Wer rausgeht, muss auch wieder reinkommen

Ungarn, Katalonien und andere Verfassungsthemen der Woche von Maximilian Steinbeis

von Maximilian Steinbeis
4 Minuten
Beleuchtetes Exit-Schild auf schwarzem Hintergrund

Liebe Freunde des Verfassungsblogs,

Es wurde eine Menge rausgegangen in dieser Woche: Alice Weidel aus diversen Talkrunden und Interviews, Ungarn aus dem Kreis der EU-Mitgliedsstaaten, die sich der Jurisdiktion des EuGH unterwerfen, und Katalonien aus der Bindung an die spanische Verfassung. Rauszugehen, ob unter Tränen und Türenknallen oder kalt lächelnd und gemessenen Schrittes, ist eine Geste von großer kommunikativer Kraft: Sie okkupiert die Position des Vertriebenen, des Leidenden unter der Aggression des anderen, und zwar – das ist das Tolle daran – durch aktives Tun. Man räumt das Feld, überlässt es der anderen und entwertet diesen vermeintlichen Sieg zugleich. Man wird aktiv, aber sozusagen im Passiv. Der Gesprächsabbruch ist die Tat des Rausgegangenen, die andere steht da nur mit offenem Mund und geballten Fäusten, und trotzdem bleibt sie als Aggressor zurück, die den Rausgegangenen in die Flucht geschlagen, vernichtet, vergewaltigt hat. Und sie kann dagegen gar nichts mehr tun. Das hat Power, dieses Instrument, und wer in einer Ehe lebt, hat wahrscheinlich, mal aktiv, mal passiv, seine Wirkung kennen, schätzen und fürchten gelernt.

Diese Power scheint mir der maßgebliche Grund zu sein, warum das Urteil des EuGH in Sachen Flüchtlingsquoten in dieser Woche so viel Aufsehen erregt hat. Rechtlich gesehen ist ja streng genommen gar nicht allzu viel passiert: Die Kläger Ungarn und Slowakei waren vorher verpflichtet, Flüchtlinge aufzunehmen, und sie sind es jetzt halt weiter; der EuGH hat keinen Grund gesehen, diese Pflicht zu annullieren, und im Ernst hatte wohl auch kaum jemand etwas anderes erwartet. Auch politisch ist es nicht so, dass jetzt die Verteilung der flüchtlingspolitischen Verantwortung in Europa und die Hoffnung, dabei substanziell voran zu kommen, irgendeine dramatische Veränderung erfahren hätte. Zum Spektakel wird der Vorgang vor allem durch die passive Aggression Ungarns: „Vergewaltigung“ war das Wort, das dem ungarischen Außenminister zur Kennzeichnung des Urteils als passend erschien. Hier ist jemand unter großem Drama aus dem Raum gestürmt. Und wir sind es, die voller Wut (was war denn das jetzt?) und Angst (war es das jetzt?) zurückbleiben.

Wer rausgeht, muss auch wieder reinkommen, hat Herbert Wehner im Bundestag geflügelterweise mal gesagt. Auch Ungarn bleibt einstweilen als Mitglied der EU an seine europarechtlichen Pflichten, so wie sie der EuGH interpretiert, gebunden. Wenn es die missachtet, gibt es ein Vertragsverletzungsverfahren, und das ist in Sachen Flüchtlingsquoten ja bereits angelaufen. Am Ende wird Ungarn halt zu Strafzahlungen verurteilt, und wenn es die nicht zahlt, dann kann man sich überlegen, wie man die Schulden mit Forderungen z.B. nach Strukturfördermitteln verrechnet bekommt. Draußen vor der Tür, auch wenn die noch so doll geknallt hat, ist es kalt und ungemütlich, und wie die Briten gerade frieren, ist für jedermann sichtbar. Die Zurückgelassene braucht nur cool zu bleiben und zu warten. Wer rausgeht, muss auch wieder reinkommen. Und wenn doch nicht: dann vollzieht die Scheidung eh nur rechtlich nach, was tatsächlich längst geschieden ist.

