Krise – welche Krise?

Mit mehr Gemeinsinn zur resilienten Gesellschaft

8 Minuten
Gelbe Tulpen für die Straßenarbeiter – am Rande eines neuen Popup-Radwegs in Berlin, der im Frühling 2929 während der Corona-Krise eingerichtet wurde.

In der Coronakrise orientieren sich viele Menschen stärker auf das Gemeinwohl. Für die Wirtschaft heißt das mehr Kooperation und Vernetzung, weniger Wettbewerb. Mehr Wir, weniger Ich – aus dieser Umorientierung der Menschen in der Krise entstehen neue Chancen und Innovationsmöglichkeiten.

Teil der KlimaSocial-Serie „An der Weggabelung“ – von Christiane Schulzki-Haddouti

Die Krise als Krisis (griech. Κρίσις) meint im ursprünglichen Sinne, eine Entscheidung herbeizuführen. Später verstand man darunter eine „Zuspitzung“ eines Zustands, der Entscheidungen erfordert. Akute Gefahren müssen rasch und wirksam abgewendet werden. In der Coronakrise wie in der Klimakrise geht es darum, rasch nachhaltig wirkende Maßnahmen zu finden, damit sich die Krisen nicht zu Katastrophen entwickeln.

Mehr Gemeinsinn wagen

Eine stärkere Gemeinschaftsorientierung durchzieht viele der Forderungen, die jetzt in der Corona-Krise gestellt werden: Beispielsweise veröffentlichten bereits Mitte April 170 Soziologen und Umweltforscherinnen in den Niederlanden ein Manifest [q1], in dem sie in fünf Punkten eine Umorientierung forderten – weg vom Neoliberalismus hin zu Gemeinwohl-orientierten Reformen. Sie regen an, künftig die Entwicklung von Volkswirtschaften nicht am Wachstum das Bruttosozialprodukts zu bewerten, sondern nach einem differenzierten Modell: So soll nach Sektoren unterschieden werden, die wachsen dürfen, wie etwa saubere Energie oder Bildung und Pflege, sowie Sektoren, die schrumpfen müssen, weil sie nicht nachhaltig genug sind bzw. einen übermäßigen Konsum befördern. Dazu gehören beispielsweise die von fossilen Energien dominierten Sektoren sowie Werbung.

Zum Forderungskatalog gehört auch eine stärkere Umverteilung von oben nach unten, progressive Besteuerung und Grundeinkommen inklusive. Die Wissenschaftler plädieren außerdem dafür, den Übergang zu einer zirkulären Landwirtschaft zu befördern sowie Konsum und Reisen nachhaltiger zu gestalten. Schließlich sollen Schulden erlassen werden – nicht nur gegenüber Entwicklungsländern, sondern hauptsächlich gegenüber Arbeitnehmern, Selbständigen sowie kleinen und mittleren Unternehmen. Über die Details des Schuldenerlasses, etwa die Frage, wer hier die Schulden erlassen soll, schweigen sich die Wissenschaftler allerdings aus.

In die Richtung einer gemeinschaftlich orientierten Krisenbewältigung stößt auch das Mitte Mai in Deutschland von Wissenschaftlern gegründete „Netzwerk Oekonomischer Wandel“ (NOW) mit drei Vorschlägen, um „das gute Leben für alle“ zu ermöglichen: Es fordert, Märkte am Gemeinwohl auszurichten und Profit- und Konkurrenzlogik sowie Erwerbszwang zurückzudrängen. Mit dem Vorschlag, die Commons auszuweiten, geht es noch einen Schritt weiter. Commons sind jenseits von Markt und Staat selbstorganisierte Räume der Zusammenarbeit. Beispielsweise könnte in Peer-to-Peer-Prozessen hergestellt werden, was zum Leben benötigt wird. Schließlich setzt NOW auf eine „umfassende“ Demokratisierung, die es erlaubt, „Spielregeln zu setzen, die Commons zu stärken und Märkte auf das Gemeinwohl auszurichten“. [q2]

Aufgeschlossen für nachhaltige Veränderung

Die Wissenschaftler können sich mit ihren Forderungen auf eine hohe Bereitschaft in der Bevölkerung stützen, die Wirtschaft klima- und umweltverträglicher zu gestalten. 91 Prozent der Befragten in Deutschland sagten in einer repräsentativen Umfrage Anfang Mai, dass entsprechende politische Anstrengungen jetzt notwendig seien. 84 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass Deutschland jetzt als Antwort auf die Corona-Krise in Bereiche investieren soll, die Umwelt und Klima schützen und den Klimawandel deutlich verlangsamen. 86 Prozent erwarten nun ein Konjunkturprogramm, welches ein klima- und umweltfreundliches Handeln von Unternehmen fördert. [q3] NABU-Präsident Jörg-Andreas Krüger sieht in der Coronakrise denn auch eine Chance, den nachhaltigen Wandel in der Wirtschaft umzusetzen, um sie „krisensicherer und zukunftsfähiger“ zu gestalten.

