Was gibt es am Recht zu empfinden?

von Maximilian Steinbeis
7 Minuten
Poträt eines jungen Mannes, der sich mit entgeistertem Blick in die langen Haare fasst.

Liebe Freunde des Verfassungsblogs,

Ich bin zurück am Schreibtisch, und zu den Dingen, die ich in diesem langen, heißen und ereignisreichen Sommer verpasst habe, gehört die Affäre Sami A. mitsamt der verfassungsrechtlich und -politisch hochbrisanten Frage, was passiert, wenn die Exekutive zur Judikative, die für einen islamistischen „Gefährder“ einen Abschiebestopp verhängt, einfach achselzuckend „Heul doch“ sagt. Dazu wurde schon viel Kluges gesagt und geschrieben, weshalb ich mich hier auf einen Zweig dieser Affäre konzentrieren will, den die FAZ ihn mit einem Interview mit Justizministerin Katharina Barley und einem Leitartikel von Reinhard Müller dankenswerter Weise bis in die vergangene Woche hinein verlängert hat: Muss die Justiz sich die Aufforderung gefallen lassen, sich bei der Rechtsfindung nicht allzu weit vom „Rechtsempfinden der Bevölkerung“ zu entfernen?

Das hatte NRW-Innenminister Herbert Reul gefordert und damit fürchterliche Prügel auf sich gezogen, bis hinauf zur Kanzlerin, und zwar im Wesentlichen aus zwei Gründen: Erstens darf nur Recht und Gesetz Maßstab richterlichen Urteilens sein und nicht das, was das Volk da draußen sich für schlimme Dinge wünscht, Todesstrafe und dergleichen. Und zweitens ist man vom „Rechtsempfinden der Bevölkerung“ schnell beim „gesunden Volksempfinden“ der Nazis, und das disqualifiziert diese Wortwahl schon von vornherein.

Beides ist natürlich nicht falsch. Aber der eigentliche Skandal scheint mir ein anderer zu sein. Problematisch, wenn nicht gar gefährlich macht diesen Appell nicht in erster Linie die Referenz auf das VOLKSempfinden. Sondern auf das VolksEMPFINDEN.

Darf die Bevölkerung eine kritische Meinung haben dazu, was rechtens ist und was das geltende Recht im Einzelfall besagt? Und sollte sich die Justiz für diese Meinung interessieren? Aber natürlich! Wie denn nicht? Wer glaubt denn noch, dass Recht und Gesetz irgendwo höherenorts verfasst und dem Volk zum billigen Gehorsam herabgereicht werde, als lebten wir noch in Zeiten des Obrigkeitsstaates? Recht und Gesetz sind in Textform gegossene kollektive Grundentscheidungen des demokratisch verfassten Volkes, die hinterher, wie jeder Text, der Interpretation offenstehen. Und dabei hat in der offenen Gesellschaft – hat tip an Peter Häberle – jede Bürger_in das gleiche Recht, sich als Interpret_in zu betätigen, ob Richter_in, Juraprofessor_in oder Klempnermeister_in. Nur muss dann halt, wer interpretiert, auch für seine Interpretation Verantwortung übernehmen. Es gibt gut und schlecht begründete Interpretationen. Wer interpretiert, macht sich angreifbar. Gibt sich Blößen. Setzt sich Kritik aus. Riskante Sache, die Rechtsinterpretation. Es hat schon seine Gründe, warum das die meisten lieber den Profis überlassen. Aber wer sich das zutraut? Na klar. Immer her damit. Wer bin ich, von vornherein auszuschließen, dass ich dabei etwas Neues und Interessantes erfahre?

Ganz anderes verhält es sich aber mit Empfindungen. Davon bitte ich mich mit Nachdruck zu verschonen. Was einer empfindet gegenüber dem Recht, das geht mich nichts an, das möge er/sie für sich behalten. Dass jemand angesichts der Abschiebung von Sami A. unschöne Gefühle erleidet, ist genauso dessen Privatsache wie die üble Empfindung, die jemand anderen angesichts seines Bleibens beschleichen mag. Das braucht mich genauso wenig zu interessieren wie die Richter_in, deren Job es ist, aus der Generalentscheidung des Gesetzes eine Einzelentscheidung über das Verbleiben von Sami A. herauszuinterpretieren.

