In Fahrtrichtung liberal aussteigen

von Maximilian Steinbeis
8 Minuten

Wann wird es wieder so, wie es nie war? Dieser aktuelle Romantitel fällt mir ein, wenn ich die gegenwärtige Debatte um die Rechts-Links-Balance am Bundesverfassungsgericht betrachte. Da droht was ins Kippen zu kommen und sich zum Schlechteren zu verändern, so das Bild, das da gezeichnet und offenbar in Karlsruhe selbst mit Schrecken wahrgenommen wird. Und zwar dadurch, dass nach den informellen Nachfolgeregeln für die Besetzung freiwerdender Richter_innenposten im Ersten Senat der von der Union nominierte Richter Michael Eichberger durch einen Besetzungsvorschlag der Grünen ersetzt werden soll. Denn das würde dazu führen, dass künftig, jedenfalls für einen gewissen Zeitraum, neben den SPD-Vorschlägen Johannes Masing, Gabriele Britz und Yvonne Ott, den Grünen-Vorschlägen Susanne Baer und Claudio Nedden-Boeger (der Neue) und dem FDP-Vorschlag Andreas Paulus nur noch zwei auf dem Unions-Ticket fahren, nämlich Ferdinand Kirchhof und Josef Christ.

Fünf Rot-Grüne von acht? Rückt damit der Senat nach links? Droht dem Ersten Senat, was man in Karlsruhe fürchtet wie nichts auf der Welt, nämlich nicht mehr als überparteiliches Gericht, sondern als interessengeleitetes und nach einer Majoritätslogik funktionierendes Tool einer bestimmten politischen Agenda wahrgenommen zu werden?

Ich bestreite überhaupt nicht, dass diese Furcht berechtigt ist. Welch immensen Schaden die Autorität eines Gerichts erleiden kann, dessen Mitglieder weitestgehend strikt entlang ihrer Parteilinie abstimmen und dementsprechend wahrgenommen werden, lässt sich am US Supreme Court eindrucksvoll studieren. Ich bestreite auch nicht, dass die klassische Rechts-Links-Differenz zwischen Progressiven und Konservativen durchaus auch in diesen Zeiten sich immer ähnlicher werdender Volksparteien immer noch unterscheidungskräftig bleibt; die Spannung zwischen Eigentum und Gerechtigkeit nimmt ja eher zu als ab. Aber sie wird überlagert, womöglich sogar nivelliert durch eine andere Differenz, die von rechts gesetzt wird, ohne dass dadurch ihr Gegenpol gleich als links zu gelten hätte: die Systemkritik der so genannten „Rechtspopulisten“, die sich gegen verfassungsrechtliche Bindung von Mehrheitsmacht und „Volkswillen“ richtet und damit die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit fundamental in Frage stellt. Für sie ist das Verfassungsgericht von vornherein nicht mehr als ein politisches Tool, das im Moment noch ihren Gegnern gehört, aber, wenn sie nur mächtig genug geworden sind, um über seine Besetzung (mit) zu entscheiden, eines Tages ihnen.

Aus ihrer Sicht ist jede Personalentscheidung, ob rot, schwarz, grün oder gelb, ein politisches Machtmanöver, das sie solange skandalisieren werden, solange es sich nicht um einen der Ihren handelt – und einen der Ihren zu nominieren, verbietet sich, solange die Ihren gekennzeichnet sind von einer durch und durch politisierten Sicht auf das Verfassungsgericht. Wie man aus diesem Dilemma rauskommt, ist die große Frage unserer Zeit, nicht nur in punkto Verfassungsgericht, sondern genauso in punkto Parlament, in punkto Parteienrecht, in punkto Medienberichterstattung.

Ohnehin sind die politischen Spannungspole progressiv/konservativ den Parteien im Bundestag doch offensichtlich nicht mehr so klar zuzuordnen wie in der alten Bundesrepublik, mit einer rot-grünen Hartz-IV-Reform, mit einer Union, die die Ehe für alle miteinführt. Sie stehen in diesen Zeiten einer nolens volens auf Dauer gestellten „Großen“ Koalition auch quer zu den Spannungspolen, an denen sich in einer parlamentarischen Demokratie eigentlich die politischen Feldlinien ausrichten sollten, nämlich Regierung und Opposition: Progressiv sind beide Pole (SPD hier, Grüne dort), konservativ ebenso (CSU hier, FDP dort). Was ist denn daran ausgewogen, der Oppositionspartei Grünen ihr Vorschlagsrecht abzusprechen und es der Regierungspartei Union zuzuschlagen, so dass die Regierungsparteien – die im Moment ja nicht einmal mehr die Hälfte aller Bundesbürger_innen hinter sich haben – sechs von acht Kandidaten nominieren?

