Das Merkel-Lexikon: Von Basis über Brille und Biden bis Bush

41 Minuten
Die Hände von Kanzlerin Merkel, zur Raute geformt.

Basis

Die Auseinandersetzung mit der Basis der CDU ist für die Parteivorsitzende ein Dauerthema. Schon in ihrer Zeit als CDU-Generalsekretärin (1998–2000) hat Merkel sogenannte Regionalkonferenzen ihrer Partei eingeführt, die eine mehrfache Funktion haben: Die Treffen mit verschiedenen Landesverbänden sind ein Ventil für unzufriedene Parteimitglieder, aber ungefährlich für die Parteispitze, weil dort weder Personal- noch Sachentscheidungen fallen. Merkel kann gleichzeitig die Stimmung in der Partei ermitteln und der Basis das Gefühl geben, dass sie zuhören will.[1]

Auch 2015 ging es auf den sogenannten CDU-Zukunftskonferenzen wegen der Flüchtlingspolitik hoch her, wobei sich große Differenzen zwischen der viel kritischeren Stimmung etwa im sächsischen Schkeuditz und den Veranstaltungen im Westen zeigten. Die Klagen der Basis wiederholen sich letztlich über die Jahre: Schon früher war die Stimmung meist „schlecht“, etwa in Zeiten der schwarz-gelben Koalition und der Griechenland-Hilfspakete. Auch 2010 monierten konservative Parteimitglieder auf einer Regionalkonferenz in Halle bereits, dass die Konservativen ihre Heimat verloren hätten. „Der konservative Katholik ist herzlichst in der CDU willkommen“, antwortete Merkel daraufhin (s. Konservativ). Auch 2016 nahm sie in stoischer Gelassenheit hin, wenn auf Regionalkonferenzen vereinzelt ihr Rücktritt gefordert wurde – und verteidigte gegen Buh-Rufe im Saal ausdrücklich das Rederecht aller.[2] Fast immer nimmt sich Merkel viel Zeit, und macht die Erfahrung, dass die Stimmung am Ende der Sitzungen meist besser ist als am Anfang. Deshalb setzt die CDU das Instrument weiter ein.

Die „Basis“ ist letztlich auch ihre Macht-Basis – denn in Umfragen schnitt sie auch in der kritischen Phase der Auseinandersetzung zwischen CDU und CSU bei den einfachen Mitgliedern immer wesentlich besser ab als bei den Parteifunktionären – und der seit 2017 noch stärker männlich dominierten CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

Im Laufe ihrer Amtszeit veränderte sich ihre Vorstellung von „Basis“ etwa – vom CDU-Mitglied stärker zum Bürger. Das erklärt die steigende Zahl an Bürgerdialogformaten (s. Bürgerdialoge), aber auch Diskussionen wie mit Lesern der „Freien Presse“ in Chemnitz am 16. November 2018. Nach Abgabe des CDU-Vorsitzes dürfte sich diese Tendenz verstärken – denn nun ist ihre Nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer für die Parteibasis und deren Stimmungen zuständig.

  • [1] Vgl. Stephan Löwenstein, Angela Merkel liebstes Format, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. August 2011.
  • [2] S. etwa die Merkel-Auftritte bei den südwestdeutschen CDU-Landesverbänden in Heidelberg am 28. November und den ostdeutschen Landesverbänden in Jena am 1. Dezember 2016.

Batterie (s. Auto, Digitalisierung)

Ähnlich wie bei der Chips-Produktion hat Merkel bei der für E-Autos wichtigen Batterie-Produktion gemahnt, dass die Europäer wieder autark werden müssten. 2010 hatte sie das – später zumindest verschobene – Ziel ausgegeben, dass bis 2020 eine Million E-Autos in Deutschland fahren sollten. Das Thema Batterie-Entwicklung taucht deshalb etwa in der deutsch-chinesischen Erklärung der Regierungskonsultationen 2011 auf.[1] Bei den Kontakten gerade mit der chinesischen Regierung ging es auch um die Frage, ob man einen gemeinsamen Ladestecker für Batterieantriebe entwickelt.

Spätestens seit 2016 dringt Merkel darauf, dass die Deutschen und Europäer unabhängiger von den USA und Asien werden müssten. Denn die Batterie spielt im E-Auto eine zentrale Rolle. Europa und Deutschland müssten also auch in diesem Bereich eigene Angebote entwickeln, dies sei aus strategischen Gründen wichtig, forderte sie.[2] Dafür will Merkel auch Ausnahmen beim EU-Beihilferecht, um Firmen gezielt fördern zu können.[3]

Ähnlich wie bei der Künstlichen Intelligenz müsse man zudem aufpassen, dass sich entwickelnde Firmen und gerade Start-Ups in diesem Sektor nicht aus dem Ausland übernommen würden, sagte sie im Mai 2017.[4]

Das Thema Batterie sieht Merkel im Zusammenhang mit alles Aspekten der E-Mobilität – von der Frage der Erzeugung von Strom aus regenerativen Energien, über die Ladetechnologie bis zum Batterieblock. Angesichts der Zögerlichkeit der deutschen Automobilkonzerne wurde bei ihr 2018 auch Frust erkennbar. „Jemanden wie mich, die ich einmal Physik studiert habe, stimmt es unglaublich traurig, dass wir im Land der Gründerväter der Elektrochemie keine Batteriezellen fertigen können und auch ganz Europa das nicht kann“, sagte Merkel. „Deshalb werde ich jedenfalls da, wo ich kann, anregen, dass wir daraus eine strategische europäische Entwicklung machen – so, wie wir jetzt noch einmal die Chipentwicklung als strategisches Entwicklungsprojekt für Europa verfolgen.“ Dazu brauche man noch andere Länder in der EU. Das sei schwierig. „Aber sich nur in chinesische oder asiatische Abhängigkeiten zu begeben – da bin ich unsicher, ob das so gut ist“, sagte sie in dem typischen Merkelschen Sprachstil.[5]

  • [1] Deutsche-chinesische Erklärung nach den den Regierungskonsultationen, Berlin, 28. Juni 2011.
  • [2] Merkel auf dem Wirtschaftstag des CDU-Wirtschaftsrates in Berlin, 21. Juni 2016.
  • [3] Pressekonferenz nach dem EU-Gipfel in Brüssel, 29. Juni 2016.
  • [4] Rede auf dem CDU-Wirtschaftsrat in Berlin, 27. Juni 2017.
  • [5] Merkel beim Symposium „10 Jahre Elektromobilität – Zukunft wird Gegenwart“ der Mennekes GmbH & Co. KG in Berlin, 27. September 2018.


Bayern (s. CSU, Seehofer)

Merkel ist in Hamburg geboren, lebt in Berlin, hatte sich erfolglos um den CDU-Landesvorsitz in Brandenburg beworben, war im nordrhein-westfälischen Bonn Bundesministerin und hat ihren CDU-Bundestagswahlkreis in Mecklenburg-Vorpommern. Aber es gibt wohl kein Bundesland, an dem sich Merkel so abgearbeitet hat und zu dem sie ein so zwiespältiges Verhältnis hat wie zu Bayern. Das liegt vor allem an der Schwesterpartei CSU, an die die CDU-Vorsitzende wohl ihre gesamte politische Karriere lang gekettet sein wird. Weil die CDU in Bayern nicht antritt, ist sie etwa bei der Kanzlerwahl auch auf die Stimmen der in den Bundestag gewählten CSU-Abgeordneten angewiesen. Das sichert der bayerischen Partei und damit auch dem Land Bayern besonderen Einfluss auf die Bundespolitik.

Merkel ist aber gleichzeitig – trotz aller Streitereien – bekennender Freund des Landes und der dortigen Verwaltung. „Besonders gerne habe ich Akten aus der bayerischen Staatskanzlei gelesen, weil die super geführt sind“, bekannte sie etwa.[1] Immer wieder äußert sich die Kanzlerin lobend, anerkennend, manchmal sogar bewundernd. Das gilt auch in der Flüchtlingskrise: In CDU-Wahlveranstaltungen betonte sie häufig, wie froh sie sei, dass Österreich an Bayerns Grenze liege. Denn logistisch habe das südöstlichste Bundesland bei der Aufnahme von Flüchtlingen die Hauptlast übernommen und dies sehr gut bewältigt. Dazu kommen ein ausgeglichener Haushalt, Schuldenrückzahlung, massive Investitionen in das digitale Netz – alles Punkte, bei denen Merkel Bayern in einer Vorbildrolle sieht.

2018 waren die Lobpreisungen auf Bayern nicht mehr zu stark. Merkel lobte bei ihren Auftritten im hessischen Landtagswahlkampf vor allem die dortige schwarz-grüne Koalition, die das Land erfolgreich gelenkt habe – und es sogar schaffe, eine dritte Startbahn am zentralen Flughafen zu bauen. Dies war ein Seitenhieb sowohl auf die Endlosgeschichte der Fertigstellung des Flughafens BER für Berlin/Brandenburg – als auch gegen Bayern, wo die CSU den geplanten Bau der dritten Startbahn wegen Bürgerprotesten abgesagt hatte.

[1] Merkel bei der Vorstellung des Buches von Edmund Stoiber, Weil die Welt sich ändert, 25. September 2012.

Befragung

Am 6. Juni 2018 fand erstmals eine Befragung der Kanzlerin im Bundestag statt, mit der das Parlament die Auskunftspflicht der Regierung einfordern und für einen lebendigeren Austausch sorgen will. Allerdings hat die Veranstaltung ein starres Korsett, das Fragern und Merkel jeweils eine Minute Zeit zubilligt. Die ersten Befragungen glichen deshalb zu einem politischen Ping-Pong-Spiel mit sehr vielen verschiedenen Themen – bei dem Merkel aus Sicht der meisten Beobachter sowohl mit der unpolemischen Beantwortung als auch ihrer Detailkenntnis punkten konnte. Das „Grillen“ der Kanzlerin fiel deshalb sehr zahm aus.