Sich auf Empfindungen zu berufen, ist die Strategie derer, die auch ohne sich streiten zu müssen Recht behalten wollen. Bei Empfindungen hat es sich ausgestritten, die muss man unbesehen glauben, die kann einem niemand streitig machen. Deshalb verteidigt man sie nicht mit Worten, sondern mit Gewalt. Das ist das inhärent Autoritäre an der Rede vom Rechts- und Volksempfinden. Das ist, was den Nazis an dieser Formulierung so sehr einleuchtete und immer noch einleuchtet.

Wer die Rechten reden hört, bei Pegida-Demonstrationen und auf AfD-Kundgebungen, dem begegnet diese Strategie auf Schritt und Tritt: So empfinden wir das halt! Und wer uns kritisiert, der trampelt auf unserer Meinungs- Empfindungsfreiheit herum! Frechheit, dass das wieder mal keinen interessiert, was wir empfinden, wo wir doch das Volk sind! Das ganze Programm eben. Das ist es, was sich ein demokratischer Rechtsstaat vom Leibe halten muss. Am Recht gibt es viel zu streiten. Aber nichts zu empfinden.

Vollendete Tatsachen

Über den Sommer, als ich mit diesem Editorial pausiert habe, blieb der Verfassungsblog durchaus aktiv, und wir hatten selten Grund, uns über einen Mangel an Themen zu beklagen. Ich kann hier nicht vollständig nachtragen, was wir seit Ende Juli alles gepostet haben, und beschränke mich daher über die letzten Wochen hinaus auf nur einige Highlights.

Zunächst zu unserem Dauer-Brennpunktland Polen: Dort scheinen die PiS-Regierung und der seinerseits bereits zum Gehorsam gebrachte Nationale Justizrat vollendete Tatsachen schaffen zu wollen im Kampf um die Unterwerfung des Obersten Gerichtshofs, dem andauernden „Dialog“ mit der EU-Kommission und allem ohnmächtigen Prozess der polnischen Richterverbände, des Bürgerbeauftragten und der Zivilgesellschaft zum Trotz. Der Nationale Justizrat hat bereits eine Reihe von neuen Richter_innen für den Obersten Gerichtshof nominiert, die jetzt noch von Präsident Andrzej Duda ernannt werden müssen. Einen von ihnen kann Duda dann als neuen Präsidenten des Gerichtshofs ernennen, anstelle der amtierenden Präsidentin Małgorzata Gersdorf, die sich bislang noch unter Berufung auf ihre in der Verfassung verankerte 6-jährige Amtszeit ihrer vorzeitigen Zwangspensionierung widersetzt. Sind die neuen Richter_innen erst einmal in Amt und Würden, dann wird man sie nicht so leicht wieder los, auch wenn der Europäische Gerichtshof in Luxemburg später zu dem Schluss kommen sollte, dass der Eingriff in die Unabhängigkeit der Justiz mit EU-Recht nicht zu vereinbaren war. Ungarn hat diese Taktik bereits erfolgreich vorexerziert.

Der polnische Oberste Gerichtshof hatte Anfang August mit dem Mut der Verzweiflung selbst dem Europäischen Gerichtshof Fragen zur Unabhängigkeit der Justiz als EU-rechtliche Vorgabe vorgelegt, wie ROBERT GRZESZCZAK und IRENEUSZ KAROLEWSKI analysieren. Die große Frage ist dabei, ob der EuGH diese Frage als relevant zur Entscheidung des konkreten Verfahrens, in dem vorgelegt wurde, akzeptieren und somit die Vorlage für zulässig erachten wird, was sich nicht unbedingt von selbst versteht. STANISŁAW BIERNAT, der frühere Vizepräsident des polnischen Verfassungsgerichts, der die Härten der PiS-Justizpolitik am eigenen Leib erfahren hat wie kaum ein Zweiter, beschreibt gemeinsam mit MONIKA KAWCZYŃSKA, was es mit diesem Problem auf sich hat und wie es sich lösen ließe.

Indien wird von Leuten beherrscht, deren Hindu-Nationalismus vor nicht viel zurückschreckt, wie das jüngste Beispiel im nordöstlichen Bundesstaat Assam zeigt. Dort droht die Regierung in Delhi die muslimische Minderheit in die Staatenlosigkeit zu verbannen. CATHARINA CASPARI berichtet.