Keine Zeit für Nostalgie

Früher war ja alles besser, da war progressiv = rot/grün und konservativ = schwarz/gelb, und ich verstehe gut, dass sich manche nach diesen übersichtlicheren Zeiten zurücksehnen. Aber politische Entscheidungen auf Nostalgie zu gründen, halte ich für fahrlässig. Gerade in diesen schwierigen Zeiten. Ohnehin scheint mir, was das Bundesverfassungsgericht betrifft, diese Nostalgie gar keinen rechten historischen Gegenstand zu haben. Wann hat denn das rot-schwarze Gleichgewicht auf der Senatsbank seit der Adenauer-Ära für die Entscheidungspraxis des Gerichts wirklich eine Rolle gespielt? Der Erste Senat hat Marksteine liberaler Grundrechtsjudikatur wie das Volkszählungsurteil oder den Brokdorf-Beschluss unter dem Vorsitz vormaliger CDU-Innenminister errichtet, Ernst Benda und Roman Herzog. Im Zweiten Senat haben die SPD-Mitglieder Ernst-Wolfgang Böckenförde und Ernst Mahrenholz an solchen Klöpsen wie den Urteilen zum kommunalen Ausländerwahlrecht mitgewirkt und den im Maastricht-Urteil angelegten Shift des Senats zum Souveränismus mitgetragen. Und wo das einmal nicht so war, etwa bei den 5:3-Entscheidungen zum Kruzifix im Klassenzimmer oder zu „Soldaten sind Mörder“ mit jeweils deutlich konservativen Minderheitsvoten, scheint mir wenig dafür zu sprechen, ausgerechnet nach diesen Zeiten Nostalgie zu empfinden, schon gar nicht wenn man sich um die Wahrnehmung des Gerichts als überparteiliches Organ sorgt.

Das Gericht ist zu Recht stolz auf die hohe Integrationskraft seiner zu allererst von juristischer Rationalität geprägten Diskussions- und Abstimmungskultur in beiden Senaten. Man kommt nicht weit, wenn man im Beratungszimmer eine politische Agenda pusht. Was allein Gewicht hat, das hört man immer wieder und kann es wohl auch glauben, ist die Kraft des juristischen Arguments. Jede Richter_in, egal auf welchem politischen Ticket sie in ihr Amt gekommen ist, hat das höchste Interesse daran, ihre Senatskolleg_innen dieses Ticket möglichst schnell und gründlich vergessen zu lassen. Manche, die sich nicht daran gehalten haben, sah man jahrelang isoliert und unglücklich durch die Karlsruher Gänge schlurfen.

Diese Kultur zu bewahren sollte der Maßstab sein, an dem sich die Auswahl der Richter_innen zu orientieren hat, und zwar egal welche Partei sie vorschlägt. Und das ist vielleicht der Punkt, an dem anzusetzen wäre, um auf die geänderten Zeiten zu reagieren. Die Richter_innen werden mit Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat gewählt. Ich halte es überhaupt nicht für ausgeschlossen, dass eines gar nicht fernen Tages die AfD im Bundestag eine Sperrminorität besitzt (so wie sie die Grünen über ihre Koalitionsbeteiligungen in den Ländern im Bundesrat jetzt schon haben). Dann kann sie jede Richterwahl im Parlament solange blockieren, bis ihr die Mehrheit einen eigenen Vorschlag für einen Posten in Karlsruhe zugesteht. Und dann schlägt sie, sagen wir, Jens Maier vor. Ja, den Jens Maier.

Bis es soweit kommt, sollten wir besser Kriterien parat und in der Praxis etabliert haben, anhand derer der AfD deutlich gemacht werden kann, welche ihrer Vorschläge akzeptabel sind und welche nicht. Und das dürfen gerade keine politischen Kriterien sein, sondern solche, die an der konstitutionalistischen Kultur im Gericht orientiert sind. Keine leichte Aufgabe.

Im Trudelflug

Die Gegenposition zu meiner, jedenfalls im Ergebnis, nimmt auf dem Verfassungsblog SASCHA KNEIP ein und fordert mit bedenkenswerten Argumenten die Grünen auf, auf ihr Vorschlagsrecht einstweilen zu verzichten, auf dass sich der „ Anschein strukturell progressiver oder konservativer Mehrheiten in den Senaten“ nicht verfestige.

Apropos Parteien – die jüngste Schleife im Trudelflug der SPD war von der zwischenzeitlichen Idee geprägt, Andrea Nahles im Parteivorstand zur kommissarischen Vorsitzenden zu küren, obwohl es doch glasklar im Parteiengesetz steht, dass das nur der Parteitag darf. HANS MICHAEL HEINIG hat, unmittelbar vor der Sitzung des Parteivorstands, auf diesen Umstand hingewiesen. Ob den tagenden Genossen Heinigs Beitrag ins Sitzungszimmer hineingereicht wurde und sie deshalb, entgegen ihrer expliziten Pläne, auf diesen Schritt dann doch noch verzichteten? Ich weiß es nicht, wüsste es aber gerne.

