Polen zum Recht zwingen

von Maximilian Steinbeis
7 Minuten

In den 1820er und 30er Jahren unternahm der US-Bundesstaat Georgia große Anstrengungen, den Ureinwohnerstamm der Cherokee ihres Landes im Nordwesten des Staates zu berauben. Der Staat übernahm per Gesetz die Hoheitsgewalt über das Cherokee-Land, ihre Regierung, ihre Gerichte und ihre Gesetze wurden abgeschafft. Die Cherokee klagten, zunächst vergebens. Doch 1832 bescherte der Oberste Gerichtshof ihnen einen großen Sieg: Im Urteil Worcester v Georgia bestätigte Chief Justice John Marshall den Status der Cherokee als souveräne Nation und sprach dem Bundestaat Georgia die Kompetenz ab, über sie Gesetze zu erlassen. Die bedrängten Cherokee hatten von diesem Sieg indessen überhaupt nichts. Georgia ignorierte das Urteil einfach. Und der damalige US-Präsidenten Andrew Jackson (dem großen Vorbild seines Nachfolgers Donald Trump) dachte gar nicht daran, ihnen gegenüber Georgia zu ihrem Recht zu verhelfen. Von Jackson sind die geflügelten, wenngleich apokryphen Worte überliefert: „John Marshall hat sein Urteil gefällt. Jetzt möge er es vollstrecken.“

An diese Worte musste ich denken, als ich Anfang der Woche von den jüngsten Äußerungen des stellvertretende Premierminister von Polen, Jaroslaw Gowin, hörte. Polen werde die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in Sachen Zwangsverrentung von Mitgliedern des polnischen Obersten Gerichtshofs „ignorieren“, so Gowin, wenn der EuGH die Aussetzung dieser Regelung bestätige und/oder „dem Vertrag von Lissabon sowie dem gesamten Geist der europäischen Integration“ widerspreche. Wenn das so kommt, dann hätte die PiS-Regierung die nationale Verfassungskrise Polens zu einer europäischen gemacht.

Und wenn sie einfach nicht zahlen?

Was passiert eigentlich, wenn sich ein Mitgliedstaat hartnäckig weigert, eine vom EuGH festgestellte Vertragsverletzung abzustellen? Der Verfahrensgang ist klar: Wenn der EuGH feststellt, dass die Zwangsverrentung der Richter_innen gegen die vertraglichen Pflichten Polens verstößt, dann bekommt Polen zunächst eine Frist gesetzt, und wenn die ergebnislos verstreicht, dann beantragt die Kommission beim EuGH, ein Zwangsgeld festzusetzen. Das kann sehr saftig ausfallen: Italien wurde beispielsweise 2014 wegen des jahrelangen Versäumnisses, etwas gegen die illegale Müllentsorgung zu unternehmen, zu einem Pauschalbetrag von 40 Millionen Euro plus alle sechs Monate weitere 42,8 Millionen Euro bis zur Beseitigung der illegalen Müllkippen verurteilt.

Aber was, wenn Polen dieses Zwangsgeld einfach nicht bezahlt? Was, wenn die PiS sich entschließt, dass es strategisch eine feine Sache ist, einen Präzedenzfall zu setzen, dass ein Mitgliedsstaat das Europarecht nach seinem „souveränen“ Willen biegen und brechen und damit davon kommen kann? Kann dann die Kommission in das Vermögen Polens vollstrecken lassen? Darüber habe ich mich am Freitag mit Ingolf Pernice unterhalten, dem emeritierten Europarechts-Papst von der Humboldt-Universität zu Berlin, und der sieht das ausgesprochen skeptisch: Rechtlich sei die Zwangsvollstreckung seiner Meinung nach ausgeschlossen, jedenfalls heikel und umstritten, und politisch sei sie am Ende in jedem Fall mehr schäd- als nützlich.

Nach Art. 280 AEUV sind EuGH-Urteile genauso wie Rechtsakte von Rat, Kommission und EZB zu vollstrecken; für die ist aber nach Art. 299 AEUV die Vollstreckung gegenüber Staaten ausdrücklich ausgeschlossen. Das, so Pernice, sei auch richtig so: Die Europäische Union hat anders als Andrew Jacksons USA keine Polizei und keine Armee, mit der sie ein widerspenstiges Mitgliedsland nötigenfalls gewaltsam zum Rechtsgehorsam zwingen könne (wie dies z.B. in den 50er Jahren US-Präsident Eisenhower tun konnte, um dem Supreme-Court-Urteil Brown v Board of Education zur Geltung zu verhelfen und den Staat Arkansas zur Desegration der Schulen zu bewegen). Die EU gebe es, weil und soweit die Mitgliedstaaten das wollen, und nicht weil sie sich einer höher stehenden Macht unterworfen hätten. Einen Mitgliedsstaat zum Zahlen zu zwingen, verweist auf eine Art von Hoheitsgewalt, die Andrew Jackson besaß und John Marshall nicht: Exekutive. Die EU ist kein Staat. Sie exekutiert nicht.