Eine Frage der individuellen Orientierung

Die gegenwärtigen Einbrüche im Wirtschaftswachstum werden jetzt gerne mit der großen Weltwirtschaftskrise in den späten 1920er Jahren verglichen. Gewaltige Rettungsprogramme wurden aufgesetzt. Noch umfassendere Konjunkturprogramme werden derzeit verhandelt. Für Politik und Wirtschaft öffnen sich damit Möglichkeitsfenster. Während es den einen darum geht, das alte Wirtschaften künftig möglichst ungebrochen weiterführen zu können, sehen andere darin eine Gelegenheit, mit Schwerpunktsetzungen die Wirtschaft auf einen Transformationskurs zu lenken. Dahinter steht auch unser Bild von Wirtschaft: Wie funktioniert sie am besten, was soll sie leisten, wem soll sie dienen?

Die Antwort auf diese Frage kann höchst unterschiedlich ausfallen. Wie ein Team um den Zukunftsforscher Klaus Burmeister in Umfragen feststellte, orientieren sich die Antworten nach der persönlichen Verfasstheit. Jemand, der grundsätzlich eine Wir-Orientierung befürwortet, wird eine Chance hin zu mehr Nachhaltigkeit erkennen. Dagegen wird jemand mit einer ausgeprägten Ich-Orientierung eher materialistische Lösungsansätze bevorzugen.

Anfang April führten Burmeisters Foresightlab und Alexander Finks ScMI AG eine Befragung [q4] zu den im Rahmen der „Initiative D2030“ [q5] entwickelten Szenarien durch. Die Szenarien beschreiben für bestimmte Teilbereiche kurz- und mittelfristige Entwicklungsperspektiven für Deutschland und wurden von über 100 Wissenschaftlerinnen, Managern, Vertreterinnen der Zivilgesellschaft und Journalisten bewertet. Zu den 33 Schlüsselfaktoren der D2030-Szenarien wurde abgefragt, ob bedeutende Veränderungen gewünscht oder erwartet werden.

Nur 7 Prozent der Experten befürchteten, dass die Corona-Pandemie eine verheerende Krise nach sich ziehen könnte. 61 Prozent der Befragten hingegen erwarten kurzfristig die Einleitung eines Strukturwandels. Hinsichtlich der langfristigen Entwicklung Deutschlands nehmen sogar 73 Prozent, dass dieser Strukturwandel eine Transformation hin zu mehr Nachhaltigkeit und Gemeinwohlorientierung einleiten wird. Nur 23 Prozent erwarten einen Rückgriff auf bestehende Denkmuster sowie eine Abschottung Deutschlands nach der Pandemie.

Die Pessimisten erwarten Werte- und Generationenkonflikte in der Gesellschaft, erläutert Klaus Burmeister gegenüber KlimaSocial. Dazu gehören eine Überlastung der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland, Protektionismus und Handelsblockaden. Optimisten hingegen sehen eine neue Arbeitsteilung zwischen ländlichen und urbanen Räumen voraus sowie neue Formen der Gemeinschaft und kultureller Offenheit. Sie erklären in der Umfrage, dass eine breite Innovationsbasis aus Konzernen und Mittelstand entsteht und dass eine digitale Erneuerung gelingen wird. Schließlich setzen sie auf eine Abschwächung der Gegensätze zwischen Ökologie und Wirtschaft sowie eine gelungene Vereinbarkeit von Wirtschaft und Klimaschutz.

„Um neue Dinge zu erproben, braucht es in der Politik eine neue Steuerungsintelligenz“, sagt Burmeister, „die an der Vernetzung der Akteure arbeitet.“ Alte Forschungsinstrumente reichten da nicht mehr aus, die bisher gepflegte Ressortforschung sei zu starr. Stattdessen müsse übergreifender, experimenteller gearbeitet und ein stärkerer Austausch zwischen Unternehmen, Wissenschaft und Zivilgesellschaft gepflegt werden, um den Lernprozess zu beschleunigen. Real- und Innovationslabore gingen hier in die richtige Richtung, wobei das Nutzerinteresse beziehungsweise das Einbeziehen der Betroffenen auf Augenhöhe wichtig sei. Entsprechend müssten Beteiligungsprozesse gefunden werden. Burmeister: „Es ist wichtig, dass Foren für dezentrale Ansätze geöffnet werden, um eine Dynamik für neue Ansätze zu finden.“

Krise als Weg in eine resiliente Gesellschaft

Für Burmeister ist übrigens die aktuelle Coronakrise keine besondere Krise, denn „wir sind eigentlich immer in der Krise“. Krise sei ein Anzeichen für Veränderung. Krise bringe Themen in die Debatte und mache sie wahrnehmbar. Daher komme es darauf an richtig zu reagieren. Das aktuelle Thema sei nun, wie Weichen für eine resiliente Gesellschaft gestellt werden können. Beispielsweise, so schlägt Burmeister vor, könne der Deutsche Bundestag dazu eine Enquête-Kommission einrichten. [q6} Diese dürfe aber nicht nur – wie gehabt – Experten hören, sondern sollte auch Bürger als „Experten des Alltags“ in den Prozess einbeziehen. Burmeister: „Niemand soll links oder rechts liegen gelassen werden, wenn es darum geht, neue Horizonte abzustecken.“