Am 12. Dezember fand die zweite Befragung statt – die aber ähnlich unspektakulär ablief wie die erste. Merkel, die wieder sehr gelassen wirkte, erlaubte sich diesmal mehr Spitzen gegenüber den Fragern – etwa als sie einen AfD-Politiker darauf hinwies, dass die Mehrzahl der EU-Staaten den UN-Migrationspakt gebilligt habe. „Wollen wir durchzählen? Wir können beide durchzählen, und dann werden wir sehen, dass wir unterhalb von 14 landen“, sagte sie kühl. „Was Sie sagen, Herr Kollege – jetzt muss ich mich wegen der Zeit schon beeilen –, ist deshalb sachlich falsch“, kommentierte Merkel eine andere AfD-Frage. Erstmals sagte Merkel auf eine Frage einer Linkspartei-Politikerin zu Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien, dass sie eine erwähnte Gesetzeslücke prüfen wolle, die doch weitere Ausfuhren ermögliche.

Merkel absolvierte die Fragerunden in den kommenden Jahren mit lässiger Haltung, oft auch mit spitzen Bemerkungen auf AfD-Fragen oder -Kommentare. Als die Kanzlerin im Juli 2021 nach einem Vergleich zwischen den Fragen von Abgeordneten und Journalisten gefragt wurde, wurde sie grundsätzlich: “Jede Art von Befragung oder jede Art von Auftritt einer Bundeskanzlerin erfordert immer sorgfältige Vorbereitung. Ich habe mein Amt immer so verstanden – und werde das auch bis zum Ende so tun -, dass ich die Termine mit Freude oder zumindest mit einer positiven Erwartung und einer guten Grundstimmung wahrnehme. Dazu gehört auch die Sommerpressekonferenz. Es ist ja auch spannend. Ich weiß ja nie, was Sie fragen. Insofern ist das immer wieder eine Überraschung. Das macht auch Freude.”[1]

[1] Sommerpressekonferenz in der Bundespressekonferenz, 23. Juli 2021.

Behinderung

Schon aus biografischen Gründen hat das Thema Behinderung bei Merkel immer eine große Rolle gespielt. Als Jugendliche hatte sie engen Kontakt mit den Bewohnern eines Heims für geistig Behinderte neben ihrem Elternhaus: „Man muss sehr vorsichtig sein, zu definieren, wo Leben lebenswürdig ist“, fasste sie ihre Erfahrungen aus den frühen Jahren zusammen. Lebensfreude könnten sehr wohl auch diejenigen empfinden, die schwach seien.[1] „Ich habe ein wunderbares Kinderleben mit geistig Behinderten geführt, die in einer Gärtnerei angestellt waren, die Ställe bewirtschaftet haben und mit denen ich Gespräche geführt habe. Das war für mich Normalität“, beschrieb sie diese Zeit.[2]

Immer wieder absolviert sie Terminen, bei denen Behinderung ein Thema ist. Als die Sternsinger 2019 für behinderte Kinder in Entwicklungsländern sammelten, nahm sich Merkel etwa viel Zeit für die Erklärung, wie wichtig dieses Engagement der Kinder sei. In Entwicklungsländern sei das Leben besonders schwierig für Menschen mit Behinderung. Aber diese würden auch in Deutschland manchmal gehänselt. „Deshalb ist es selbst in einem reichen Land ganz wichtig, dass wir mit Menschen mit Behinderung so umgehen, dass wir ihre Würde immer respektieren und uns einmal in sie hineinversetzen“, sagte Merkel.[3]

Sie lobte zudem die integrative Funktion eines gemeinsamen Schulsports für Behinderte und Nicht-Behinderte.[4] Und Merkel betonte bei einem Besuch bei einem Hersteller von Prothesen auch für Sportler, welche Chancen Technologie und Digitalisierung gerade auch für Behinderte böten. „Wo die Behinderung oder das Handicap anfangen und wo sie aufhören, das sei also einmal dahingestellt. Das ist oft ein fließender Übergang und kann gar nicht so genau spezifiziert werden“, sagte sie. Deshalb sei Inklusion ihr Grundsatz.[5]

  • [1] Merkel beim Evangelischen Arbeitskreis der CDU in Berlin, 19. Juni 2015.
  • [2] Rede beim 100-jährigen Firmenjubiläum der Firma Ottobock in Duderstadt, 18. Februar 2019.
  • [3] Merkel beim Empfang der Sternsinger im Kanzleramt, 7. Januar 2019.
  • [4] Merkel-Interview mit der Paralympics-Zeitung, 30. August 2012.
  • [5] Rede beim 100-jährigen Firmenjubiläum der Firma Ottobock in Duderstadt, 18. Februar 2019.

Beruf

Merkel hatte vor ihrem Einstieg in die Politik einen „ordentlichen“ Beruf. Sie arbeitete erst als Diplom- und dann als promovierte Physikerin am Zentralinstitut für Physikalische Chemie der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin-Adlershof. Ohne die Einheit wäre aus ihr in der DDR eine „redliche Wissenschaftlerin geworden“, meinte sie. Wenn sie im Westen aufgewachsen wäre, dann aber wohl eher eine Lehrerin.[1] Später erwähnt sie, dass auch einmal daran gedacht habe, ein Café oder ein Restaurant zu betreiben.[2]

  • [1] Merkel-Interview, Bild am Sonntag, 3. Oktober 2010.
  • [2] Merkel-Interview in der Wirtschaftswoche, 29. September 2016.

Berlusconi, Silvio

Von den vielen Macho-Männern, denen Merkel im Laufe ihrer Kanzlerschaft begegnet ist, sticht einer ohne Zweifel heraus – Silvio Berlusconi, der frühere italienische Ministerpräsident, dessen Partei zur selben europäischen Parteienfamilie EVP wie die Union gehört. Nicht nur einmal hat er Merkel mit seltsamen Scherzen oder Beleidigungen überzogen. Der Italiener mit dem Hang für junge Frauen konnte mit der detailversessenen Merkel nichts anfangen. Bei einem Nato-Gipfel ließ er sie minutenlang warten. Und im Herbst 2011 soll er bei einem mitgeschnittenen Telefonat über sie als „culona inchiavabile“ gelästert haben, einem kaum übersetzbaren abwertenden Schimpfwort.[1]

Allerdings glaubte auch Berlusconi kurz darauf, Grund zum Ärger über die Kanzlerin zu haben. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz Merkels mit Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy im Oktober 2011 in Brüssel wurden beide gefragt, ob sie an die versprochenen italienischen Reformen glaubten – worauf sich beide anschauten und dann grinsten. Berlusconi empfand dies später als Affront und wohl als Retourkutsche für die Enthüllung über seine Telefonentgleisung. Merkels Version war jedoch, dass das Grinsen eher aus der Verlegenheit entstand, weil Sarkozy und sie nicht wussten, wer auf die durchaus heikle Frage zuerst antworten sollte. Berlusconi behauptete direkt danach, dass sich Merkel entschuldigt habe – was Regierungssprecher Steffen Seibert prompt dementierte.[2] Sein Abgang aus der ersten Reihe der italienischen Politiker erledigte das Problem schließlich.

  • [1] Nach Fiona Ehlers, Zotig und vulgär, Spiegel 38/2011.
  • [2] NTV, 27. Oktober 2011., Video

Berater

Egal, ob es sich um eine Diktatur oder eine Demokratie handelt: Regierende sind immer der Gefahr ausgesetzt, dass sich ihre Umgebung zunehmend unkritisch zeigt und sie gedanklich im eigenen Saft schmoren lässt. Widerspruch verebbt normalerweise mit zunehmender Macht. Deshalb stellt sich die Frage: Woher bekommt eine Kanzlerin nach mehr als 13 Jahren Amtszeit noch neue Ideen?

Böse Zungen behaupten: Merkel hat dieses Problem gar nicht, weil sie ohnehin keine eigene Meinung habe und lieber Themen aufgreife, die bereits in der Luft liegen. Die Realität liefere also automatisch den Stoff für ihre Arbeit. Sollte dies stimmen, müsste man Merkel nach vier Wahlsiegen in Folge zumindest die Fähigkeit zubilligen, sehr geschickt die Themen zu erkennen, die die Wähler bewegen. Mit der Selbstwahrnehmung des Merkel-Lagers hat diese Interpretation ohnehin nichts zu tun.

Angela Merkel will mit drei Maßnahmen dafür sorgen, dass die Gefahr einer Abkapselung bei ihr zumindest minimiert wird. Erstens verfügt sie über ein enges Netz an Beratern wie die Kanzler vor ihr. Dazu gehört beispielsweise der Diplomat Christoph Heusgen, der sie seit 2005 bei außenpolitischen Fragen beriet und 2017 deutscher Botschafter bei der UN wurde. Am Ende entscheidet zwar die Kanzlerin, aber Widerspruch wird ausdrücklich erwünscht. Das gilt für die Abteilungsleiter im Kanzleramt, aber auch für ihre Büroleiterin Beate Baumann oder Eva Christiansen, die bereits zu Oppositionszeiten ihre Sprecherin war und nun im Kanzleramt als Beraterin nach innen und Erklärerin nach außen fungiert (s. Küchenkabinett). Eines der obersten Einstellungskriterien für die engsten Mitarbeiter ist absolute Verschwiegenheit sowie Loyalität und Offenheit gegenüber der Kanzlerin. Frankreichs früherer Präsident Nicolas Sarkozy hatte jedenfalls Respekt vor Merkels engsten Beratern, denen er etwa auf den EU-Gipfeln in Brüssel begegnete. Der damalige wirtschaftspolitische Berater und heutige Bundesbank-Chef Jens Weidmann habe der Kanzlerin in Diskussionen einfach widersprochen, wunderte er sich.[1]

Mindestens ebenso wichtig sind zweitens aber „indirekte Berater“. Merkel wird dafür gerühmt, dass sie ständig Informationen Dritter aufnimmt. Dies geschieht durch eine intensive Lektüre der von ihr sehr geschätzten Zeitungen und sehr regelmäßige Einladungen an Experten der verschiedensten Bereiche des öffentlichen Lebens ins Kanzleramt. Diese Treffen werden meist nur dann bekannt, wenn die Eingeladenen sich damit brüsten oder Merkels Medienleute in der Veröffentlichung der Treffen einen Nutzen sehen. Ideen holt sich Merkel drittens auch von Bürgern selbst: Bereits 2012 hatte sie einen sogenannten Bürgerdialog angestoßen, um herauszufinden, was die Menschen in Deutschland denken (s. Bürger).