Es gibt noch andere Wege: Die Kommission könnte sich an Polen schadlos halten, indem sie einfach in entsprechender Höhe Transferzahlungen aus den Strukturfonds einbehält. Verbindlichkeiten mit Forderungen aufzurechnen ist ein schuldrechtlicher Vorgang, kein vollstreckungsrechtlicher. Das ist kein Zwang, der da ausgeübt wird, sondern kühle Arithmetik.

Trotzdem, oder gerade deshalb: Das Verhältnis zwischen EU und Mitgliedsstaaten ist nicht auch nicht das von Personen, die sich wechselseitig nur für die quantifizierbaren Größen interessieren, die einer dem anderen schuldig ist, und sich ansonsten als Privatleute in Ruhe lassen. Es sind nicht nur kühl und arithmetisch miteinander verrechenbare Geldsummen, die die Teile der EU und das Ganze einander schulden.

Deshalb gibt es in den EU-Verträgen ein eigenes, auf dieses spezifische Schuldverhältnis zugeschnittenes Verfahren, das ausdrücklich dafür vorgesehen ist, einen Mitgliedstaat, der sich vom Recht lossagt, zur Umkehr zu zwingen. Und wenn die Union sich scheut, davon Gebrauch zu machen, und stattdessen auf andere, vermeintlich leichter zu beschreitende Wege ausweicht, dann wird sie das irgendwann bereuen.

Das Verfahren, das das Vertragsrecht zur Verfügung stellt, ist Art. 7 EUV, das oft und fälschlich so genannte „Sanktionsverfahren“: Der Rat muss nach Abs. 2 einstimmig feststellen, dass Polens Verhalten die Grundwerte der EU aus Art. 2 EUV „schwerwiegend und anhaltend“ verletzt.

Die Einstimmigkeit ist zwar ein Problem, weil Ungarn bekanntlich versprochen hat, unverbrüchlich an Polens Seite zu bleiben. Aber ob das immer noch gilt, wenn Polen ein ganzes Vertragsverletzungsverfahren samt Zwangsgeldern dreist und unverhohlen ignoriert, bliebe abzuwarten. Wenn diese Feststellung einstimmig zustande kommt, kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit „bestimmte Rechte“ des betreffenden Mitgliedsstaates aussetzen (Art. 7 Abs. 3 EUV). Das können die Stimmrechte im Rat sein, aber auch andere Rechte aus den Verträgen, also auch Transfermittel.

Jedenfalls aber kann der Rat nach Abs. 1 mit Vierfünftelmehrheit zumindest erst mal eine „eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ der Grundwerte feststellen, was die Kommission ja bereits vorgeschlagen hat. Dass diese Vierfünftelmehrheit in einem solchen Szenario mit hinreichendem diplomatischen Einsatz nicht zusammenzubekommen sein soll, kann ich mir auch nach allen Desillusionierungen der letzten Monate nicht vorstellen. Die Mitgliedsstaaten, vor allem Frankreich und Deutschland, müssten es halt wollen.

Das würde zuallererst implizieren, dass sich die Europäische Volkspartei endlich von Viktor Orbáns Fidesz trennt. Und, vermute ich mal, dass der Orbán-Freund Manfred Weber nicht Kommissionspräsident wird.

Apropos Orbán: Am 12. September wird das Europaparlament entscheiden, wie es mit dem Artikel-7-Verfahren gegen Ungarn weitergeht, das der Rechtsausschuss auf den ausführlichen Bericht der niederländischen Grünen-Abgeordneten Judith Sargentini jüngst beantragt hat. Daumen drücken!

Verstopfte Ohren

Dass die Politik der Justiz ins Gesicht sagt, dass man sich einen Dreck um ihre Anordnungen zu scheren gedenke, kommt auch in Deutschland vor, in dem hübschen Hessenstädtchen Wetzlar beispielsweise. Im Freistaat Bayern ist jetzt dem Verwaltungsgerichtshof auf spektakuläre Weise der Kragen geplatzt. Er erwäge, so der VGH in einem Hinweisbeschluss, dem EuGH die Frage vorzulegen, ob gegen Ministerpräsident Markus Söder und andere Mitglieder der bayerischen Landesregierung bzw. -verwaltung von Europarechts wegen Zwangshaft angeordnet werden dürfe oder gar müsse. Der Anlass: die hartnäckige Weigerung der bayerischen Landes- und Kommunalpolitik, dem zwingenden Ruf des Rechts ihre Ohren zu öffnen und europarechtskonforme Luftreinhaltepläne zu erstellen, auch wenn die dann Diesel-Fahrverbote nach sich ziehen. WALTHER MICHL hat die ganze Geschichte mit viel Einfühlung für bayerische Denk- und Daseinsart aufgeschrieben.

