Ein Hauch von Gangstertum

von Maximilian Steinbeis
7 Minuten

In Martin Scorceses Film „GoodFellas“ von 1990 gibt es eine berühmte Szene, in der Tommy (Joe Pesci) in einer Bar eine Runde von Freunden auf das Köstlichste unterhält. Alle lachen sich kaputt über seine Geschichten, am lautesten von allen sein Freund Henry (Ray Liotta). Doch als dieser „that’s funny…“ murmelt, wird Tommy mit einem Schlag ernst. „What do you mean, funny?“ Henry stammelt. „Funny, like… you’re a funny guy“. Tommy: „ Funny like, what? Funny like a clown? I make you laugh? I’m here to fuckin’ amuse you?“ Henry verstummt, und mit ihm das ganze Lokal. Zwei, drei quälend stille Sekunden vergehen. Dann kapiert er’s. „Get the fuck outa here!

Es war alles nur ein Spaß. Das Gelächter ist hinterher doppelt so laut wie vorher. Aber keiner, der diese Szene gesehen hat, wird den eisigen Schrecken dieser zwei, drei stillen Sekunden jemals vergessen, während derer Henry glaubte, sein Freund Tommy bringe ihn erst zum Lachen und dann genau dafür um.

An diese Szene musste ich bei der Reaktion der russischen Regierung auf den Mordanschlag in Salisbury denken. Ein in sowjetischen Armeelabors entwickelter Nervenkampfstoff wurde eingesetzt, um den Ex-Spion Sergej Skripal und seine Tochter mitten in Großbritannien zu vergiften. Der Gestus der Empörung, mit dem die russische Regierung die Verantwortung für diesen Fall von sich weist, hat etwas Tommy-haftes. Als sei es ein Akt der Aggression, überhaupt auf diese Idee zu kommen. Während gleichzeitig das Signal „Nervenkampfstoff“ in nicht misszuverstehender Deutlichkeit an jeden rausgeht, der sich im Ausland vor der Rache Russlands sicher wähnt…

(Aber vielleicht ist Russland ja tatsächlich ganz unschuldig? Get the fuck outa here!)

Die polnische Regierung hat in dieser Woche ein „Weißbuch“ veröffentlicht, um ihre so genannte „Justizreform“ zu rechtfertigen. Wenn man das Dokument liest („There is a general sense that the courts are dominated by the, cult of formalism’“), fällt es ebenfalls schwer zu glauben, dass es mit dem Ziel des Überzeugens geschrieben wurde. Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki hat es zu seinem Treffen mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mitgebracht, der bekanntlich den Mitgliedsstaaten vorschlägt, wegen der Unterjochung der unabhängigen Justiz eine „eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit in der EU festzustellen. Dass die dazu nötigen 22 Stimmen im Rat überhaupt zustande kommen, wird allerdings immer fraglicher: Nach Ungarn haben auch die die drei baltischen Staaten in dieser Woche verkündet, dagegen zu stimmen. Kroatien? Tschechien? Bulgarien? Rumänien? Malta? Zwei von diesen reichen aus, und das Artikel-7-Verfahren liegt tot im Wasser, bevor es überhaupt begonnen hat.

Das heißt aber nicht unbedingt, dass dann alles verloren wäre. Es gibt noch andere Wege, die Union zu retten. In dieser und der letzten Woche hat vor allem der Europäische Gerichtshof zwei gewaltige Schritte zurückgelegt, die das Potenzial aufweisen, die Verfasstheit der EU von Grund auf zu verändern. Der eine war das Urteil zu den portugiesischen Richterpensionen, auf das in der letzten Woche MICHAL OVÁDEK hingewiesen hatte: Darin erklärte sich Luxemburg für zuständig, die Unabhängigkeit der Richter_innen in den Mitgliedsstaaten zu bewerten, in deren Händen die Anwendung des EU-Rechts liegt. Das heißt: Der EuGH kann und wird überprüfen, ob die polnische Justiz unabhängig ist (Art. 19 EU-Vertrag und Art. 47 EU-Grundrechtecharta) oder nicht. Um ihn zu überzeugen, wird die Regierung mehr aufbieten müssen als ein lappiges „Weißbuch“.

Der zweite Schritt wurde nicht in Luxemburg getan, sondern in Dublin. Am dortigen High Court hatte die Richterin Aileen Donnelly darüber zu urteilen, ob ein von Polen mit EU-Haftbefehl wegen Drogenhandels gesuchter Mann der polnischen Justiz überstellt werden kann. Richterin Donnelly tat das vorerst nicht, sondern legte dem EuGH die Frage vor, ob es für ihre Entscheidung noch auf die Auskünfte der polnischen Justiz ankommt, wie sie den Mann zu behandeln gedenkt, wenn in Polen ein „systemischer Bruch der Rechtsstaatlichkeit“ vorliege. Mit anderen Worten: Muss Richterin Donnelly der polnischen Justiz noch trauen, wenn man dieser möglicherweise nicht mehr trauen kann?