Identitätsprobleme

Passive Aggression ist, wie jede Aggression, ein Mittel, sich seiner selbst zu vergewissern: Im Kampf, in der harten Linie zwischen sich selbst und dem anderen verschafft man seiner Identität Kontur und Festigkeit. Wie eng der Kampf gegen die Flüchtlingsquoten mit der nationalen Identitätspolitik der FIDESZ-Regierung verflochten ist, zeichnen ANITA ROZÁLIA NAGY-NÁDASDI und BARBARA KÖHALMI nach. MICHAL OVÁDEK untersucht indessen, wie der EuGH die europarechtliche Befugnis, Flüchtlingskrisen zu managen, auslegt und was daraus legislativ wie politisch folgt.

Beim Thema Rechtsstaat haben FIDESZ und ihre Gesinnungsgenossen in aller Welt oftmals ein Problem, bei den Menschenrechten auch – aber bei der Demokratie? Das scheint ihre stärkste Karte zu sein, legitimiert durch solide Mehrheiten und den vermeintlichen Volkswillen im Rücken. Warum das nicht so ist und auf welche Weise die pseudo-demokratische Idee vom einheitlichen Volkswillen die Verfassungsstaatlichkeit korrodiert, legt MATTIAS KUMM in einer unbedingt lesenswerten Analyse bloß.

Die katalanische Regierung hat erklärt, die Autorität des spanischen Verfassungsgerichts über Katalonien nicht länger anzuerkennen, nachdem dieses das geplante Unabhängigkeitsreferendum wie erwartet für verfassungswidrig erklärt hatte. Dass dieser Vorgang nicht nur Spanien, sondern die ganze EU in eine tiefe Krise stürzen kann, legt DANIEL SARMIENTO dar.

Anderswo

Zum Flüchtlingsquoten-Urteil des EuGH: STEVE PEERS nennt das Urteil einen Pyrrhus-Sieg, das die Spannung zwischen Legitimität und Effektivität im Europarecht scharf hervorhebt. HENRI LABAYLE lobt das Urteil als angemessen und ausgewogen und geht dabei unter anderem auch auf die robuste Entgegnung des Gerichts auf die Argumentation Polens ein, die Mitgliedsstaaten müssten ihre „ethnische Homogenität“ verteidigen können.

Der bereits erwähnte DANIEL SARMIENTO ist beunruhigt über die Dissonanz zwischen der Milde, mit der die EU ihre Befugnisse aus Art. 7 EUV gegenüber „Rogue States“ wie Polen und Ungarn auslegt, und der Härte, mit der sie auf einer rigiden Auslegung von Art. 50 EUV im Brexit-Fall besteht – obwohl beides doch zusammengehört (nach dem Motto: wenn du dich nicht korrekt verhältst, dann zahl oder geh). Eine Dissonanz, die uns – so Sarmiento – noch teuer zu stehen kommen könnte.

MIGUEL ANGEL PRESNO LINERA untersucht, ob das verfassungswidrige Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien der spanischen Regierung Anlass gibt, von ihren Befugnissen nach den nationalen Sicherheitsgesetzen Gebrauch zu machen: eher nicht.

CARLOS ARTURO VILLAGRÁN SANDOVAL entwirrt die Fäden in der gegenwärtigen Verfassungskrise in Guatemala.

ELISA ARCIONI und HELEN IRVING beschreiben die Hintergründe des aktuellen Skandals in Australien um sieben Parlamentsabgeordnete, die ohne ihr Wissen die Staatsbürgerschaft anderer Länder (neben ihrer australischen) besaßen, was sie nach geltendem Verfassungsrecht ihr Mandat kostet.

So viel für diese Woche. Ihnen alles Gute!

Max Steinbeis

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