Daneben gibt es die vermeintlichen Berater, die nur gelegentlich Einfluss haben. Vor allem angelsächsische Medien lieben es, von „Merkel’s advisers“ zu schreiben – und suggerieren damit, dass von diesen gemachte, teilweise kontroverse Vorschläge den Segen der Regierungsspitze hätten. In Wahrheit gibt es ein Netz von offiziellen Beratungsgremien einer Bundesregierung, die aber nicht immer, manchmal sogar gar keinen Einfluss auf das tatsächliche Denken oder die Entscheidungen haben. Die Übergabe von Berichten etwa des Sachverständigenrates oder der Wirtschaftsweisen werden im Kanzleramt als wichtige öffentliche Termine zelebriert. Aber teilweise macht Merkel manchmal schon bei der Übergabe klar, was sie von bestimmten Vorschlägen hält. „Es ist nicht ganz trivial, zu verstehen, wie ein Beschluss, der noch nicht in Kraft ist, jetzt schon eine konjunkturelle Dämpfung hervorrufen kann“, sagte sie etwa am 12. November 2014 mit mildem Spott über die Kritik der Ökonomen am Mindestlohn, der dann zum 1. Januar 2015 in Kraft trat.[2]

Mit zunehmender Amtszeit wuchs ihre Achtung vor Beratern aber wieder – auch weil ihr neue Themen wie die Digitalisierung zeigten, wie wenig die Politik, aber auch die Ministerien auf neue, sich schnell wandelnde Herausforderungen vorbereitet sind. Deshalb müsse man eben zugeben, dass man viel flachere Hierarchien brauche und „dass wir auch zugeben, dass wir Ratgeber brauchen“. Die finde man nicht immer in der Verwaltung, wie sie Kritik zurück. „Jedes Mal, wenn wir uns Berater von irgendwoher holen, heißt es: Die Regierung hat wieder outgesourct und hat sich irgendwie von der Wirtschaft abhängig gemacht. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Wir werden es nicht anders machen können. Ansonsten sind wir Ignoranten“, betonte sie. Die Politik brauche die Weiterbildung durch Menschen, die in der Digitalisierung arbeiten und die neue Erkenntnisse hätten.[3]

  • [1] Vgl. LeMaire, Zeiten der Macht, S. 275.
  • [2] Merkel-Statement bei der Entgegennahme des Berichts des Sachverständigenrates, 12. November 2014.
  • [3] Rede beim Wirtschaftsgipfel der Süddeutschen Zeitung in Berlin, 13. November 2018.

Betreuungsgeld

In der öffentlichen Wahrnehmung wurde das Betreuungsgeld für junge Familien, die Kinder nicht in einen Kindergarten schicken, politisch vor allem der CSU zugeordnet. Aber auch Merkel verteidigte das Betreuungsgeld aus sehr grundsätzlichen Überlegungen, selbst wenn sie es nicht gerade als Priorität angesehen hatte. Sie argumentierte mit dem nötigen Vertrauen des Staates in Familien und Menschen, sowohl was Geld als auch die Entscheidung angeht, wo ein Kind betreut werden soll. Zu den Zweifeln, ob Familien das Geld richtig nutzten, sagte sie: „Ich weiß, dass das manche nicht können, mit Geld umgehen. Dann muss ich aber alle Kraft daran setzen, dass sie es lernen, aber nicht alle so behandeln, als wenn es überhaupt keiner mehr kann.“[1]

Bei wenigen anderen Themen argumentierte Merkel so grundsätzlich, dass die CDU immer vom Menschen her denke, nicht vom Kollektiv. „Denn wir richten nicht darüber, wie Menschen sich für ihr Leben entscheiden, weil wir ihnen etwas zutrauen. Das ist Wahlfreiheit im besten Sinne, ein wertkonservatives Anliegen“, betonte sie.[2] Die überwiegend negativen Kommentare in den Medien und den Hinweis, dass die Betreuung zu Hause die Integration von Kindern von Migranten möglicherweise behindere, registrierte sie, blieb aber bei dieser grundsätzlichen Abwägung.

  • [1] Merkel-Rede auf dem Landesparteitag der CDU Mecklenburg-Vorpommerns in Grimmen, 21. November 2009.
  • [2] Merkel-Interview, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. September 2010.

Bibel

Merkel gilt nicht als sprachgewaltige Rednerin, die ihre Ansprachen an die Bevölkerung oder die CDU-Anhänger etwa mit wuchtigen Bibelzitaten schmückt. Aufgewachsen in einem Pfarrershaushalt, kennt sie die Bibel aber überdurchschnittlich gut – und verweist immer wieder darauf, dass es in der Auseinandersetzung mit Rechtspopulisten über muslimische Einwanderer nicht schaden würde, zumindest die Grundlagen des eigenen christlichen Glaubens zu kennen. „Was würde passieren, wenn wir hier mal einen Aufsatz schreiben über Himmelfahrt und Pfingsten, wie das alles zusammenhängt und welche Bibelstellen man kennen sollte?“, fragte sie in einer CDU-Wahlveranstaltung im rheinland-pfälzischen Wittlich nur halb scherzhaft.[1]

Merkel hat früher etliche Male Bibelstellen auf Kirchentagen besprochen.[2] „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Und jeder, der heute vermeintlich stark ist, kann morgen schwach sein. Und jeder, der schwach ist, kann morgen wieder Anderen Kraft geben“, zitierte Merkel etwa aus dem Matthäus-Evangelium.[3] Als Bibel-Lieblingsstelle gab sie einmal aus dem 1. Brief von Paulus an die Thessalonicher den Spruch an: „Prüfet alles, bewahret das Gute, das Böse aber meidet.“[4] Und als der umstrittene Piratenpartei-Politiker Johannes Ponader sie nach einem Rat für den Fall fragte, dass er ihr Nachfolger als Bundeskanzler würde, antwortete sie: „Luthers Bibelübersetzung, Spruch 16,18: Wer zu Grunde gehen soll, der wird zuvor stolz; und Hochmut kommt vor den Fall.“[5]

  • [1] Merkel auf einer CDU-Wahlkampfveranstaltung im rheinland-pfälzischen Landtagswahlkampf in Wittlich am 23. Januar 2016.
  • [2] Beispiele sind etwa die Evangelischen Kirchentage in Hamburg 1995, Frankfurt 2001 und Hannover 2005, Merkel-Reden in Resing (Hg.), Angela Merkel. Daran glaube ich, Leipzig 2009, aktualisierte Ausgabe 2015.
  • [3] Rede vor dem Evangelischen Arbeitskreis der CDU in Berlin, 19. Juni 2015.
  • [4] Moritz von Uslar, 100 Fragen an Angela Merkel, Süddeutsche Zeitung Magazin, 8. Dezember 2000.
  • [5] Merkel im Süddeutsche Zeitung Magazin, 10. August 2012.

Bier

Merkel gehört zu den Weintrinkerinnen. Als erfahrene Politikerin weiß sie sich aber anzupassen. Bei Auftritten im Norden etwa ist sie auf Fotos eher mit einem Bierglas in der Hand zu sehen. Als Kanzlerin redete sie selbstverständlich bei der Feier zum 500. Geburtstag des Reinheitsgebotes in Ingolstadt – wo ihr ein „Kanzlerinnenbier“ gebraut wurde.[1] Auf dem G7-Treffen im bayerischen Elmau ließ sie sich ein Bier servieren, um mit US-Präsident Barack Obama auf dem eigens herausgeputzten Rathausplatz in Krün anzustoßen.

Abgesehen von einem Flaschen-Bier, das Merkel nach dem 4:0-Sieg der deutschen Fußballnationalmannschaft auf der WM in Südafrika 2010 in der dortigen Mannschaftskabine mit den Spielern trank, spielte sich eine andere bemerkenswerte Bier-Episode im mecklenburgischen Demmin an einem Aschermittwoch am 27. Februar 2012 ab. An diesem Tag war sie wie jedes Jahr als Gastrednerin in die Turnhalle des Ortes gekommen, um am gebremsten karnevalistischen Treiben ihres CDU-Landesverbandes teilzunehmen. Als sie sich zu ihren Parteifreunden setzte, stellte ihr der Kellner mit einer ausladenden Bewegung des rechten Arms ein Bier auf den Tisch – und verlor dabei die Balance über das Tablett in seiner linken Hand. Fünf Biere ergossen sich auf den Rücken der Kanzlerin. Aber ihr Zusammenzucken war noch kürzer als bei der Grabsch-Attacke (s. Grabschen) des damaligen US-Präsidenten George W. Bush. Nach zwei Schrecksekunden sprach Merkel mit ihren Sitznachbarn ungerührt weiter, als ob nichts gewesen wäre.[2]

  • [1] Vgl. Horst Richter, Die Bundeskanzlerin und das Bier, Donaukurier.de, 22. April 2016; Carsten Dierig, Aus für Ochsengalle im deutschen Bier, Welt, 23. April 2016.
  • [2] Welt, 27.2.2012, Link

Bildung (s. Lernen, Schulpolitik)

Merkel glänzte nach Angaben ihrer Biografen in allen Etappen ihrer Ausbildung mit ausgezeichneten Ergebnissen. Eine ehrgeizige, auf Leistung zielende Schulpolitik hat sie in ihrer Amtszeit immer gefordert. Kurz zusammengefasst lautet ihr bildungspolitisches Credo so: „Zu Beginn steht eine Reform des Bildungssystems, und zwar an Haupt und Gliedern. Leistungsanforderungen vom 1. Schuljahr an, Fremdsprachen in der Grundschule, Abitur nach 12 Jahren, Hochschulen, die ihre Studenten selbst auswählen können […]. Darlehen, Stipendien einerseits und Studiengebühren andererseits, die allerdings bei den Hochschulen verbleiben“, forderte sie 2003.[1] Als Kanzlerin hielt sie sich später mit solchen Festlegungen zurück, weil die Länder für die Bildungs- oder Hochschulpolitik zuständig sind. Merkel verwies aber wiederholt auf ihr Grundproblem, dass Bürger in Treffen ihren Unmut über schlechte Bildungspolitik der Länder bei ihr als Kanzlerin abladen würden – weil ihr die Gesamtzuständigkeit für Deutschland zugemessen wird, auch wenn dies in der Realität nicht der Fall ist.

