Mia san de Mehran!

von Maximilian Steinbeis
8 Minuten

Wir Deutschen, und da nehme ich mich selbst gar nicht aus, lieben Gerichte. Wir haben es am liebsten geregelt und ordentlich, und wenn es zu entscheiden gilt, was wir tun und wollen sollen, dann befragen wir gern die Justiz. Die soll das für uns in Gesetz und Verfassung nachschlagen, denn wenn wir was nicht mögen, dann ist das Streit, da haben wir schlechte Erfahrungen gemacht, und deshalb ist uns am wohlsten, wenn sozusagen immer bereits höherenorts entschieden ist, was wir tun und wollen sollen, so dass wir dann nur noch zu sagen brauchen: Wir können nichts dafür, so ist halt die Rechtslage.

Vielleicht müssen wir der CSU geradezu dankbar sein in diesen Tagen. Nicht nur hat sie neuerdings ihre Rhetorik weg von der aus der blauen Luft der konservativen Staats- und Verfassungstheorie gepflückten „Herrschaft des Unrechts“ verlagert, mit der sie uns so lange auf die Nerven fiel. Mehr noch: Sie hat uns einen Streit aufgezwungen, einen richtigen, hammerharten Streit. Kanzlerin und SPD-Chefin sind schreckensbleich und finden das alles entsetzlich verantwortungslos, und auch in der CSU ist den meisten wohl schon mächtig flau zumute, zumal sich die Sache in den Umfragen nicht auszuzahlen scheint. Womöglich so sehr, dass sie jetzt, nach dem EU-Gipfel, die Versuchung verspürt, eilfertig so zu tun, als sei jetzt alles wieder gut und eh nicht so gemeint gewesen.

Ich weiß zu dem Zeitpunkt, da ich dies schreibe, noch nicht, wie der Showdown am Sonntag ausgegangen ist; da sind Sie vielleicht schon klüger. Aber wenn das so kommt: Sollte die CDU die CSU damit davon kommen lassen? Ich bin ja immer für friedliche Lösungen von Konflikten. Aber in diesem Fall würde mir das fast wie eine verpasste Chance erscheinen.

In den letzten zwei Wochen hat sich herausgestellt, dass die CSU in einer der wichtigsten Fragen unserer Zeit der politische Gegner der Europapartei CDU ist, und die betrifft das, was Markus Söder „Multilateralismus“ nennt: ob man einseitiges, unabgestimmtes Handeln im vermeintlichen „nationalen Interesse“ gut oder schlecht findet, Ausweis männlicher Tatkraft oder pubertäre Barbarei. Darüber muss gestritten werden. Hier muss Position bezogen werden, auf dass die Wähler_innen in Deutschland sich überlegen können, welche von beiden sie überzeugt. Hier muss ermittelt werden, wer „die Mehran“ sind, wie man in Bayern sagt.

Natürlich wäre ein Bruch mit der CSU furchtbar riskant, aber kein Bruch wäre kein bisschen weniger riskant angesichts dessen, was auf dem Spiel steht. Und am Ende scheint es mir nicht die CDU zu sein, die diesen Konflikt zu scheuen bräuchte.

Also, spinnen wir mal ein bisschen herum. Angenommen, die Kanzlerin entschließt sich, den Schalter umzulegen und in die Offensive zu gehen. Freunde, sagt sie, wir wollten das nicht. Wir sind wahrhaftig an den Rand des Selbsterniedrigung gegangen, damit es nicht so weit kommt. Aber ihr seht ja selber. Wir trennen uns, schweren Herzens, aber mutigen Sinnes, von dieser offenbar dem Orbánismus rettungslos verfallenen CSU. Und die Mordswut, die wir auf diese Kerle haben, soll ab heute unsere politischen Segel füllen.

Die Kanzlermehrheit wird einstweilen durch eine Duldungsvereinbarung mit den Grünen sichergestellt, aber nur für ein paar Monate, um sich mit Macron auf die Eckpunkte einer grundlegenden Reform der EU und der Eurozone zu verständigen. Dann wird zum richtigen Zeitpunkt der Bundestag aufgelöst, so dass die Bundestagswahl mit der Europawahl im Mai 2019 zusammenfällt. In diesen kombinierten Europa- und Bundestagswahlkampf zieht die neue CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer mit der Botschaft: Jetzt geht es um Europa! Schicksalswahl! Wer Trump und Orbán stoppen will, muss CDU wählen!

Die europafreundliche Mehrheit in Deutschland wird von neuer politischer Leidenschaft gepackt, ebenso die Parteibasis, denn es gibt viel zu gewinnen für den Kanzlerwahlverein: In Bayern schickt eine CDU-geführte Vierparteienkoalition die CSU in die Opposition, in Hessen wird die Koalition eindrucksvoll im Amt bestätigt, und am Abend der Bundestagswahl, siehe da, reicht es für Schwarz-Grün auf Bundesebene. Die CDU ist glücklich, die Grünen sowieso, die SPD ist irrelevant, die FDP hat sich endgültig zerlegt, und in Brüssel wird Manfred Weber, „Spitzenkandidat“ der Rest-EVP, alles mögliche, aber nicht Kommissionspräsident, und in der CSU hat noch der letzte hinterbayerische Stiesel begriffen, dass man sich mit uns besser nicht anlegt. Weil wir sind die Mehran.