Wie es der parlamentarischen Opposition in Ungarn ergeht, wo die Zweidrittelmehrheits-Fidesz vor wenig zurückschreckt, um den Raum für Opposition so klein und bedrängt wie möglich zu halten, beschreibt VIKTOR ZÓLTAN KAZAI.

In Österreich plant die ÖVP/FPÖ-Koalition eine umfassende Strafrechtsreform, deren Notwendigkeit vor allem darin besteht, dass so viele Österreicher_innen auf Facebook den Wunsch nach schärferen Strafen für alles Mögliche geäußert hatten. JULIA REITER hat aufgeschrieben, was es damit auf sich hat.

In der Schweiz wird zurzeit eine Volksinitiative vorbereitet, die die Haftung von Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen und Umweltschweinereien im Ausland in der Verfassung verankern soll – kommentiert von ELIF ASKIN.

In Myanmar spielt sich gerade ein genozidales Drama von selten gesehenen Ausmaßen ab. Ob die Verbrechen an den Rohingya ein Fall für den Internationalen Strafgerichtshof wären, prüft ROMY KLIMKE.

Gerichte, die über Asylanträge entscheiden, benötigen oft Wissen über die Zustände im Herkunftsland des Klägers, das mit gewöhnlichen justiziellen Erkenntnismitteln kaum zu gewinnen ist. Was die deutsche Asyljustiz von der britischen in dieser Hinsicht lernen könnte, beleuchten LUKAS MITSCH und KATHARINA REILING.

Menschenrechte und Wirtschaftspolitik werden im Völkerrecht oft als Gegensätze gesehen. Ob das noch stimmt, untersucht VILJAM ENGSTRÖM.

Anderswo

HANS HOSTEN hat sich einen Gesetzentwurf der AfD zum Staatsangehörigkeitsrecht angesehen, der das Ius Soli durch das Abstammungsprinzip ersetzt, und fragt nach dem Begriff von Staatsvolk, der die AfD motiviert.

FRED FELIX ZAUMSEIL beschäftigt sich mit dem Argument, liberale Demokratien befänden sich in einer Autoritätskrise, und zeigt, dass weder die Autorität von Experten noch die von demokratischen Mehrheiten einen Ausweg aus dieser Krise weisen.

MEG RUSSELL und JACK SHELDON untersuchen, wie ein Parlament für das bislang parlamentslose England aussehen könnte, wenn man die englischen Abgeordneten im britischen Parlament in Westminster zu einem solchen macht, und weisen auf die vielen schwierigen Fragen hin, die ein solcher Schritt aufwerfen würde.

ANTONY SFEZ beleuchtet die „Gerichts-Schlacht“ um den katalanischen Ex- und Exil-Präsidenten Carles Puigdemont und seine Hoffnung, vom Parlament in Barcelona in Abwesenheit erneut in dieses Amt gewählt zu werden (französisch).

MATTEO MONTI hält die Bedenken gegen das polnische Holocaust-Gesetz und seine Folgen für die Meinungsfreiheit für weitgehend berechtigt (italienisch).

Der Strasbourg Observers Blog hat unter seinen Lesern, wie jedes Jahr, das beste und das schlechteste Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ermittelt. The winner is: N.D. und N.T. v. Spanien, das Urteil zum Pushback von Flüchtlingen in Melilla als bestes Urteil, das homophobe Minderheitenvotum des russischen Richters Dedov in Bayev v. Russland als schlechtestes.

MANUEL MÜLLER betrauert die Entscheidung der Mehrheit im Europaparlament, gegen die Einführung von transnationalen Listen bei der Europawahl 2019 zu stimmen.

LAURA BALLARIN CEREZA hofft, dass der „Spitzenkandidaten“-Prozess bei den nächsten Europawahlen erneut zum Zug kommt und „einen unumkehrbaren Weg in die Demokratie in Europa eröffnet“ (spanisch).

JONATHAN H. ADLER berichtet über konservative Argumente, warum Konservative in den USA einen Alt-Right-Provokateur wie Milo Yiannopolous nicht an ihre Uni einladen sollten.

PIERRE DE VOS untersucht – noch vor dem Rücktritt von Südafrikas Präsident Jacob Zuma – was passiert wäre, wenn er nicht zurückgetreten wäre.

In der nächsten Woche fahre ich nach Karlsruhe, um mir beim jährlichen Presseabend einen Eindruck zu verschaffen, wie zukunftsfroh das Bundesverfassungsgericht in das Jahr 2018 schaut. Auf dem Weg dorthin werde ich KLAUS FERDINAND GÄRDITZ für ein Interview treffen und mich mit ihm über mögliche Wege unterhalten, das Grundgesetz gegenüber der neuen rechten Konstitutionalismuskritik sturmfester zu machen. Und zur Freilassung von Deniz Yücel, und was sie über die von der Erdogan-Regierung so gern behauptete Unabhängigkeit der türkischen Justiz verrät, werden wir hoffentlich auch noch einen lesenswerten Beitrag bringen können.

Es bleibt also spannend. Ihnen eine gute Woche!

Ihr Max Steinbeis

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