[1] Rede der CDU-Vorsitzenden Merkel, Quo Vadis Deutschland, 1. Oktober 2003.

Blazer (s. Kleidung)

Kein Kleidungsstück ist so sehr mit der Person Merkel verbunden wie der Blazer. Im Kleid ist Merkel nur zu sehr festlichen Anlässen wie bei der Übergabe der Freiheitsmedaille im Rosengarten des Weißen Hauses in Washington im Juni 2011 oder bei den jährlichen Besuchen der Wagner-Festspiele in Bayreuth zu sehen. Ansonsten ist die Kanzlerin die Frau der Hosen, Hosenanzüge und Blazer. Wie viele Blazer Merkel genau besitzt, ist unbekannt – die Zahl der „aktiv“ getragenen dürfte jeweils um die 20 liegen. Meist sollen im Frühjahr neue dazukommen und alte aussortiert werden, heißt es. Scheu vor Farben hat Merkel dabei offensichtlich nicht: Über die Jahre ist das ganze Farbspektrum an ihr gesichtet worden. Auch in diesem Bereich gilt eher Schweigepflicht: Die Modedesignerin Anna von Griesheim, von der etwa ein apricotfarbenes Jäckchen stammte, plauderte in einem Interview offenbar zu viel aus.[1] Angesagt sind nun vor allem Blazer der Modermacherin Bettina Schönbach.

Zu ihrem 60. Geburtstag wurden Merkels Blazer nochmals systematisch in den Medien untersucht. Die Mode-Webseite Stylight sprach gar von einer „Liebesbeziehung“ und stellte fest, dass Merkels bevorzugte Blazer-Farbe Grün sei. Danach folgten in der Häufigkeit angeblich Schwarz und dann Blau, das Merkel besonders häufig aus Auslandsreisen wähle.[2]

Für die Fotografen auf jeden Fall wichtig: Weil es etwa auf den EU-Gipfeln so wenige weibliche Staats- und Regierungschefs gibt, ist Merkel mit ihren farblich auffälligen Blazern auch dann noch gut zu erkennen, wenn sie in der zweiten Reihe steht.

  • [1] Miriam Collée, Merkels Malkasten, Stern, Heft 1/2008.
  • [2] Link zu Stylight

Blockflöte

Als Merkel am 22. Oktober 2016 auf dem Landesparteitag der mecklenburg-vorpommerschen CDU in Wittenburg auftrat, mahnte sie ihre Parteifreunde, sich wieder christlicher Wurzeln und etwa der Tradition des Weihnachtslieder-Singens zu besinnen (s. christlich, Musik) Statt den Kindern „Tamtamtamm“ und „Schneeglöckchen, Weißröckchen“ vorzuspielen, riet Merkel: „Dann muss man eben mal ein paar Liederzettel kopieren oder einen, der noch Blockflöte spielen kann, mal bitten.“ Als die CDU-Delegierten lachten, betonte Merkel: „Ich mein‘ das ganz ehrlich, sonst geht uns ein Stück Heimat verloren.“[1] Ihre Blockflöten-Erwähnung fand aber auch deshalb starken Widerhall in den Medien, weil mit dem Begriff früher in der DDR auch Parteien wie die Ost-CDU bezeichnet worden waren.

[1] Merkel-Rede bei dem Parteitag der CDU Mecklenburg-Vorpommern in Wittenburg, 22. Oktober 2016.

Böhmermann, Jan

Name eines ZDF-Mitarbeiters und Satirikers. Böhmermanns Eintritt ins politische Leben von Angela Merkel begann am 31. März 2016 mit einem sogenannten Schmähgedicht auf den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, in dem diesem Sex mit Ziegen nachgesagt wurde. Merkel versuchte, den außenpolitischen Schaden dadurch zu begrenzen, dass sie den Text in einem Telefonat mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu zur Flüchtlingspolitik einige Tage später nach Angaben ihres Regierungssprechers als „bewusst verletzend“ bezeichnete.[1] Damit wollte sie deeskalierend wirken. Aber Erdoğan reichte dennoch eine Anzeige wegen Beleidigung bei der Staatsanwaltschaft Mainz ein und ließ über eine Verbalnote die Bundesregierung auffordern, die deutsche Justiz nach Paragraf 103 des Strafgesetzbuches zu Ermittlungen wegen Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhaupts zu ermächtigen.

Merkel erteilte diese Ermächtigung nach Abstimmung zwischen verschiedenen Ministerien und gegen die abweichende Meinung zweier SPD-Minister am 15. April 2016 – versehen mit dem Hinweis, dass sie damit nicht in der Sache Stellung nehme. Es solle vielmehr der in einem Rechtsstaat übliche Weg bei Meinungsverschiedenheiten beschritten werden, nämlich über die Klärung durch die Justiz. Gleichzeitig betonte sie die Bedeutung der Meinungsfreiheit und kündigte die Entscheidung der Bundesregierung an, den Paragrafen 103 noch in dieser Legislaturperiode aus dem Strafgesetzbuch zu streichen.[2]

Der Fall Böhmermann ist deshalb interessant für Merkel, weil er sie in ein Dilemma bei der Abwägung grundsätzlicher Prinzipien stürzte. Viele warfen ihr einen Kotau vor Erdoğan vor und stellten einen Zusammenhang mit dem EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen her. Merkel bestritt diesen Zusammenhang[3] und entschied sich gegen die in Umfragen wesentlich populärere Ablehnung der Ermächtigung. Auch intern argumentierte sie, dass es gerade angesichts des massiven Einflusses der Regierungen etwa in Russland, der Türkei, aber auch einiger europäischer Staaten auf Medien der bessere Weg sei, nicht die Politik entscheiden zu lassen, sondern die Gewaltenteilung zu betonen.

Merkel räumte aber ein, dass ihr öffentliches persönliches Urteil über das Böhmermann-Schmähgedicht ein Fehler gewesen sei (s. Fehler). Dies habe fälschlicherweise den Eindruck entstehen lassen, ihr seien Meinungs- und Pressfreiheit nicht mehr wichtig (s. Menschenrechte, Werte).[4] Dennoch reichte Böhmermann am 1. April 2019 eine Unterlassungsklage gegen die Kanzlerin ein, die allerdings gar nicht vorhatte, die Bemerkung nochmals zu wiederholen. Das Berliner Verwaltungsgericht wies die Klage am 16. April zurück.

  • [1] Regierungssprecher Steffen Seibert, Regierungspressekonferenz am 4. April 2016.
  • [2] Vgl. Merkel-Erklärung am 15. April 2016.
  • [3] Vgl. Merkel-Pressekonferenz mit dem mexikanischen Präsidenten Nieta, 12. April 2016.
  • [4] Merkel auf der Pressekonferenz mit dem Bremer Bürgermeister Carsten Sieling und der saarländischen Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer im Kanzleramt, 22. April 2016.

Brexit

Die britische Entscheidung zum Austritt aus der Europäischen Union ist aus Sicht Merkels ein ernster Einschnitt für die EU – und auch in ihrer Kanzlerschaft. Denn bis dahin hatte Merkel zehn Jahre lang als Kanzlerin stets für eine vertiefte EU-Integration gearbeitet. Seit dem 23. Juni 2016 empfindet sie ihre Hauptaufgabe jedoch darin, die EU überhaupt zusammenzuhalten.

Der Brexit-Prozess hat auch ihren zuvor großen Respekt vor dem Pragmatismus britischer Politiker leiden lassen. So nahm sie dem früheren britischen Premierminister David Cameron übel, dass er aus rein innerparteilichen Gründen das Brexit-Referendum angesetzt und dann in den Sand gesetzt hatte. (s. Cameron) Mit seiner Nachfolgerin Theresa May (s. May) pflegt sie ebenfalls engen Kontakt – ist aber über die absolute Dominanz innenpolitischen und innerparteilichen Denkens bei May ebenfalls ernüchtert.