Was gegen den Orbánismus wirklich hilft, sind Wahlniederlagen. Noch gibt es sie in Deutschland, da bin ich ziemlich sicher: eine mobilisierbare europafreundliche Mehrheit. Irgendwann, wie in Italien, Ungarn, Polen, vielleicht nicht mehr. Dann kommt der Orbánismus an die Macht. Und dann hat es sich sowieso ausgestritten.

Zwei Schläge abbekommen

Um auf die Justiz zurückzukommen, und den Glauben, sie werde uns retten: Dieser Glaube hat in der letzten Woche einen gewaltigen Schlag abbekommen, oder eigentlich zwei. Da ist zum einen der Supreme Court der USA, dessen konservative Richtermehrheit Trump bescheinigt, Muslime migrationspolitisch rauf und runterdiskriminieren zu dürfen, solange er auf seine Anordnung nur „nationale Sicherheit“ draufschreibt. Und obendrein hat mit Anthony Kennedy derjenige unter den fünf Mehrheitsrichtern, der sich noch am ehesten dazu verstehen wollte, den Rechten verletzlicher Minderheiten zur Geltung zu verhelfen, seinen Rücktritt eingereicht, was Trump jetzt die Gelegenheit verschafft, irgendeinen 50-jährigen Superhardliner zu nominieren und so auf Jahrzehnte die strukturelle rechte Mehrheit im Obersten Gericht zu zementieren. Let’s face it: Auf die Verfassungsgerichtsbarkeit wird man in den USA als Faktor beim Einhegen des Autoritarismus fortan wohl kaum mehr zählen können. RALF MICHAELS erzählt die ganze traurige Geschichte.

Der zweite Schlag hat sich in dieser Woche in Luxemburg zugetragen. Dort hat der EuGH gegenwärtig in einem Eilverfahren über die epochale Frage zu entscheiden, ob andere Mitgliedsstaaten die Vollstreckung von Haftbefehlen aus Polen verweigern dürfen, weil die polnische Justiz nach ihrer Unterwerfung durch die Regierung nicht mehr hinreichend unabhängig ist, um das für die wechselseitige Anerkennung notwendige Vertrauen zu rechtfertigen. Dieses Verfahren ist die beste Hoffnung aller, die noch auf eine Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit in Polen hoffen. Generalanwalt Tanchev schlägt dem Gerichtshof in seinen Schlussanträgen aber eine Linie vor, die diesem Verfahren ziemlich alle Zähne ziehen würde, wenn der EuGH ihr folgt: Ein Gericht, das die Auslieferung eines Gesuchten nach Polen verweigern will, muss nicht nur prüfen, ob dort das Justizsystem noch unabhängig genug arbeitet, sondern auch, ob speziell dem Gesuchten daraus ein spezifisches Risiko entsteht. Damit wäre die PiS erst einmal vom Haken. PÉTRA BARD analysiert die Argumentation des Generalanwalts.

Die Kommission hat obendrein angekündigt, gegen die unmittelbar bevorstehende Zwangspensionierung eines erheblichen Teils der Richter_innen des Obersten Gerichtshofs ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH anzustrengen. Der Oberste Gerichtshof nimmt unterdessen das Recht selber in die Hand und kündigt offenen Widerstand an. Richter Stanisław Zabłocki hat die Regierung wissen lassen, seine Unabsetzbarkeit ergebe sich direkt aus der Verfassung, weshalb er gedenke sein Amt bis zum 70. Lebensjahr auszufüllen. Er ist offenbar nicht der Einzige unter den betroffenen Richter_innen am Obersten Gerichtshof. Die Generalversammlung der Richter_innen am Obersten Gerichtshof hat beschlossen, „in Anbetracht ihres Amtseids und ihrer Treue zur Verfassung der Republik Polen“ weiterhin Małgorzata Gersdorf als ihre Präsidentin zu betrachten. Für die Klärung, was sich direkt aus der Verfassung ergibt und was nicht, hat man eigentlich das Verfassungsgericht, aber auf dessen Unabhängigkeit gibt schon längst keiner mehr einen Pfifferling. Woran man sieht, wie weit es mit der Herrschaft des Rechts in Polen bereits gekommen ist.

Ungarn hat unterdessen seine Verfassung geändert, um alle Staatsorgane darauf zu verpflichten, „Ungarns Identität und christliche Kultur“ zu schützen. Dass Ungarn im gleichen Atemzug zivile Hilfe für Flüchtlinge zu einer Straftat und Obdachlosigkeit für rechtswidrig erklärt, kann man, apropos christliche Kultur, für widersprüchlich halten. GÁBOR HALMAI beleuchtet, auf welch rein instrumentelle Weise sich Viktor Orbán und die Fidesz-Partei auf Religion und Christentum berufen.