In Polen hat unterdessen die PiS-Regierung sich wieder etwas Neues einfallen lassen, um die Grenzen des Rechtsstaats auszuloten. Die Gründerin der PiS-kritischen NGO Open Dialog Foundation Lyudmyla Kozlovska, ukrainische Staatsbürgerin, stellte auf einer Vortragsreise nach Brüssel fest, dass sie im Schengen-Informationssystem als Sicherheitsrisiko geflagt ist. Die Folge: Belgien schob die Aktivistin flugs nach Kiew ab, und den gesamten Schengenraum darf sie fortan nicht mehr betreten. EVELIEN BROUWER hat den ganzen Vorgang rechtlich untersucht, einschließlich der Frage, was Lyudmyla Kozlovska jetzt rechtlich dagegen unternehmen kann.

In Südafrika hat in dieser Woche das Verfassungsgericht über ein Urteil des südafrikanischen High Court verhandelt, der nach der Entscheidung zum Rückzug vom Rückzug vom Internationalen Strafgerichtshof vor einem Jahr im März 2018 schon wieder der Regierung außenpolitisch massiv in die Parade gefahren ist: Es geht um den Gerichtshof der Entwicklungsgemeinschaft des südlichen Afrika, dem 14 Mitgliedsstaaten kürzlich die Federn gestutzt haben, darunter Südafrika. Durfte die Regierung das? FELIX LANGE berichtet.

Die Türkei wiederum hat als einen von vielen verhafteten Richterinnen und Richtern seit dem Putschversuch auch den Aydın Sefa Akay eingesperrt, obwohl dieser als Richter an einem internationalen Gericht diplomatische Immunität genoss. BILGE ERSON ASAR untersucht, ob das rechtens war.

Dass es für die Schüler von Europaschulen in Deutschland keinen vernünftigen Rechtsschutz gibt, wenn diese zwischenstaatliche Einrichtung beschließt, das Schulgeld zu erhöhen, war neun Jahre lang Gegenstand eines Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht. Jetzt ist die Entscheidung gefallen. In unserem neuen Format „Verfassungsblog vom Blatt“ hat FRANZ MAYER aufgeschrieben, was ihm ad hoc beim Durchlesen der Entscheidung auf- und eingefallen ist. Dieses neue Format soll Expert_innen die Möglichkeit geben, schnell und ohne großen Aufwand die Leser_innenschaft an ihren Gedanken zu aktuellen Geschehnissen teilhaben zu lassen und den Leser_innen zu einem Zeitpunkt, wo die Nachfrage groß ist, beim Bilden einer informierten Meinung zu helfen. Wir versprechen uns viel von diesem Format und hoffen, dass unsere Autor_innen davon regen Gebrauch machen werden.

Bei der geplanten Europäischen Volksinitiative zu den Post-Brexit-Rechten von Brit_innen im Ausland zeigt sich eine bizarre Rechtslücke, die SÉBASTIEN PLATON analysiert: Britische Staatsbürger_innen in Frankreich können an ihrem Wohnort in Frankreich nach französischem Recht nicht teilnehmen und in Großbritannien nach britischem Recht ebensowenig.

MARK GRABER hat gemeinsam mit Sandy Levinson und Mark Tushnet gerade bei OUP ein Buch unter dem Titel Constitutional Democracy in Crisis? herausgebracht und stellt es auf dem Verfassungsblog vor.

Anderswo

MICHAEL ROSSI hält den Plan der serbischen und der kosovarischen Regierung, ihre jeweiligen ethnischen Minderheiten durch einen Gebietstausch an den jeweils anderen loszuwerden, für brandgefährlich. ANDREA LORENZO CAPUSSELA ist etwas weniger skeptisch.

MASSIMO FRIGO untersucht die rechtliche Seite der italienischen Affäre um das in Catania ankernde Schiff „Diciotti“ und die aus dem Mittelmeer geretteten Flüchtlinge, denen Innenminister Salvini nicht an Land zu gehen erlaubte.

PIERRE DE VOS erzählt aus Anlass der teils hysterischen Debatte um die Landreform in Südafrika von seiner Kindheit im Freistaat der Apartheid-Ära.

MARY McCORD graust es bei der Vorstellung, dass auf 3-D-Druckern zuhause hergestellte Schusswaffen für jede_n in den USA frei verfügbar sein könnten.

JULIANO ZAIDEN BENVINDO rätselt über das Paradox, dass Brasilien gerade in Zeiten konservativen Aufwinds über eine Dekriminalisierung der Abtreibung diskutiert.

Die nächste Woche bringt, neben anderen und wichtigeren Dingen, meinen 48. Geburtstag. Was ich mir wünsche? Oh, überhaupt nicht wichtig. Aber nett, dass Sie fragen. Wenn wir schon drüber sprechen: Ein Förder-Abo hier auf

Riffreporter

wäre richtig, richtig cool.

Vielen Dank und alles Gute,

Ihr Max Steinbeis

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