Die Brexit-Debatten haben zum einen eine harte Haltung gegenüber allen britischen Versuchen bewirkt, vor dem Einreichen eines formellen Austrittsantrages bei der EU mit Berlin zu verhandeln. Zum anderen mahnte Merkel immer deutlicher auch die deutschen Wirtschaftsunternehmen, dass sie sich mit der britischen Regierung nicht auf Sonderdeals einlassen sollten. „Ich bitte Sie, wirklich nicht aus kurzfristigen Opportunitätsgründen zu schnell von dem abzuweichen, dass wir als grundlegend richtige und erfolgreiche Prinzipien immer und immer wieder erkannt haben“, mahnte sie. Was alle verstanden: Der Zusammenhalt des EU-Binnenmarktes sei wichtiger als der Zugang zum wesentlich kleineren britischen Markt.[1]

Merkel forderte gleichzeitig immer wieder Geduld im Umgang mit der britischen Regierung, pochte aber auf gegebene Zusagen. Nachdem die britische Premierministerin Theresa May im Dezember 2018 allerdings die Unterhaus-Abstimmung über das ausgehandelte Austrittsabkommen und die politische Erklärung über das zukünftigte Verhältnis verschoben hatte, wuchs auch bei ihr die Ungeduld. Am 13. Dezember einigten sich die 27 übrigen EU-Regierungschefs zwar auf politische Zusicherungen, dass sie die umstrittene – und der britische Regierung selbst ausgehandelte – Backstop-Klausel für Nordirland nur im äußersten Notfall und nur für die Zeit bis zur Einigung auf ein endgültiges Dokument über die Beziehungen des Königreiches mit der EU ziehen wolle.

Aber als Merkel danach wieder gefragt wurde, warum die EU denn keine „rechtlichen“ Sicherheiten geben wolle, sagte sie: „Was das Dokument anbelangt, so sind es Schlussfolgerungen. Es hat den Charakter von Schlussfolgerungen. Das ist also nicht irgendein Zettelchen, sondern das sind Schlussfolgerungen der 27.“ Zudem machte sie klar, dass für das Abwenden des Backstops – also einer Art Zollunion des britischen Nordirlands mit dem EU-Mitglied Irland auch die konstruktive Zusammenarbeit und Kompromissfähigkeit der Briten nötig sei.[2]

Als May mit der Ratifizierung des von ihr ausgehandelten Austrittsabkommen am 15. Januar im Unterhaus scheiterte, bezog Merkel in Übereinstimmung mit EU-Unterhändler Michel Barnier eine klare Position. „Wir haben noch zeit zu verhandeln. Aber wir warten jetzt auf das, was die britische Premierministerin vorschlägt“, sagte sie.[3] Man wolle alles tun, um den Schaden des britischen Austritts so klein wie möglich zu halten.

Merkel bewegt der Brexit sehr stark, auch wenn sie dies nach außen in dem Pokerspiel mit London nicht sichtbar werden lassen will. Aber sie deutet immer wieder an, dass der britischen Austritt nicht nur das Königreich, sondern auch die EU-27 und das weltweite Ansehen Europas massiv schwäche – und das in einer Zeit, in der ohnehin weltweit nationalistische, anti-liberale Kräfte im Aufwind seien. Europa sei zudem auf die enge Zusammenarbeit mit den Briten als größte europäische Militärmacht angewiesen.

„Wir haben uns diesen Austritt nie gewünscht, aber wenn er stattfindet, wollen wir zwei Dinge erreichen: erstens einen geordneten Austritt und zweitens gute, freundschaftliche, enge, partnerschaftliche Beziehungen auch in Zukunft; denn uns vereint vieles“, betonte sie deshalb.[4]

Merkel setzte sich – anders als Frankreichs Präsident Macron – energisch und erfolgreich dafür ein, dass das Austrittsdatum vom 31. März auf den 31. Oktober verschoben wurde, weil es der britischen Regierung nicht gelang, im Unterhaus eine Mehrheit für das ausgehandelte Austrittsabkommen zu erhalten. Als im Juli mit dem Wechsel des Premierministers eine erneute Verschiebung diskutiert wurde, sagte sie erneut: „Wenn Großbritannien noch mehr Zeit braucht, dann wollen wir diese Zeit geben.“ Zugleich zerstörte sie die Hoffnungen der britischen Konservativen, dass das EU-Austrittsabkommen mit Großbritannien nochmals neu verhandeln und auf die sogenannten Backstop-Regelung an der nordirisch-irischen Grenze verzichten könne. Man könne nur im Rahmen der Definition der zukünftigen Beziehungen versuchen, das Thema zu entschärfen. „Da sehe ich den Spielraum“, betonte Merkel. [5]

  • [1] Merkel bei der IHK Köln, 16. Januar 2017. Ähnlich hart äußerte sie sich beim Deutschen Beamtenbund, 9. Januar 2017.
  • [2] Auf der Pressekonferenz nach Ende des EU-Gipfels in Brüssel, 14. Dezember 2018.
  • [3] Merkel in einem Statement in Berlin, 16. Januar 2019.
  • [4] Bei einem Auftritt mit dem dänischen Ministerpräsidenten Lars Lokke Rasmussen in Berlin, 20. November 2018.
  • [5] Sommerpressekonferenz in Berlin, 19. Juli 2019.

Bücher

Selten hat Angela Merkel eine Lektüre derart oft in ihrer politischen Arbeit erwähnt wie Christopher Clarks Die Schlafwandler. In diesem wird die These vertreten, dass die europäischen Mächte auch wegen mangelnder Kommunikation untereinander in den Ersten Weltkrieg trieben. Merkel nutzte den Hinweis auf das Buch als Warnung etwa im Ukraine-Russland-Konflikt.

Die Schlafwandler ist ebenso wie 2018 das Buch von Herfried Münkler zum 400. Jahrestag des Ausbruchs des Dreißigjährigen Krieges ein Beispiel dafür, dass Merkel ständig Einflüsse, Ideen und Anregungen von außen aufgreift – und diese in ihrer Politik mitverarbeitet. Bücher gehören dazu. Dabei liest sie weniger Biographien früherer Politiker, sondern eher historische Bücher, etwa von Fritz Stern oder Heinrich August Winkler[1] – auch wenn sie die Erinnerungen von Konrad Adenauer noch in frühen Politikerinnen-Jahren gelesen hat. Noch zu DDR-Zeiten habe sie die Werke des DDR-Systemkritikers Rudolf Bahro „verschlungen“, dessen Analyse faszinierend, die Schlussfolgerungen aber abwegig gefunden.[2] Wichtig waren ihr aber auch „Kassandra“ und „Kindheitsmuster" von Christa Wolf, auch wenn sie deren Glaube an die Reformierbarkeit des Sozialismus nicht teilte.[3]

Wie westdeutsche Zeitgenossen las auch sie Heinrich Böll, dessen Satiren in Dr. Murkes gesammeltes Schweigen sie mag, [4] und für dessen Ansichten eines Clowns sie in der DDR eine gesonderte Leseerlaubnis brauchte.[5] Und als ihren liebsten Romanhelden nannte sie Robinson Crusoe.[6] Als Mädchen mochte sie nach eigenen Angaben am liebsten „Max und Moritz“ und „Emil und die Detektive“.[7] Als Lieblingsbücher wurden auf ihrer Facebook-Seite die von Leo Tolstoi und Fjodor Dostojewski genannt.[8]

Generell liest Merkel aber weniger Belletristik, mehr Sachbücher. Aus der über die Jahre bekannt gewordenen Lektüre lässt sich ein wenig ablesen, wofür sie sich interessiert: Zu den gelesenen Büchern gehörte etwa „Kultur der Freiheit“ des früheren Verfassungsrichters Udo di Fabio, [9] ein Gesprächsband des späteren Papst Franziskus mit einem jüdischen Rabbiner über das Leben[10] und ein Buch von Kardinal Kasper über Barmherzigkeit.[11] Weil ihr auch durch die NSA-Affäre die Brisanz des Themas Digitalisierung klar wurde, las sie zudem Bücher wie Second Maschine Age von Erik Brynjolfsson oder Die granulare Gesellschaft von Christoph Kucklick. Zudem beschäftigte sie sich immer wieder mit Biografien. Von Barack Obamas Autobiografie war sie ebenso beeindruckt wie von der des in der NS-Zeit als „entartet“ eingestuften Malers Emil Nolde – dessen Bilder allerdings 2019 nach neuerlichen Vorwürfen zu antisemitischen Äußerungen und seiner umstrittenen Rolle in der NS-Zeit aus ihrem Büro verschwanden.[12]

Im Sommer 2018 las sie das Buch Factfulness des verstorbenen schwedischen Arztes Hans Rosling, in dem dieser tradierte Denk- und Erwartungsgewohnheiten sowie den vorherrschenden Hang zum Negativismus auf die Probe stellt. Später erzählte sie Gesprächpartnern etwa aus der Wirtschaftsdelegation auf ihrer Westafrika-Reise im August 2018 immer wieder, wie faszinierend sie die Thesen Roslings fand. Beschäftigt hat sie sich auch mit dem Buch „Wer wir sind: Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein“, von Wolfgang Engler und Jana Hensel.

2019 setzte sie wieder ein Zeichen, als sie im Urlaub „Der Tyrann“ von Stephen Greenblatt las. Das beschreibt zwar die politischen Machtkämpfe zu Zeiten William Shakespeares im 16., Anfang des 17. Jahrhunderts. Aber das Buch wird auch als Analyse von Trumps Regierungsstil beschrieben – ohne dass der US-Präsident auch nur einmal beim Namen zu nennen.[13]

Zur Entspannung greift Merkel nach eigenen Angaben zu Krimis und hat auch Michelle Obamas Gardening Book gelesen.[14] Im Sommer 2017 las sie innerhalb von zwei Tagen ein Buch von Julian Barnes (Der Lärm der Zeit) über das Leben des sowjetischen Komponisten Dmitri Schostakowitsch und dessen Ringen, in einem totalitären System Künstler zu sein.[15] Dazu kam ein Thriller von Richard Harris.[16]

Dabei genießt Merkel nach eigenen Angaben das Eintauchen in eine andere Welt. „Ich finde es wunderbar, immer mal wieder in ein Buch einzutauchen, also dass man etwas liest und dann alles andere drum herum auch vergisst, weil das eine eigene Welt ist in diesem Buch“, bekannte sie im August 2017.[17]

Ihren Respekt für Bücher drückt Merkel auch anders aus: Sie selbst hat zwei Bücher geschrieben bzw. herausgegeben. Zudem stellte sie etwa das Werk des früheren hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (Konservativ) vor, ebenso die Gerhard-Schröder-Biografie von Gregor Schöllgen, die Philipp-Rösler-Biografie von Michael Bröcker und zusammen mit dem polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk das Buch von Stefan Kornelius über ihre Außenpolitik. Im März 2017 übernahm sie zudem die Präsentation eines Buches der FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.

