.
Im Agrarland hat sich die Lage in den vergangenen zehn sogar deutlich weiter vom Ziel entfernt, spricht: Der Artenschwund beschleunigt sich. Angesichts ohnehin sehr niedriger Bestände vieler Arten abermals ein dramatischer Befund. „In der Agrarlandschaft gehen die meisten Indikatorvogelarten, die auf Äckern,
Der Zustand der Agrarlandschaft belegt, dass es mehr braucht als den von Julia Klöckner proklamierten "Systemwechsel"
Wiesen und Weiden brüten, aufgrund der intensiven landwirtschaftlichen Nutzung nach wie vor im Bestand zurück“, konstatiert der Bericht. „Ob die eingeleiteten Agrarumwelt- und Naturschutzmaßnahmen mittel- und langfristig zur Umkehr des negativen Trends beim Teilindikator Agrarland führen, ist derzeit offen.“
Eine Woche nach den verheerenden Agrarbeschlüssen der europäischen Landwirtschaftsminister und des Europaparlaments ist das eine weitere Ohrfeige für Julia Klöckner und Kollegen, die minimale Änderungen in der Verteilung der Finanzmittel zugunsten von mehr Nachhaltigkeit als „Systemwechsel“ feiert.


Mahnung auf dem Weg zum UN-Naturschutzgipfel in China
Neben dem Agrarland sind auch die Küsten echte ökologische Notstandsgebiete. Auch hier ist der Zielerreichungsgrad mit 59 Prozent nicht nur miserabel, sondern die Situation entwickelte sich in den letzten zehn Jahren statistisch signifikant weg vom Ziel. Von dem negativen Trend bei den Küsten und Meeren sind sowohl die Brutbestände der Vogelarten der Strände und Dünen als auch diejenigen des Grünlandes betroffen.
Positiv verliefen dagegen die Teilindikatoren für Binnengewässer und für Siedlungen, die gleichwohl aber noch weit vom Zielbereich entfernt sind.
Der Bericht macht deutlich, wie weit Deutschland von Zielen entfernt ist, die längst erreicht sein sollten. Dies ist für die EU-weiten und internationalen Verhandlungen bedeutend, die Ende 2021 in den großen UN-Naturschutzgipfel, der in China stattfinden soll, münden sollen. Bei dem Gipfel sollen die Vertragsstaaten der Konvention für biologische Vielfalt neue gemeinsame Ziele für den globalen Naturschutz bis zum Jahr 2030 vereinbaren und vor allem auch beschließen, wie sichergestellt werden soll, dass diese Ziele im Gegensatz zu den Zielen für den Zeitraum 2010 bis 2020 auch erreicht werden. Wie aus hehren Beschlüsse konkrete Taten folgen und wie Ziele verläßlich umgesetzt werden, bleibt eine bisher ungelöste Frage.
Die wichtigsten Indikatoren der Bundesregierung im Überblick:






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