Dass dieser Fall ihr wirklich gefährlich werden kann, ist der polnischen Regierungspartei PiS nicht verborgen geblieben. Sie versucht, das Urteil aus Irland als abseitig und total irre hinzustellen. („Inwieweit wirkt sich die Änderung des Rentenalters der Richter oder ihrer Ernennung auf das Risiko des Todes oder der unmenschlichen Behandlung infolge eines Europäischen Haftbefehls aus? Beeinträchtigt die Differenzierung des Rentenalters von Richtern (Frauen und Männer) die Grundrechte von Drogenmafia-Kriminellen?“ So Marcin Warchoł, stellvertretender Justizminister, in einem Interview.) Sie versucht, Richterin Donnelly persönlich zu diskreditieren und die Tatsache, dass sie die erste offen lesbische Richterin am High Court ist, in Zusammenhang mit ihrem Urteil zu bringen. Tommy und Henry hätten was zu lachen gehabt.

Was Verfassungsgerichte tun

MATTIAS WENDEL unterstreicht, welch grundstürzende Wirkung die Vorlageentscheidung aus Irland für die Rechtsgemeinschaft in der Union haben könnte – oder besser, welche grundstürzende Wirkung der Zerfall der Rechtsstaatlichkeit u.a. in Polen eigentlich schon längst hat: „Der große Verdienst der Entscheidung des irischen High Courts ist es, die Frage der Rechtsstaatlichkeitskrise und den Grundsatz gegenseitigen Vertrauens zusammenzuführen. Es spricht viel dafür, dass sich die irische Vorlage als Anfang vom Ende des bis dato vorausgesetzten horizontalen Vertrauens der EU-Mitgliedstaaten in die Integrität des polnischen Rechtsstaates erweist. Dafür war es höchste Zeit.“

Was das schon erwähnte EuGH-Urteil Associação Sindical von letzter Woche dem Gerichtshof im Fall Polen für Möglichkeiten eröffnet, unterzieht MACIEJ TABOROWSKI einer gründlichen Analyse.

In Italien hat das Verfassungsgericht in einem international kaum wahrgenommenen Urteil sein – zuletzt in der Taricco-Affäre aufs Äußerste gespanntes – Verhältnis zum Europäischen Gerichtshof weiter geklärt. Was herausgekommen ist, erklärt PIETRO FARAGUNA.

Die Schweiz war in dieser Woche Gegenstand eines Urteils aus Straßburg. Ein Flüchtling, der in Tunesien schwer gefoltert worden war und in der Schweiz Asyl gefunden hatte, hatte sie verklagt, weil sie ihm gegen den Staat, der ihm solches Unrecht zugefügt hatte, keine Schadensersatzklage ermöglichte. Der EGMR hat sich nicht getraut, dem Folteropfer Recht zu geben. BARBARA VON RÜTTE berichtet.

In Deutschland war das juristische Thema der Woche sicherlich die Entscheidung des Bundesgerichtshofs, dass eine Sparkasse in ihren Formularen ihre Kundinnen weiter als Kunden „mitmeinen“ darf. KATHARINA MANGOLD sieht das mit großem Nachdruck anders.

Dass der BGB-Standardkommentar aus dem Hause C.H.Beck immer noch „Palandt“ heißt, allen nachgewiesenen Nazi-Verstrickungen des historischen Otto Palandt zum Trotz, findet ANDREAS FISCHER-LESCANO einen regelrechten Skandal.

Den Deutschen Bundestag beschäftigt zurzeit die Frage, was mit dem strafrechtlichen Verbot geschehen soll, für Schwangerschaftsabbruch zu werben (§ 219a StGB). Was aus verfassungsrechtlicher Sicht dafür und dagegen spricht, dieses Verbot zu streichen bzw. abzumildern, untersuchen PAULA FISCHER und HENRIKE VON SCHELIHA.

Der Libanon ist politischen Kummer gewöhnt, aber wie sein Ministerpräsidenten Saad Hariri in den letzten Tagen im Konflikt zwischen Iran und Saudi-Arabien um die regionale Hegemonie im mittleren Osten herumgebeutelt wurde, war schon von besonderer Qualität. JAMAL EL-ZEIN schildert, was sich da zugetragen hat.

Apropos Gangster: Der Präsident der Philippinen, Rodrigo Duterte, hat im Namen seines Landes dem Internationalen Strafgerichtshof die Mitgliedschaft gekündigt – ein Vorgang, den LASSE SCHULDT in seinen südostasiatischen Kontext einordnet.