Übrigens zeigte sie schon als Schülerin einen Hang zu Effizienz: „Als wir früher einmal dicke Bücher lesen mussten, haben wir uns auch mal eines geteilt. Der Eine hat die erste Hälfte gelesen, der Andere die zweite“, erzählte sie im September 2017. Vor dem Unterricht habe man dann das Wissen zusammengeworfen.[18]

  • [1] Merkel in „Handelsblatt“-Veranstaltung in Berlin am 23. August 2017.
  • [2] Stock, Angela Merkel, S. 19.
  • [3] Merkel im Gaus-Interview, 1991
  • [4] Merkel-Interview, Süddeutsche Zeitung, 14. April 2007.
  • [5] Moritz von Uslar, 100 Fragen an Angela Merkel, Süddeutsche Zeitung Magazin, 8. Dezember 2000.
  • [6] Merkel-Antwort in einem Fragebogen der „Rheinischen Post“, 2. September 2017.
  • [7] Merkel beim Projekt „Bücherturm“ von mehr als 1000 Kindern in Stralsund, 8. September 2017.
  • [8] Information auf ihrer am 1. Februar 2019 geschlossenen Facebook-Seite.
  • [9] Interview, Welt, 13. März 2006.
  • [10] Interview, Deutschlandfunk/Phoenix, 14. August 2013.
  • [11] Merkel im Handelsblatt-Gespräch, 23. April 2013.
  • [12] Susanna Hurst, 30. April 2014, http://blog.staedelmuseum.de/emil-nolde-liebling-der-bundeskanzler.
  • [13] Nach Bild-Zeitung, der ein Foto der Lektüre am Urlaubsort in Südtirol vorlag, 1. August 2019.
  • [14] Interview, Bunte, 25. Juli 2013.
  • [15] Bei einer „Handelsblatt“-Veranstaltung in Berlin, 23. August 2017.
  • [16] Merkel beim Projekt „Bücherturm“ vor mehr als 1000 Grundschülern in Stralsund, 8. September 2017, s. Ostsee-Zeitung.de, 8. September 2017.
  • [17] „Handelsblatt“-Veranstaltung in Berlin, am 23. August 2017.
  • [18] Beim Projekt „Bücherturm“ vor mehr als 1000 Grundschülern in Stralsund, 8. September 2017, Ostsee-Zeitung.de, 8. September 2017.

Bundesländer

Merkel kam nicht über die Zwischenstation als Ministerpräsident eines Bundeslandes ins Kanzleramt wie Kohl und Schröder, sondern ist als Außenseiterin in die Bundespolitik gesprungen. Sie hat also seit Jahrzehnten vor allem die Argumente der Bundesebene aufgesogen – was aber nicht heißt, dass sie kein Bewusstsein für regionale Bedürfnisse hätte. Dafür sorgt schon ihr Wahlkreis in Mecklenburg-Vorpommern, zu dem auch die Insel Rügen gehört. Dass Merkel durchaus auch Regionalpolitik (s. Regionalpolitik) betreibt, wurde in der Gesundheits- und Energiepolitik sichtbar. Mit den Ministerpräsidenten arbeitete sie beispielsweise bei der Energiewende, dem Kohleausstieg, der Reform des Länderfinanzausgleichs und vor allem bei Migrationsthemen nach der Flüchtlingskrise 2015 eng zusammen.

Vor allem bei der Bildung (s. Bildung) muss sich Merkel immer wieder mit Frage beschäftigen, ob die Zuständigkeiten im deutschen Föderalismus nicht neu sortiert werden müssten. Obwohl sie als Bundeskanzlerin zwar auch für Versäumnisse der zuständigen Länder in der Schulpolitik verantwortlich gemacht wird, nimmt sie diese oft in Schutz – manchmal augenzwinkernd: „Wenn man das Richtige nur an manchen Stellen in Deutschland lernt und an anderen weniger, dann ist das nicht gut. Wenn aber etwas Falsches gelehrt wird, dann ist es manchmal ganz gut, dass das nicht gleich alle Kinder in Deutschland betrifft, sondern nur manche. So erkläre ich mir immer die in der Tat sehr schwierige Kulturhoheit und die Frage, warum wir im Bund nicht über die Schulen sprechen sollen“, sagte sie.[1]

Den Bund sah sie aber auch in einer Vorbildfunktion für die Länder – etwa bei der Einhaltung der Schuldenbremse. (s. Schwarze Null).[2]

  • [1] Merkel-Rede auf dem Digital-Gipfel der Bundesregierung in Nürnberg, 4. Dezember 2018.
  • [2] Sommerpressekonferenz in Berlin, 19. Juli 2019.

Bundespräsident (s. Personalentscheidungen)

Merkels Umgang mit dem Thema „Bundespräsident“ hat ihr Probleme bereitet und gleichzeitig einige scheinbare Gewissheiten des Berliner Politikbetriebes zerstört. In den Medien wird die Auswahl der Bundespräsidenten traditionell als Machtprobe zwischen den Parteien gewertet, als „wahres Abbild“ der Macht, weil der Präsident von der Bundesversammlung gewählt wird, die die Gesamt-Mehrheitsverhältnisse in Bundestag und den Bundesländern abbildet. Niederlagen konnte Merkel dennoch ohne Auswirkungen wegstecken.

Die Beschäftigung mit der Bundespräsidentenwahl fing für die Oppositionsführerin im Frühjahr 2004 sehr gut an: Als Überraschungskandidat präsentierte die CDU-Vorsitzende für die Union den Direktor beim Internationalen Währungsfonds (IWF), Horst Köhler – und setzte ihn mit knapper Mehrheit in der Bundesversammlung durch. Dies wurde als Triumph Merkels gegen den amtierenden Bundeskanzler Gerhard Schröder interpretiert. Allerdings fremdelte Köhler zwar nicht mit dem Amt, aber sehr wohl mit dem Berliner Politikbetrieb. 2010 trat er zurück, auch weil er sich von der Union nicht ausreichend unterstützt fand.

Danach folgte eine schwierige Debatte, wen CDU und CSU ins Rennen schicken sollten: Am Ende war dies der CDU-Vize und niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff, der aber erst im dritten Wahlgang gewählt wurde – was als Blamage für Merkel galt. Dumm für sie: Auch Wulff trat 2012 nach einer wochenlangen Auseinandersetzung um angebliche Vorteilsnahme in seiner Zeit als Ministerpräsident zurück.

Danach scheiterte Merkel im dritten Anlauf schon bei der Kandidatenauswahl. Denn der damalige FDP-Chef und Koalitionspartner Philipp Rösler machte sich für den ostdeutschen Theologen Joachim Gauck stark, der bereits 2010 als Kandidat von SPD und Grünen angetreten war. Weil die Kanzlerin merkte, dass sie ein Kräftemessen nicht gewinnen konnte, stellte sich dann auch die Union hinter Gauck, der mit großer überparteilicher Mehrheit im ersten Wahlgang gewählt wurde.

Das Verhältnis zwischen den beiden Ostdeutschen Gauck und Merkel galt in dessen Amtszeit als weitgehend gut, man traf sich alle paar Wochen zu einem vertraulichen Gespräch. Weil er nicht für eine zweite Amtszeit kandidierte, stand Merkel im Februar 2017 vor der vierten Präsidenten-Wahl als CDU-Parteivorsitzende – und wieder musste sie sich bei der Suche nach einem Kandidaten anderen Parteien geschlagen geben.

Am 16. November 2016 präsentierte Merkel zusammen mit dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel und CSU-Chef Horst Seehofer den damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) als gemeinsamen Kandidaten. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hatte zuvor betont, er stehe nicht zur Verfügung – und Seehofer verhinderte schwarz-grüne Kandidaten. Erneut wurde Merkel danach innerhalb der CDU vorgeworfen, sie hätte dennoch einen Unions-Politiker finden müssen. CDU und CSU verfügten allerdings in der Bundesversammlung nicht über eine eigene Mehrheit. Merkel selbst nannte den von ihr geschätzten Steinmeier (s. Steinmeier) „den richtigen Kandidaten in dieser Zeit“.

Eine entscheidende Rolle spielte Steinmeier nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen Ende 2017. Denn der frühere SPD-Chef galt als Schlüsselfigur, um die Sozialdemokraten davon zu überzeugen, entgegen ihrer Wahlkampfaussage doch einen erneuten Anlauf für eine große Koalition zu übernehmen. Damit sicherte er im Interesse der Stabilität Deutschlands auch die Macht Merkels und ermöglichte ihr eine vierte Kanzlerschaft.

Bundespressekonferenz (s. Medien)

Die sommerlichen Auftritte der Kanzlerin in der Bundespressekonferenz gehören zu den Fixpunkten im Kalender der politischen Journalisten in Berlin. Am 20. Juli 2018 absolvierte sie ihren 23. Auftritt als Gast der Hauptstadtpresse. „Gut, dass einer mitzählt. Das hätte ich jetzt nicht gewusst“, scherzte sie auf einen entsprechenden Hinweis des Gastgebers.[1] Üblicherweise leitet sie rund fünf bis zehn Minuten ein, dann hagelt es Fragen zu allen möglichen Themen. Normalerweise bringt Merkel rund 90 Minuten Zeit mit.

