„Vielleicht sind die Väter auch eher Mütter als Väter“

Langversion: Interview mit Regisseurin Mirjam Schmuck über ihr Gaia-Projekt, das Mutter-Sein und das Aufweichen von Kategorien und Schubladen

25 Minuten
Es ist ein Schwarz-Weiß-Portrait der jungen Gesprächspartnerin aus dem Interview. Sie blickt nach links aus dem Bild hinaus und lächelt leicht. Ihre dunklen Locken fallen locker auf die nackten Schultern, denn sie trägt ein schwarzes Trägerhemdchen. Nur ihr Gesicht und einige der der Locken sind scharf gestellt. Der Rest des Bildes ist unscharf.

Für die diesjährigen Ruhrfestspiele beschäftigt sich die Theatermacherin Mirjam Schmuck zusammen mit zehn weiteren Künstlerinnen aus sechs Nationen mit dem Thema „Mutterschaft“ – und bringt so verschiedene Aspekte ihres Lebens zusammen. Mit ihrem Mann Fabian Lettow bildet sie die freie Gruppe kainkollektiv. Dabei machen die beiden als Regisseurin und Regisseur/Autor Theater, oft zusammen mit dem lose verbundenen kain-ensemble. Das ist ein kreativer Pool mit rund 20 Künstler:innen „aus unterschiedlichsten Disziplinen zwischen Tanz, Medienkunst, Schauspiel, Komposition“, die mit dem Künstlerpaar in wechselnden Konstellationen zusammenarbeiten. Beim Projekt für die Ruhrfestspiele sind es ausschließlich Frauen. Fabian ist nicht mit dabei, weder bei Premiere noch Interview, sondern steht im Stau. Eine Folge davon ist, dass der gemeinsame Sohn Jarek anders als geplant in der Zimmertür bei Mirjam auftaucht. Kinderbetreuung als Balanceakt: Wie alle Eltern müssen auch Mirjam und Fabian, die noch eine Tochter haben, Familie und Job mit Proben und Theater abstimmen – und dies nie mehr als während der Coronakrise.

Ein Gespräch über Kinder, Fürsorge, Erwartungen, Erlebnisse, Zeiteinteilung, Organisation – und Kunst.

Dies ist die Langversion. Die Kurzversion findet sich hier.

Mirjam, du hast zwei Kinder. Wie alt sind sie und gehst du mit ihnen als Regisseurin auch ins Kindertheater?

Die werden acht und fünf. Und ja, ich gehe ganz viel ins Theater mit ihnen. Das Eine ist natürlich, dass sie immer in mein Theater müssen. Wir suchen aber auch extra Kinderstücke aus. Schon bevor ich Kinder bekommen habe, habe ich Theater für Kinder gemacht, vor allem Musiktheater an der Kinderoper in Dortmund. Das war immer schon ein Feld, das ich stiefmütterlich behandelt fand. Vor einigen Jahren habe ich dann das Kinder- und Jugendtheater MOKS in Bremen kennengelernt und festgestellt: Es geht auch anders. Es gibt Theater, das sich qualitativ und auch vom eigenen Anspruch her super mit dem Theater, was wir machen, verbinden lässt. Weil es sowohl Theater für die Großen als auch die Kleinen ist.

Welches Theater macht ihr?

Ein Theater, das sehr interdisziplinär versucht, auf verschiedenen Ebenen zu erzählen. Ein Theater, das – wie ich es oft positiv im Kinder- und Jugendtheater erlebe – sehr offen ist und den Blick nicht lenkt, keine moralische Keule am Ende hat oder eine Linie, die durcherzählt werden soll. Sondern wenn die Zuschauer sehr frei sind. Das können Kinder natürlich besonders gut. Die entscheiden sich ja nicht für eine Lesart, sondern sind erst mal offen. Und gucken nicht sofort, ob die Dramaturgie perfekt stimmt. Sie lassen erst mal verschiedene Eindrücke auf sich wirken und haben nicht das Gefühl, dass sie was verpassen oder nicht verstanden haben, sondern berichten erst mal vom Erlebten. Das ist es, was wir uns von den Zuschauern für unser Theater auch wünschen.

Hat sich euer Theater verändert, seitdem ihr Kinder habt?