In der Kommission soll es um die großen Themen wie Arbeit, Mobilität, Rente gehen, die aber nicht mehr unverbunden nebeneinander behandelt werden sollten. Burmeister nennt vier Ziele, die verfolgt werden sollten: Erstens solle ein wertebasiertes Wirtschaften im Einklang mit der Natur erreicht werden. Dies könnten zweitens stärker dezentral ausgerichtete Lieferketten für einen fairen und nachhaltigen Warenaustausch befördern. Basis wäre drittens eine lokale, urbane, digital vernetzte und auch KI-gesteuerte Produktion und Distribution. Viertens könnte ein freier Daten- und Wissensaustausch von Bürgern, Unternehmen und Staat als Grundlage für Innovation und Kreativität in einer solidarischen Weltgesellschaft dienen.

Krise der „Ich“-Orientierung

Spannend ist Unterscheidung der D2030-Szenarien nach „Wir“-orientierten Optimisten mit bürgernahen Entscheidungen und hohem Umweltbewusstsein sowie „Ich“-orientierten Pessimisten, die von Materialismus und traditionellem Konsumverhalten geprägt sind. Es ist eine Kernfrage der Zukunftsforscher, ob es künftig „zu einer Wiederentdeckung der Allgemeinheit“ kommen könnte. In den Antworten der Befragten verteilen sich verschiedene Szenarien für die gesellschaftlich-ökonomische Entwicklung in einem Raum, der von der Achse der Wir-Ich-Orientierung und der Global–Regional-Dimension aufgespannt wird.

Grafik mit einer sogenannten „Landkarte der Zukunft“ auf der verschiedene (nummerierte) Zukunftsszenarien verortet werden, die sich entlang der Achse Wir-Ich-Orientierung sowie der Achse Global-Regional gruppieren. 
Quelle: Burmeister et al.: Deutschland neu Denken. 2018
„Landkarte der Zukunft“ auf der verschiedene (nummerierte) Zukunftsszenarien verortet werden. Diese gruppieren sich entlang der Achse Wir-Ich-Orientierung sowie der Achse Global-Regional. (aus: Burmeister et al.: Deutschland neu Denken. 2018)

Der MIT-Forscher Otto Scharmer setzt mit seiner Arbeit genau an der Achse von „Ich zum Wir“ an. Im Interview mit KlimaSocial [q7] sagte er: „Ich habe bislang immer erlebt, dass wenn man wirklich an seine moralischen Quellen herangeht, automatisch ein Umschwung des Bewusstseins von Ego zu Eco stattfindet, also von einer Silo-Perspektive hin zu einer systemischen Sicht.“

Scharmer arbeitete auch heraus, warum Links-Rechts-Unterscheidungen bei der Analyse von aktueller Politik und Parteien weniger erhellend sind als Unterscheidungen nach Offenheit und Geschlossenheit [q8]. Ich-zentrierte Menschen bevorzugten überschaubare, geschlossene Denkräume, in denen Abschottung gegenüber anderen wichtig sei. „Geschlossen“ bedeute eine Denkweise, die den Dreiklang von Furcht, Hass und Unwissenheit verstärke, schreibt Scharmer. Dies gehe damit einher, die Schuld für alles Mögliche gerne „den Anderen“ anzulasten. Damit verbunden finde sich ein zerstörerisches Verhalten, das sich gegen andere Menschen oder auch gegen die Umwelt richte.

Wir-zentrierte Menschen hingegen öffneten sich für andere Perspektiven, hat Scharmer in vielen Workshops beobachtet. Die Bewältigung komplexer Herausforderungen erfordere eine Öffnung des Herzens, des Verstands und des Willens, sagt Scharmer. Damit einher gehe die Bereitschaft, die Gegebenheiten nicht nur vom eigenen Standpunkt aus zu betrachten, sondern auch aus dem Blickwinkel anderer Beteiligter. Gutes Zuhören ist übrigens ein wesentliches Element, das Scharmer in seiner Presencing-Methode aufgreift, die Menschen dabei unterstützt, aus einer starken „Ich“-Zentrierung herauszufinden. [q9]

Die gegenwärtige Coronakrise ist vergleichsweise überschaubar, wenn man sie mit der Klimakrise am Horizont vergleicht: Diese dürfte die Menschen nicht nur auf wenige Jahre, sondern über Jahrzehnte, ja Jahrhunderte herausfordern. Die Zukunftsbilder und Instrumente, die jetzt in der Beantwortung der Coronakrise entwickelt werden, könnten der Menschheit helfen, der Klimakrise angemessener zu begegnen. Voraussetzung ist jedoch eine Öffnung, ein optimistischer Blick über den eigenen Tellerrand hinaus – und der Mut, sich von überkommenen, „Ich“-orientierten Vorstellungen zu lösen. Dann kann der Weg in eine resiliente Gesellschaft und Wirtschaft gelingen.

VGWort Pixel