Deutschland wurde in diesem Sommer von einer der periodisch wiederkehrenden Diskussionen über eine allgemeine Dienstpflicht heimgesucht. TIM WIHL hat untersucht, wie eine solche Pflicht, sich für eine gewisse Zeit in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen, ausgestaltet sein müsste, damit sie verfassungs- und menschenrechtlich überhaupt geht.

Den Entwurf des deutschen Gesetzgebers, dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nachzukommen und eine dritte Option im Personenstandsrecht neben Männlich und Weiblich zu schaffen, hat sich GRIETJE BAARS genauer angeschaut und findet das Ergebnis überhaupt nicht zufriedenstellend.

In Frankreich hat unterdessen die Nationalversammlung einen Gesetzentwurf zur Verschärfung des Asylrechts beschlossen. CATHERINE HAGUENAU-MOIZARD untersucht, was drinsteht und welche verfassungsrechtlichen Fragen er aufwirft.

Das völkerrechtliche Problem der Seenotrettung von Flüchtlingen auf dem Mittelmeer gehört ebenfalls zu den viel diskutierten Themen dieses Sommers und wird wohl auch so schnell nicht aufhören, uns zu beschäftigen. NELE MATZ-LÜCK entwirrt die Fäden dieses völkerrechtlichen Fragenknäuels und kommt u.a. zu dem Schluss, dass jedenfalls die Praxis einiger italienischer Schiffe, Flüchtlinge nach Libyen zurückzuschieben, klar völkerrechtswidrig ist.

Über die prozessualen Versuche von Facebook, vor dem irischen Supreme Court die gerichtliche Überprüfung des EU-US-Datenschutzabkommens zu torpedieren – ein epischer Kampf mit immensen potenziellen Folgen –, berichtet ELAINE FAHEY.

Anderswo

MANUEL MÜLLER untersucht die Aussichten von neuen transnationalen Parteien, die bei der Europawahl nächstes Jahr antreten wollen.

PIERRE DE VOS versucht in der Debatte um eine Änderung der Verfassung von Südafrika zur Enteignung von (weißen) Großgrundbesitzern Öl auf die Wogen zu gießen.

OONA HATHAWAY dämpft die Hoffnung, US-Präsident Trump nach der Verurteilung bzw. Schuldig-Bekennung seiner Weggefährten Manafort und Cohen seines Amtes entheben zu können, selbst wenn ab Herbst die Demokraten das Repräsentantenhaus beherrschen.

MASAHIRO KUROSAKI erklärt, wie sich die verfassungsrechtlichen Einschränkungen nationaler Selbstverteidigung in Japan seit 2014 durch Reinterpretation der Verfassung verändert haben.

LAUREN AARONS ruft ihren Leser_innen die Rechtlosigkeit von Tausenden von Frauen in Nigeria und Irak ins Bewusstsein, die der Verbindung zu IS bzw. Boko Haram verdächtigt werden.

BÁRBARA MENDONÇA BERTOTTI blickt auf die seit 2016 in der Verfassung von Brasilien verankerte Deckelung der Staatsausgaben zurück und diskutiert Möglichkeiten, dieses sozial brutale und potenziell selbst verfassungswidrige Stück Verfassungsrecht wieder loszuwerden.

ANTON LOVIN untersucht, wie das neue Transplantationsgesetz in der Ukraine das Verbot des Organhandels durchlöchert und welche völkerrechtlichen Probleme das auslöst.

Das wär’s für diesmal. In eigener Sache gibt es zu berichten, dass unsere Redaktionsassistentin CARLA DIETMAIR sich neuen Ufern zuwenden will. Ihr Reiseziel, bevor sie nächstes Jahr ins Referendariat geht, ist die Republik Kolumbien, und ich hoffe sehr, dass Sie aus dieser spannenden Region auch mal den einen oder anderen Bericht für den Verfassungsblog absetzen wird. Wir verbleibenden Verfassungsblog-Redakteure jedenfalls danken Carla von Herzen und wünschen ihr viel Spaß und Erfolg! Gleichzeitig sind wir stolz und glücklich, dass SINTHIOU BUSZEWSKI sich bereit erklärt hat, unser Team von Associate Editors mit ihrer Kompetenz als Expertin für Völkerrecht und Menschenrechten zu verstärken. Herzlich Willkommen!

Ihnen alles Gute,

Ihr Max Steinbeis

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