„Ich bin gleichzeitig radikaler und verletzlicher geworden“

Ja. Gut ist, dass wir zum Teil auch in der künstlerischen Arbeit schneller und pragmatischer Entscheidungen treffen müssen. Schließlich haben wir jetzt ein ganz anderes Zeitmanagement und können nicht mehr an einer Szene bis nachts um fünf Uhr sitzen. Der Pragmatismus und der veränderte Rhythmus tun unserem Theater gut. Und natürlich glaube ich, dass man sich als Eltern verändert. Das heißt nicht, dass „Mutterschaft“ ständig Thema in meinem Theater ist. Aber ich glaube, ich bin gleichzeitig radikaler und verletzlicher in meinem Frau-Sein geworden.

Wie meinst du das?

Ich wünsche mir mehr große Würfe, Fragestellungen, aber auch Ideen und Vorschläge zum Thema: Wie kann eine andere Realität, eine andere Welt aussehen, in der Kinderhaben sinnvoll ist? Zum anderen sind mir die Sachen, die ich schöpfe, wichtiger geworden. Ich bin jetzt auch verletzlicher, wenn Kritik kommt. Weil die Zeit, die ich mich entscheide, im Theater zu verbringen, immer Zeit ist, die ich nicht bei meinen Kindern verbringe, und beides sind mir sehr wertvolle Momente.

„Etwas stimmt nicht. Etwas ist kaputt. Ich fühle es.“ Audiospur-Ausschnitt (4:23min) aus dem „Gaia-Projekt“. Der Film dazu zeigt im Graphic-Novel-Stil die (fiktive) Geschichte der Kinder.
Filmstill aus dem „Gaia-Projekt“ des Theaterduos kainkollektiv: Die in Berlin und Kanada lebende Tänzerin Catherine Jodoin steht in ihrem Wohnzimmer in einem bunten Tutu und steckt sich die Haare hoch. Hinter ihr ein Poster mit einer Tänzerin. Die linke Bildhälfte nimmt eine Schrankwand ein. Daneben steht hinter ihr ein Sofa, an der Seite eine Kiste mit Spielzeug.
Die Tänzerin Catherine Jodoin (Kanada/Berlin) in einem Filmstill des „Gaia-Projekts“ von kainkollektiv.
Eine Frau steht in einem prachtvollen rot-violetten Kostüm im Wald und blickt nach rechts. Hinter ihr ist es sehr dunkel, nur das Gras zu ihren Füßen zeigt ein saftvolles Grün. Sie trägt einen Helm mit einem Geweih, das rötlich schimmert.
Die kamerunische Schauspielerin Edith Nana Tchuinang Voges lebt in Deutschland. Hier hat sie ihr Kind bekommen und das deutsche Konzept von Mutterschaft kennengelernt. Ihr Kostüm im Gaia-Projekt stammt von der kroatischen Kostüm- und Bühnenbildnerin Zdravka Ivandija Kirigin.
Ein Foto aus dem Gaia-Projekt: Eine Frau in einem weißen Oberteil mit Perlen brüllt, ruft, schreit nach vorn, rechts am Betrachter vorbei. Sie trägt einen Kopfschmuck mit Stirnband und transparentem (Plastik?-)Schleier.
Die Musikerin, Elektrosoundkünstlerin und Komponistin Sara Bigdeli Shamloo aus dem Iran hat aus Paris, wo sie lebt, zum Gaia-Projekt beigetragen. Sie ist nicht Mutter.
Es ist ein Schwarz-Weiß-Portrait der jungen Gesprächspartnerin aus dem Interview. Sie blickt nach links aus dem Bild hinaus und lächelt leicht. Ihre dunklen Locken fallen locker auf die nackten Schultern, denn sie trägt ein schwarzes Trägerhemdchen. Nur ihr Gesicht und einige der der Locken sind scharf gestellt. Der Rest des Bildes ist unscharf.
Mirjam Schmuck ist 1984 geboren und hat Theaterwissenschaft und Komparatistik an der Ruhr-Universität Bochum und der Université Charles-de-Gaulle in Lille studiert. Sie arbeitet seit 2005 als Regisseurin, Dramaturgin, Musikerin und musikalische Leiterin in Theaterproduktionen in Mülheim, Bochum, Dortmund, Moers, Stuttgart, Köln, Varaždin und Krakau. In ihrem jüngsten „Gaia-Projekt“ beschäftigt sie sich mit Gendertheorie und Feminismus.
Eine Frau blickt durch ein Fenster von außen nach innen. Ihr Gesicht kann man aber nicht erkennen. Denn die Gesichtszüge sind mit groben Zügen und einem dicken Pinsel auf die Scheibe gemalt, nach dem Muster Punkt-Punkt-Komma-Strich.
Videostill aus dem Gaia-Projekt des kainkollektivs