Beschleunigt Stress die Evolution?

Ein Dogmenbruch könnte zu neuen Wirkstoffen gegen Krebs und Infektionen führen. Von Andreas von Bubnoff

18 Minuten
Eine Hand hält eine Petrischale mit E.Coli-Bakterien.

23. März 2017

In Douglas Adams’ Kultklassiker Per Anhalter durch die Galaxis werden die Haggunenons of Vicissitus Three als eine der verunsichertsten und wütendsten Lebensformen der Galaxis beschrieben. Ihr Problem: Sie haben „ungeduldige Chromosomen“, die sich sofort der Umgebung anpassen. Sitzt ein Haggunenon zum Beispiel an einem Tisch und will Kaffee trinken, aber der Löffel ist zu weit weg, dann mutiert es „ohne auch nur einen Moment zu zögern, in ein Wesen mit weit längeren Armen, (…) das aber wahrscheinlich ziemlich unfähig ist, den Kaffee auch zu trinken.“ Dies, so Adams, erzeuge in den Haggunenons „eine schreckliche Unsicherheit und einen eifersüchtigen Groll auf alle stabileren Lebensformen.“

Susan M. Rosenberg, eine Molekularbiologin am renommierten Baylor College of Medicine im Texanischen Houston, zitiert Adams’ „köstlich schräge“ Geschichte in einem Forschungsartikel zur Rolle von Erbgutveränderungen in der Evolution als Beispiel dafür, wie Evolution, folgt man der klassischen Lehre des Neodarwinismus, gerade nicht funktioniert. Denn wie sich viele Leser sicher noch aus der Schule erinnern, erzeugen Organismen eben nicht einfach mal so schnelle Mutationen als Reaktion auf die Umwelt. Zwar gibt es Ausnahmen, wie etwa Mutationen, die von bestimmten Chemikalien oder Strahlung erzeugt werden; im allgemeinen aber sammeln sich Erbgutveränderungen, die das Rohmaterial für die natürliche Selektion bilden, langsam aber stetig in sich teilenden Zellen an, als Folge zufälliger Fehler beim Kopieren oder Reparieren des genetisches Materials. Die Umwelt spielt erst später bei der natürlichen Selektion eine Rolle, indem sie die am besten angepassten Mutanten auswählt.

Gestützt von mehr als zwei Jahrzehnten des Experimentierens am Bakterium E. coli und menschlichen Krebszellen ist Susan Rosenberg nun aber dabei, dieses zentrale Diktum der Evolutionslehre in Frage zu stellen. Rosenberg und einige andere Wissenschaftler – wie Robert H. Austin, ein Physiker der Princeton Universität – sagen, dass Organismen Mechanismen entwickelt haben, die sie in die Lage versetzen, ihre eigene Evolution in Zeiten hohen Stresses voranzutreiben. Stressige Umweltbedingungen könnten diesen Wissenschaftlern zufolge Mutationsraten in kurzer Zeit beschleunigen. Das könnte selbst in Zellen passieren, die sich nicht teilen, so dass diese sich rascher an neue Umweltbedingungen anpassen können. „Wir sollten damit aufhören, darauf zu bestehen, alle Erbgutveränderungen seien grundsätzlich zufällig und Evolution sei immer ein langsamer Prozess“, sagt Austin.

Max Delbrück auf einem Sessel mit einer Tasse in der Hand.
Der Genetiker und Biophysiker Max Delbrück forschte zunächst in Deutschland, dann in den USA.
Ein grüner Chip in Nahaufnahme.
Auf einem Siliziumchip simuliert Robert H. Austin, Physiker an der Princeton Universität, komplexe Umwelten.
Ein Bakterium unter dem Elektronenmikroskop
Das Bakterium E. coli, das beim Menschen Magen- und Darmkrankheiten auslöst und hier unter dem Elektronenmikroskop zu sehen ist, spielt in der Erforschung von Evolutionsmechanismen eine zentrale Rolle.
Portrait der Molekularbiologin Susan M. Rosenberg
Die Molekularbiologin Susan M. Rosenberg will Wirkstoffe entwickeln, die Resistenzen gar nicht erst entstehen lassen.