Die Auswahl darüber, wer von den sehr vielen sich meldenden Journalisten fragen kann, trifft der jeweilige Vertreter der Bundespressekonferenz – also ein Journalist. Was gefragt werden soll, wissen weder die Kanzlerin (wie auch bei anderen Pressekonferenzen) noch der Vertreter der Bundespressekonferenz.

[1] Merkel in der Sommerpressekonferenz in der Bundespressekonferenz, 20. Juli 2018.

Bundestag

Merkels Karriere als Bundestagsabgeordnete begann 1990 sehr ungewöhnlich – sie wurde bereits wenige Wochen später Bundesministerin. Der traditionelle Weg, sich über jahrelange Partei- und Parlamentsarbeit hochzudienen, blieb ihr also erspart. Von ihren bis Anfang 2019 28 Jahren im Parlament war sie insgesamt 20 Jahre in Regierungsverantwortung, was ihr Denken geprägt hat. Sie lernte von Beginn an eher die Bedürfnisse der exekutiven Seite der Politik kennen – auch wenn Merkel immer wieder in ihrer Karriere darauf verwies, dass sie ja auch Abgeordnete sei.

In der Zeit der Euro-Rettungspakete musste sich der Bundestag gegen ihre Regierung Zustimmungs- und Informationsrechte erkämpfen.[1]108 Denn die Kanzlerin hält zwar ein starkes Parlament für wichtig, plädierte aber mit Blick auf EU-Verhandlungen dafür, ihren Spielraum nicht unnötig einzuengen. Den Verweis auf die nötige Zustimmung des Bundestages nutzte die Kanzlerin umgekehrt aber auch als Druckmittel in ihren Gesprächen mit den EU-Partnern. Allerdings musste sie nur während der schwarz-gelben Koalition wirklich um knappe Mehrheiten von Union und FDP kämpfen, in den beiden großen Koalitionen war dies nicht nötig. Dennoch muss Merkel darauf achten, dass die Stimmung in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht gegen sie kippt, weshalb sie bei jeder Fraktionssitzung anwesend sein will.

Nicht alle Entscheidungen des Parlaments findet sie weise, hält sich aber mit öffentlicher Kritik zurück. Das betraf etwa die Genozid-Abstimmung zur Ermordung der Armenier im Osmanischen Reich 1915 am 2. Juni 2016, die just mit der Umsetzung des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens zusammenfiel. Allerdings nahm die Bundestagsspitze gerade in diesem Fall auch Rücksicht auf die Exekutive: Die Genozid-Abstimmung wurde zeitlich so angesetzt, dass die Spitzen der Regierung, die mit der Türkei intensiv verhandeln müssen – also Merkel und Vizekanzler Sigmar Gabriel, aber auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier –, entschuldigt fehlen konnten. Als Parteipolitikerin und Parlamentarierin hatte Merkel die Resolution aber zuvor in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt.[2]

  • [1] Vgl. Lammert kritisiert Merkel, n-tv.de, 16. April 2011.
  • [2] Vgl. Merkel unterstützt Armenien-Resolution, faz.net, 1. Juni 2016.

Bürger

Gerade weil sie als ostdeutsche „Außenseiterin“ in der CDU keine gewachsene Machtbasis hat, wird Merkel von Mitarbeitern schon mal als „Erdmännchen“ bezeichnet – weil sie ständig in alle Richtungen umherschaue, um Gefahren zu wittern. Direkter Kontakt mit der CDU-Basis und mit Bürgern ist ihr schon deshalb wichtig. (s. Bürgerdialog) Denn je länger sie Kanzlerin ist, desto größer ist die Gefahr einer Abschottung und ein Verkümmern ihres Sensoriums für Veränderungswünsche (s. Berater, Basis). Merkel will hören, was die Leute denken. Im Jahr 2012 hat sie daher ein Instrument vom damaligen Bundespräsident Christian Wulff kopieren und perfektionieren lassen: den Bürgerdialog (s. Berater). In einer Reihe von Veranstaltungen diskutierte sie mit allen möglichen Gruppen, von Volkshochschullehrern bis Jugendlichen, in verschiedenen Regionen Deutschlands. Gleichzeitig ließ sie im Internet eine Ideenbörse dafür einrichten, um welche Themen sich die Regierung kümmern sollte.

Zwar fanden Forderungen wie die Legalisierung von Cannabis dann doch keinen Eingang in das Unions-Wahlprogramm für die Bundestagswahl 2013. Aber Merkel nutzte die Ergebnisse sowohl zur Erdung eigener Ansichten als auch zum Überdenken von Parteimeinungen. 2015 begann die Bundesregierung als Ganzes einen weiteren Bürgerdialog. „Gute Politik hat immer auf der Intelligenz und Lebenserfahrung der Bürger aufgebaut“, begründete Merkel dieses Verfahren.[1] „Der Bürgerdialog ist ja im Grunde darauf angelegt, dass Unerwartetes passiert“, erklärt dies Merkel später.[2]

Angenehmer Nebenaspekt: Dass sich die mächtigste Frau der Welt 60 oder 90 Minuten Zeit für solche Diskussionen nimmt, kommt in der Öffentlichkeit gut an, demonstriert Bodenhaftung. Deshalb widmet Merkel auch dem jährlichen Tag der offenen Tür viel Aufmerksamkeit, wenn sie im Kanzleramt Tausende Besucher empfängt. Auf Kritik an ihrer Politik reagiert sie bei solchen Veranstaltungen neben Erklärungen oft mit dem Hinweis, sie müsse eben zwischen unterschiedlichen Zielen „gewichten“ oder „abwägen“.

  • [1] Merkel-Interview, Bild am Sonntag, 29. Januar 2012.
  • [2] Zitiert nach Torsten Körner, Matthias Schmidt, Angela Merkel – die Unerwartete, MDR und Broadview TV, 2016

Büro

Merkel hat mehrere Büros. Das mit Abstand wichtigste Büro ist das der Regierungschefin im Kanzleramt. Als CDU-Chefin verfügte sie aber bis zum Ende ihrer Amtszeit an der Parteispitze auch über ein Büro im sechsten Stock des Konrad-Adenauer-Hauses, wo sie etwa Vorsitzende anderer konservativer europäischer Parteien der EVP-Familie empfing. Auf Parteitagen habe es hinter der Bühne noch ein mobiles Büro der CDU-Chefin – das sie am 7. Dezember in Hamburg sofort für ihre Nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer räumte. Dazu kommt ein Abgeordnetenbüro im Paul-Löbe-Haus, von dem auch die Arbeit im Wahlkreis organisiert wird – sowie ein Wahlkreisbüro in Stralsund (s. Wahlkreis).

Die meiste Zeit arbeitet sie aber im Kanzleramtsbüro, das über große Fenster mit zwei spektakulären Aussichten verfügt. Mit ausländischen Gästen tritt sie gerne auf den kleinen Balkon mit Ostblick, von dem man zum Reichstag mit seiner imposanten Kuppel hinüberschaut. Weil sich das Büro im siebten Stock befindet, kann sie im Hintergrund auch den Fernsehturm am Alexanderplatz sehen. Auf der Südseite blickt Merkel dagegen auf den Tiergarten und kann über die Bäume bis zum Potsdamer Platz schauen. „Mir gefällt der Blick aus meinem Büro schon recht gut“, meint sie selbst in typischer Merkel-Manier und gibt zu, dass sie die sehr großen Ausmaße des Zimmers besonders mag.

Weil das Büro kein wirklich privater Bereich ist, sondern sie dort auch offizielle Gäste (oder auch Journalisten für Interviews) empfängt, strotzt der Raum vor Symbolen. Viele Gegenstände in ihrem Büro haben eine politische Bedeutung: Das große dominante Gemälde hinter dem Schreibtisch stammt von Oskar Kokoschka und zeigt ein Porträt Konrad Adenauers, das sie somit als CDU-Kanzlerin ausweist – sie hatte es schon in ihrem Büro als Unions-Fraktionsvorsitzende hängen.[1] Ein großes Foto von Andreas Mühe zeigt die drei Organisatoren der deutschen Einheit – Helmut Kohl, Michail Gorbatschow und George Bush.

Auf dem Schreibtisch stehen ein Globus und ein kleines Porträt der russischen Zarin Katharina der Großen (s. Katharina), das 2005 ebenfalls aus ihrem Bundestagsbüro mit ins Kanzleramt umzog. Die deutsche und die EU-Flagge stehen daneben. An diesem Schreibtisch werden viele Telefonate mit internationalen Kollegen geführt – wenn es nicht in den abhörsicheren Raum des Kanzleramtes für sehr wichtige Gespräche geht. Weil sie die Größe des Schreibtisches „befremdlich“ findet, sitzt Merkel tagsüber aber eher an dem länglichen Tisch vor dem Fenster, wo sie auch Gäste für Interviews empfängt. Dort arbeitet sie neben der (angeblich meist offenen) Eingangstür – eher mit Blick auf ihr eigenes Büro und die üblichen Insignien der Macht als Kanzlerin.[2]

Die übergroßen hölzernen Schachfiguren auf der anderen Seite des Raums sind ein Geschenk der Arbeitsgemeinschaft deutscher Waldbesitzerverbände. Jahr für Jahr bekommt Merkel mindestens eine weitere Figur geschenkt: Anfang 2019 standen bereits 16 Spielfiguren in ihrem Büro, davon acht weiße (König, Dame, Turm, Springer, Läufer und drei Bauern) sowie acht schwarze (König, Dame, Turm, Springer, Läufer und drei Bauern). Zur Erinnerung: Ein Schachspiel besteht aus 32 Figuren – die Merkel bei diesem Rhythmus mit ihrem angekündigten Rückzug spätestens 2021 nicht mehr vervollständigen würde.