Zurück zu den USA: Präsident Trump hat Anfang Juni per Twitter verkündet, dass er es für sein Recht hält, sich selbst zu begnadigen und somit gegen jegliche rechtliche Verantwortung für sein Tun und Lassen als Präsident zu immunisieren. Ob das rechtlich geht, untersucht JUD MATTHEWS.

DANA SCHMALZ hatte die Gelegenheit, einen der interessantesten und provokantesten Rechtswissenschaftler der USA zu interviewen, BERNARD HARCOURT, dessen Buch „The Counterrevolution“ erklärt, wie sehr seit 9/11 counter-insurgency, also das Bekämpfen realer oder imaginierter Feinde im Inneren, zum dominanten Modus des Regierungshandelns geworden ist, und das nicht nur in den USA.

Dass Frankreich an der Grenze zu Italien Flüchtlinge zurückweist, wird hierzulande oft als Modell angeführt, nach dem Motto: Seht her, geht doch. Die französische Menschenrechtskommission hat sich jetzt auf den Standpunkt gestellt, dass diese Praxis mit den Grundrechten der Betroffenen nicht zu vereinen ist. CHRISTOPH TOMETTEN berichtet.

Investorenschutz-Schiedsgerichte genießen nicht den besten Ruf. Doch die aktuelle Wirklichkeit souveränen Staatshandelns hat IOANNIS GLINAVOS zum Nachdenken gebracht, ob es nicht doch ganz gute Gründe dafür gibt, demselben gewisse Fesseln anzulegen.

Im Europäischen Parlament ist zurzeit eine neue Urheberrechts-Richtlinie in Arbeit, die u.a. so genannte Upload-Filter ermöglichen soll. AMÉLIE HELDT berichtet, was es damit auf sich hat.

TOM GERALD DALY hat sich enorme Verdienste erworben mit seiner neuen DEM-DEC-Website, die in dieser Woche an den Start gegangen ist – eine Ressource, die sammelt, was es an Fakten, Daten, Veröffentlichungen und Expertise zum Thema Democratic Decline gibt.

Und was macht der Glossator? Nichts. Nein, nicht nichts, es handelt sich schließlich um FABIAN STEINHAUER, der auch das Nichts noch etwas Gutes sein lassen kann.

Anderswo

MARK GRABER weist auf das Urteil Williams v. Mississippi von 1898 hin, in dem der US Supreme Court an den notdürftig verhohlenen Versuchen der Südstaaten, Schwarze am Wählen zu hindern, keinerlei Fehl und Tadel erkennen konnte. Dieses Urteil sei die eigentliche Folie für das aktuelle Muslim-Ban-Urteil Trump v. Hawaii, mehr noch als das Urteil zur Internierung japanisch-stämmiger Amerikaner_innen im II. Weltkrieg.

Weit weniger Aufsehen als das US-Urteil zu Muslim Ban hat das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zum Schächtverbot in Flandern erregt. ANNE PETERS zieht eine Verbindung zu Trumps Äußerung „These aren’t people. These are animals!“ und warnt davor, Tierschutz und Menschenschutz gegeneinander auszuspielen.

JONATHAN ADLER zeigt Trump, wie weit er sich vom Boden der Verfassung der USA entfernt hat mit seiner Twitter-Forderung, Migranten „with no Judges or Court Cases“ zu deportieren.

RICK LAWSON nimmt die EU-Kommission gegen den Vorwurf in Schutz, nicht entschlossen genug gegen den Rechtsstaatsverfall in Polen vorzugehen.

TERESA FREIXES hält ein flammendes Plädoyer for ein erneuertes Europa.

THOMAS KIENLE geht anlässlich eines aktuellen Verfahrens vor dem Bundesgerichtshof der Frage nach, wem eigentlich nach unserem Tod unsere Daten gehören.

THOMAS PERROUD macht sich über den schrumpfenden Zugang zur Justiz Gedanken, der in Frankreich, in den USA und in Großbritannien zu beobachten sei.

MARTIN DOWNS schreibt über das Urteil des UK Supreme Courts, wonach es gleichgeschlechtliche Paare diskriminiert, ihnen nur eine zivile Partnerschaft und keine Ehe anzubieten.

DANIELA VITIELLO entwirrt die komplizierten asylrechtlichen Fragen, die der Fall des Flüchtlings-Rettungsschiffs Aquarius aufwirft, und aus völkerrechtlicher Sicht tut das Gleiche EFTHYMIOS PAPASTAVRIDIS.

GIORGIO REPETTO analysiert das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Konfiskation von schwarz bebauten Grundstücken in Italien.

ÉRIKA MARÍA RODRÍGUEZ PINZÓN sieht Kolumbien nach den vom rechten Kandidaten gewonnenen Präsidentschaftswahlen auf dem Weg zurück in die Vergangenheit.

Das wäre es dann für diese denkwürdige Woche. Mögen wir auch die nächste ohne Weltuntergang überstehen. Ihnen, insoweit und auch sonst, alles Gute!

Ihr Max Steinbeis

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