Den Pudding haben und ihn essen

von Maximilian Steinbeis
6 Minuten

„Ich war’s nicht“, heult der kleine Jarosław. Sein Mund ist ganz verschmiert, und in der Hand hält er noch den Löffel. Dass er heimlich die Puddingschüssel leergegessen hat, bestreitet er mit der ganzen Leidenschaft und Empörung verfolgter Unschuld. Der Corpus Delicti, die leere Schüssel, ist nicht zur Hand, die hat er nämlich versteckt. Also gut, sagt er schließlich, als alles Heulen, Schreien und Zetern nichts hilft. Hier sei sein Kompromissangebot. Als Geste des guten Willens sei er bereit, die leergegessene Schüssel herauszurücken. Im Gegenzug erwarte er aber, dass die skandalösen Vorwürfe, er habe den Pudding aufgegessen, ein Ende haben.

So in etwa kommt mir vor, was von der polnischen Regierungspartei PiS in dieser Woche im Streit mit der EU-Kommission um die so genannte „Justizreform“ – i.e. die brutale Unterjochung der polnischen Justiz unter den von der PiS repräsentierten „Willen des Volkes“ – auf den Tisch gelegt wurde. Die bislang unveröffentlichten Urteile des Verfassungsgerichts sollen nun doch veröffentlicht werden. Außerdem soll Justizminister Zbigniew Ziobro nun nicht mehr ganz nach eigenem Gutdünken Gerichtspräsident_innen feuern können, sondern nur noch mit Zustimmung des Nationalen Justizrats. Und beim Pensionsalter soll nun nicht mehr zwischen Richtern und Richterinnen diskriminiert werden. Das soll die Kommission besänftigen, nachdem zuvor ein „Weißbuch“ voller mehr oder minder fadenscheiniger Rechtfertigungen diesen vorgeblichen Zweck eklatant verfehlt hatte und die von der Kommission gesetzte Frist, auf den Pfad der Rechtsstaatlichkeit zurückzukehren, ergebnislos verstrichen war.

Dass Ziobro künftig bei seinen Bemühungen, den Gerichtspräsidien Gehorsam zu lehren, den Nationalen Justizrat einbinden muss, würde als Element von Checks and Balances erheblich an Gewicht gewinnen, stünde dieser nicht seinerseits gerade im Begriff, zu einem fügsamen Instrument des Regierungswillens umgestaltet zu werden. Generell scheint die PiS einmal mehr zu versuchen, sich bei ihren ungarischen Fidesz-Freunden abzuschauen, wie man Kritik aus Brüssel durch dosiertes Entgegenkommen genau so viel Wind aus den Segeln nimmt, dass man sich als vernünftig und entgegenkommend verkaufen kann und trotzdem alles bekommt, was einem wichtig ist.

Eigenartig scheint mir aber die Ankündigung, die Urteile des Verfassungsgerichts zu veröffentlichen. Zur Erinnerung: Im März 2016 hatte das polnische Verfassungsgericht den Versuch des Gesetzgebers, seine eigene Prozessgrundlage zu manipulieren und es effektiv lahmzulegen, für verfassungswidrig erklärt. Daraufhin erließ der Gesetzgeber diese Regeln weitgehend unverändert flugs aufs Neue, und das Verfassungsgericht erklärte sie im August 2016 wieder für verfassungswidrig. Beide Urteile sind aber bis heute offiziell nicht in der Welt: Die Regierung weigerte sich einfach, sie im Amtsblatt zu veröffentlichen.

Politisch ist es nicht weiter gefährlich für die PiS, dieses Versäumnis jetzt nachzuholen. Die Fassung des Gesetzes, auf die sich die beiden Urteile jeweils bezogen, ist nicht mehr aktuell, und das Gericht ist personell so gründlich umgekrempelt, dass von ihm keine Gefahr mehr für die PiS ausgeht. Aber rechtlich?