Duterte gehört zu jenen, die US-Präsident Trump bewundert. Dessen Absicht, die Europäische Union mit einem Handelskrieg zu überziehen, untersuchen CHRISTIAN TIETJE und VINZENZ SACHER, die warnen, sich nicht seinerseits zu einem Rechtsbruch provozieren zu lassen: „Die Gefahr ist groß, dass mit gewagten rechtlichen Begründungen auf Maßnahmen der USA reagiert und so im Ergebnis das Recht in den Welthandelsbeziehungen noch mehr geschwächt wird, obwohl es gerade jetzt um eine Stärkung der disziplinierenden Kraft des Rechts gehen muss.“

Anderswo

JAN MORAWITZ-BARDENHEUER geht dem von der AfD verbreiteten Mythos auf dem Grund, Kanzlerin Merkel habe sich wegen „Schleuserkriminalität“ strafbar gemacht, und fragt nach den Grenzen der Meinungsfreiheit.

MARKUS THIEL schüttelt den Kopf über zwei Anträge der AfD-Fraktion im Bundestag, die Zuständigkeiten der Bundesebene bei der Terrorbekämpfung zu vermehren.

Eine weitere ausführliche und sehr lesenswerte Analyse des epochalen Associação Sindical-Urteils des EuGH liefern LAURENT PECH und SÉBASTIEN PLATON.

Das kaum minder epochale Achmea-Urteil des EuGH zu Schiedsgerichten in Handelsabkommen sorgt weiter für Diskussion: CHRISTINA ECKES findet, dass die Mitgliedsstaaten CETA jetzt eigentlich nicht mehr ratifizieren können. ANDREJ LANG kritisiert, dass dem EuGH offenbar die Wahrung der Autonomie des Europarechts über alles geht. PEKKA NIEMELÄ findet, dass der EuGH die Gefahr durch Schiedsgerichte überschätzt.

WOJCIECH SADURSKI beschreibt die Woge von Peinlichkeiten, in der Polen nach der Verabschiedung des umstrittenen Holocaust-Gesetzes versinkt.

MARK WESSEL untersucht, ob die britische Regierung im Streit um den Mordanschlag von Salisbury Russland zu Recht der Gewaltanwendung im völkerrechtlichen Sinne beschuldigt. MARKO MILANOVIC beklagt die Abwesenheit der menschenrechtlichen Dimension im der Debatte um das Nervengiftattentat.

STEFAN COLLIGNON sieht im Brexit die Gräben des englischen Bürgerkriegs des 17. Jahrhunderts durchscheinen.

MIGUEL ÁNGEL PRESNO DE LINERA ist überhaupt nicht überrascht, dass Spanien vom EGMR verurteilt wurde, weil es zwei katalanische Demonstranten wegen Verbrennen von Fotos des spanischen Königs bestrafte.

INGRIDA MILKAITE analysiert ein Urteil des EGMR gegen Litauen, das die Verwendung von Jesus und Maria für Jeans- und Klamottenwerbung verboten hatte.

DOMINIK KRELL berichtet, wie sich das Recht in Saudi-Arabien unter dem Einfluss des Reform-Kronprinzen Muhammad bin Salman verändert.

SERGIO VERDUGO und JORGE CONTESSE beleuchten das Scheitern der Verfassungsreform in Chile und seine Folgen für die Kraft zur konstitutionellen Erneuerung.

In der nächsten Woche wird der EGMR sein Urteil in der Sache Alpay/Altan v. Türkei verkünden, zwei Journalisten, die in Untersuchungshaft sitzen, weil sie ihre Arbeit getan haben und obwohl das türkische Verfassungsgericht ihre Haft für verfassungswidrig erklärt haben. Şahin Alpay ist nach einem zweiten Urteil des Verfassungsgerichts mittlerweile aus dem Gefängnis entlassen worden und sitzt jetzt in Hausarrest. Wie viel für den EGMR von der Entscheidung abhängt, habe ich letzte Woche thematisiert. Wir werden die Entscheidung auf jeden Fall begleiten.

Außerdem habe ich nächste Woche das Privileg, mich in Florenz aufzuhalten und dort unter anderem das Projekt Verfassungsblog am Europäischen Hochschulinstitut vorzustellen. Darauf freue ich mich sehr und hoffe auf eine Woche, die mir etwas mehr Luft zum Schnaufen lässt als die letzten. Ich hab mir in Florenz einen Scooter gemietet, und von dem würde ich gern ein bisschen Gebrauch machen, wenn ich schon mal da bin. Ihnen einstweilen eine erfolgreiche Woche!

Ihr Max Steinbeis

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