Von den vielen offiziellen Gastgeschenken (s. Gastgeschenke) hat sich Merkel zwei Goldschmiedearbeiten für ihr Büro ausgeliehen: Eine Oase in Miniaturformat, ein Geschenk des saudischen Königs aus dem Jahr 2007, sowie das Modell einer Karawane mit Jurte, ein Geschenk des mongolischen Ministerpräsidenten an die Kanzlerin 2011.

Über dem Besuchertisch hing über viele Jahre das Gemälde Blumengarten in Alsen von Emil Nolde (1915), einem der Lieblingsmaler Merkels. Dies passte zu den vielen Blumensträuße, die sich im Büro befinden. Über der Sitzecke gab es noch ein zweites Gemälde des norddeutschen Malers. Es war das Meeresbild Brecher (1936). Beides waren Leihgaben der „Stiftung Preußischer Kulturbesitz“. Als die Bilder im April 2019 abgehängt wurden, sorgte dies für Aufsehen. So wurde vermutet, dass dies damit zu tun habe, dass Nolde ein Antisemit und Nationalsozialist war, auch wenn er sich nach dem Krieg anders dargestellt hatte.[3] Merkel selbst nannte als Grund, dass der Chef der „Stiftung Preußischer Kulturbesitz“ sie gebeten habe, „Brecher“ für eine Ausstellung zur Verfügung zu stellen.[4] Allerdings: Sie gab auch das zweite Bild zurück, nach der Ausstellung kehren beide nicht zurück in ihr Büro. Stattdessen wurden ihr von der Stiftung zwei Bilder des Expressionisten Karl Schmidt-Rottluff angeboten – „Haus unter Bäumen" und „Häuser am Kanal". Doch offenbar, weil es auch antisemitische Äußerungen von Schmidt-Rottluff gab, entschied die Kanzlerin, „einstweilen die weiße Wand ohne ein neues Bild anstelle der Nolde-Bilder schön zu finden und es dabei zu belassen“.[5]

Später wurde bekannt, dass die Kanzlerin bereits 2014 von neuen Vorwürfen gegen Nolde wusste, ihr damals allerdings von der Nolde-Stiftung versichert wurde, dass es keine Bedenken gebe. Von Anfang 2015 datiert eine Notiz Merkels auf eine Leihanfrage der Nationalgalerie bezüglich des „Blumengartens“. „Ich sollte mich offen zeigen“, notierte die Kanzlerin mit der grünen Tinte der Chefin. „Allerdings möchte ich das Bild dann wiederhaben“. Auch im Frühjahr 2019 dauerte es nach neuen Hinweisen einige Wochen, bevor sich Kanzleramt und Kanzlerin entschieden, die Nolde-Bilder abzuhängen.[6]

Merkels Anfang im Amt war übrigens gar nicht so einfach: Als die neue Kanzlerin 2005 von Paris aus ihr neues Büro im Kanzleramt anrufen wollte, wusste sie die Nummer nicht und musste sich vom deutschen Botschafter helfen lassen.[7]

  • [1] Das Gemälde ist übrigens eine Leihgabe des Fundus des Bundestages; auch in ihrem Büro als CDU-Chefin hängt ein Bildnis Adenauers.
  • [2] Vgl. Roll, Kanzlerin, S. 374.
  • [3] S. Jürgen Kaube, Nachgeholte Deutschstunde, faz.net, 4. April 2019.
  • [4] Merkel bei einer Pressekonferenz in Dublin mit dem irischen Ministerpräsident Leo Varadkar auf eine entsprechende Frage, 4. April 2019.
  • [5] Mitteilung einer Regierungssprecherin, 9. April 2019; dazu auch: Ralf Schuler, Kahle Wände bei der Kanzlerin!, Bild, 10. April 2019.
  • [6] Nach Jost Müller-Neuhof, Die Kanzlerin und der Nazi-Künstler, Tagesspiegel, 6. August 2019.
  • [7] Merkel-Interview, Bild, 25. November 2005.

Bush, George W.

George W. Bush war der erste US-Präsident in ihrer Amtszeit – und ein politischer Glücksfall für Merkel. Denn der Texaner nahm die CDU-Chefin wegen seines Streits mit Schröder über den Irakkrieg 2003 mit offenen Armen auf und gewährte ihr Anfang 2006 gleich bei ihrem ersten Besuch als Kanzlerin ein dreistündiges Gespräch. Natürlich genoss sie dabei den Bonus, dass sie Bushs Widersacher Schröder besiegt hatte. Aber Merkel hatte direkt vor ihrer Reise in einem Interview klar gemacht, dass sie nicht als unkritischer Bush-Fan nach Washington reisen würde: So forderte sie die Schließung des umstrittenen Guantanamo-Gefängnisses für Terrorverdächtige.[1]

Da Merkel dem US-Präsidenten im persönlichen Gespräch zuvor mitgeteilt hatte, dass sie diese Forderung öffentlich erheben werde, blieben keine diplomatischen Schäden zurück. Auch nicht, als ihre Regierung dann den bereits zu rot-grünen Regierungszeiten in Guantanamo inhaftierten deutschen Staatsbürger Murat Kurnaz nach Deutschland zurückholte.

Bush und Merkel verstanden sich sehr gut, hatten ein fast kumpelhaftes Verhältnis, sie mochte seinen Humor. Berühmt wurden Bilder der Visite des Bush-Ehepaares in dem Dorf Trinswillerhagen zwischen Rostock und Stralsund, wohin Merkel und ihr Mann Joachim Sauer sie 2006 eingeladen hatten. Es gab gegrilltes Wildschwein am Spieß. Merkel wurde später mit ihrem Mann im November 2007 auf die Bush-Ranch in Crawford eingeladen – ein seltener Gunstbeweis. 2008 leistete sie Bush dennoch offen und erfolgreich Widerstand, als der US-Präsident der Ukraine und Georgien unbedingt den Weg in die Nato ebnen wollte. Die Videokonferenzen und Telefonate zwischen beiden wurden trotz Meinungsverschiedenheiten als oft sehr entspannt und lustig beschrieben.

Der US-Präsident seinerseits machte aus seiner Sympathie für Merkel keinen Hehl, auch mit seiner „Grabsch-Attacke“ auf dem G8-Gipfel in St. Petersburg (s. Grabschen). „Wenn ich mit Angela spreche, habe ich nicht das Gefühl, jetzt mit einer Frau zu sprechen. Das ist keine Kategorie. Nein, da sitzt ein starker Charakter, ein zuverlässiger Mensch vor mir, der klar denken kann und mit mir gemeinsame Strategien entwickeln kann“, sagte er.[2] Sie bekam von ihm unter anderem Cowboy-Stiefel mit ihren Initialen geschenkt, er als Klimawandel-Muffel von der „Klimakanzlerin“ ein Mountainbike (s. Gastgeschenke).

Zur Beisetzung seines Vaters George Bush reiste Merkel am 5. Dezember 2018 für einen Kurzbesuch nach Washington.

  • [1] Merkel im Spiegel-Interview, 9. Januar 2006.
  • [2] Bush in der ARD-Sendung Sabine Christiansen, 7. Mai 2006.

Bürokratie

Merkel hat die Zunahme bürokratischer Regeln als Problem bezeichnet und empfängt deshalb einmal im Jahr den Normenkontrollrat, der Vorschläge zum Abbau von bürokratischen Vorschriften machen soll. In ihrer Kanzlerschaft hat sie sich auch bei EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker dafür eingesetzt, dass in Brüssel Regeln abbaut. Merkel hat aber zugleich ein sehr realistisches Bild von der Dynamik und macht keineswegs abgehobene Beamte dafür verantwortlich. Oft sei gerade der Wunsch, eine Situation zu verbessern, der Grund, erklärte sie etwa dem Leiter eines Sportverein. Denn gutgemeinte Wünsche nach zusätzlichen Leistungen und Reformen brächten die Notwendigkeit von Prüfungen und Kontrollen. Vor allem die ehrenamtliche Hilfe vieler Deutsche für die Flüchtlinge hätte da Aufklärung gebracht: „Es ist vielen klar geworden, was wir uns auch selbst antun“, sagte sie.[1]

Zwei wichtige Initiativen gab es in ihrer Amtszeit. Zum einen wurde 2015 das Prinzip „one in, one out“ für nationale Gesetzgebung etabliert: Für jedes zusätzliche Gesetz muss danach eine bestehende Regelung gestrichen werden, um den bürokratischen Aufwand im Zaum zu halten. 2018 nahm man sich dann auf Druck des Normenkontrollrats auch die nationale Umsetzung von europäische Gesetzesakten vor, was das Gremium mit der zuständigen Runde der Staatssekretäre besprechen sollte. „Wenn Sie danach mit diesem Thema nicht wiederkommen, bin ich glücklich. Ich bin mir aber nicht sicher, dass Sie nicht wiederkommen“, scherzte Merkel.[2]

Zum anderen forcierte Merkel auch gegen den Widerstand etwa der Länder das digitale Bürgerportal. Die Grundidee dahinter ist, dass Bürger bei einer einzigen Adresse im Internet alle Anliegen mit staatlichen Behörden von der kommunalen bis zur nationalen Ebene regeln können sollen. Die Anregung dazu hatte Merkel vor allem bei ihren Kontakten mit Estland bekommen, das bei der Digitalisierung auch der Bürgerkontakte als europaweit vorbildlich gilt. „Der Föderalismus darf uns nicht davon abhalten, die Digitalisierung bürgerfreundlich durchzusetzen und umzusetzen. Deshalb ist auch mir dieses Gesetz sehr, sehr wichtig“, betonte sie.[3]

  • [1] Merkel vor ehrenamtlich Engagierten in Heidenheim, 11. Mai 2017.
  • [2] Merkel bei der Übergabe des Jahresbericht des Normenkontrollrates im Kanzleramt, 11. Oktober 2018.
  • [3] Bei der Übergabe des Jahresbericht des Normenkontrollrates im Kanzleramt, 11. Oktober 2018.