Die PiS-Regierung hatte ihre Weigerung, die Urteile zu veröffentlichen, mit dem Argument (wenn man es so nennen will) begründet, dass die Urteile in Wahrheit gar keine waren. Das Verfassungsgericht hatte nicht in der von der PiS für richtig gehaltenen Besetzung und nicht nach dem von der PiS-Mehrheit gestalteten (aber eben verfassungswidrigen) Prozessrecht geurteilt, und insoweit sei sein Urteil nichts weiter als eine Meinungsäußerung bestimmter Richter, die niemanden zu irgendwas verpflichte.

Ob dieses Argument jemals irgendjemand überzeugt hat, ist ebenso zweifelhaft wie müßig: Auch der Vorwand eines Arguments impliziert jedenfalls das Zugeständnis, dass es eines solchen bedarf. Dass „weil wir es können“ nicht ausreicht. Dass doch zumindest der Vorwand eines Grundes, und sei er noch so zynisch und durchsichtig, vorhanden sein muss, warum Macht nicht nur ausgeübt, sondern zu Recht ausgeübt wird.

Och, sagt die PiS jetzt, uns ist es letztlich doch egal. Für unsere Machtausübung kommt es ja eh nicht mehr drauf an. Dann veröffentlichen wir diese blöden Urteile halt, wenn das der Kommission so wichtig ist. Mit diesem „Kompromissangebot“ räumt sie aber den Vorwand eines Grundes für ihre Machtausübung endgültig ab. Und damit bleibt genau das stehen, was sie tatsächlich begründet: weil wir es können. Wir haben keine Rechtfertigung für die Art, wie wir das Verfassungsgericht unter unsere Kontrolle gebracht haben, außer: weil wir es können. Wenn es noch eines Beweises bedurft hatte, dass Polen unter seiner aktuellen Regierung genau die Gefahr für das Rechtsstaatsprinzip in der EU darstellt, die die Kommission behauptet – dann wäre er jetzt endgültig erbracht.

Ah, was für ein naiver Legalismus, wird jetzt vielleicht mancher hardgesottene Realist seufzen. Als ob es nicht ohnehin ein hartes politisches Machtspiel sei, das da zwischen EU-Kommission und Polen gerade ausgefochten wird. Mag schon sein, würde ich erwidern. Mag auch sein, dass gerade deshalb das Verfahren über Artikel 7 EUV, Polen als Gefahr für das Rechtsstaatsprinzip zu brandmarken, daran scheitern wird, dass eine Sperrminorität von mehr als einem Fünftel der Mitgliedsstaaten zu dem Schluss kommt, dass dies nicht im Interesse ihrer politischen Macht stünde.

Die EU ist aber mehr als ein Club von Mitgliedsstaaten, die völkerrechtliche Bindungen eingehen und wieder abstreifen. Sie ist eine Rechtsgemeinschaft. Und als solche kann sie sich mit Polen in seinem gegenwärtigen Verfassungszustand nicht abfinden. Ein Staat, der seine Macht nur noch mit „weil wir können“ begründet, mag als politischer Partner noch von Nutzen sein, aber als Mitglied einer Rechtsgemeinschaft ist er absolut unverträglich. Seine Gesetze, Urteile, Haftbefehle und sonstigen Rechtsakte wird keine deutsche, italienische, portugiesische und schwedische Richter_in als verbindlich anerkennen können.

Auf sie kommt es jetzt an. Deshalb war die Vorlageentscheidung des irischen High Courts in der letzten Woche ein solch epochales Ereignis. Sie muss und sollte nicht die letzte bleiben. Jede österreichische, bulgarische, finnische und maltesische Richter_in, die es in einem Verfahren einem aktuellen Rechtsakt aus Polen zu tun bekommt, sollte ebenfalls eine Vorlage in Luxemburg prüfen, auf dass der EuGH genügend Munition bekommt, um zu zeigen, wo der Grundsatz der wechselseitigen Anerkennung in der EU sein Ende hat. Sich jenseits dieser Grenze wiederzufinden – das wird die PiS-Regierung lehren, dass man den Pudding nicht haben und essen kann.

Was dazu gehört und was nicht

In Deutschland schreit die CSU unter ihrem Chef und Heimatminister Horst Seehofer zurzeit aus Leibeskräften, dass der Islam „nicht zu Deutschland“ gehört, damit nur ja kein Landtagswähler sich im christsozial regierten Freistaat Bayern mit seinem Ressentiment gegen André Poggenburgs „Kümmelhändler und Kameltreiber“ heimatlos zu fühlen braucht. RALF MICHAELS schlägt den Bogen zu Ernst-Wolfgang Böckenfördes sprichwörtlich gewordenem Diktum zu den „Voraussetzungen“ des freiheitlichen, säkularisierten Staates, die dieser „selbst nicht garantieren kann“. Böckenfördes Vorstellung von relativer Homogenität der Gesellschaft als Voraussetzung eines freiheitlich-säkularen Staates stehe „im Streit auf der Seite Seehofers und nicht auf der seiner Kritiker“ und sei daher „aufzugeben oder zumindest zu relativieren“, wenn uns der Pluralismus teuer ist.

Das Recht der Nachrichtendienste ist ein aufblühendes Forschungsgebiet in Deutschland, und eine Tagung dazu in Berlin nimmt BENJAMIN RUSTEBERG zum Anlass für kritische Fragen u.a. zur Rolle der Rechtswissenschaft als Feigenblatt für Sicherheitsorgane, die unter Verrechtlichung im Wesentlichen verstehen, dass in Gesetzesform gegossen wird, was sie sowieso die ganze Zeit machen.

In Österreich hat der Verfassungsgerichtshof mit einem Urteil Aufsehen erregt, wonach Asylberechtigte und andere Geflüchtete beim Zugang zur Sozialhilfe nicht diskriminiert werden dürfen. KEVIN HINTERBERGER erläutert, was es damit auf sich hat.

In Thailand lässt sich studieren, dass auch aus der Perspektive des Konstitutionalismus mitnichten von vornherein feststeht, dass das Verfassungsgericht immer auf Seiten des Guten zu finden ist. Wie das thailändische Verfassungsgericht mit kritischen Meinungen zu seinem Tun und Rechtsprechen umspringt, beschreibt höchst eindrucksvoll KHEMTHONG TONSAKULRUNGRUANG.

In China hat bei der Vereidigung von Staatspräsident Xi Jinping die rechtlich nur selten relevante Verfassung der Volksrepublik eine um so enormere zeremoniöse Rolle gespielt, was MING-SUNG KUO in Anlehnung an Claude Lefort zu Betrachtungen zum leeren Platz der Verfassung in China animiert.

Anderswo

SABINE BERGHAHN fächert auf, was sich in Berlin in Sachen Neutralitätsgesetz und Kopftuchstreit tut.

STEVE PEERS weckt mit seiner eigenen Familiengeschichte Verständnis für das Post-Brexit-Schicksal von Brit_innen in der EU und Unionsbürger_innen im UK.

SOPHIE WALKER prophezeit steigende Zahlen von Abschiebehäftlingen im UK.

PATRICIA RRAPI erläutert die Entscheidung des französischen Verfassungsrats zum Hausarrest als Instrument im Kampf gegen Terrorismus.

EDUARD ROIG MOLÉS fragt, welchen Platz der Straftatbestand in der Verfassungsordnung des sezessionsgeplagten Königreichts Spanien haben kann.

PIETER CANNOOT begrüßt das neue Gesetz in Belgien zur Anerkennung des Rechts von Trans-Personen, ihr Geschlecht selbst zu bestimmen, und berichtet vom aktuellen Verfassungsgerichtsverfahren zum dritten Geschlecht.

ELVINA POTHELET untersucht in einem zweiteiligen Blogpost, ob der Praxis Israels, zur Abschreckung von Terroristen deren Häuser abzureißen, auf völkerrechtlichem Weg Einhalt geboten werden kann.

So viel für diese Woche. Am nächsten Wochenende werde ich osterferienbedingt eine Pause einlegen. Ich melde mich im April wieder! Ihnen einstweilen alles Gute und schöne Feiertage.

Ihr Max Steinbeis


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