„Sie war echt ein schlaues, aufgewecktes Mädchen.“

Interview für Kinder und junge Menschen zu Anne Frank auf der Bühne

10 Minuten
Eine junge Frau mit langen Haaren sitzt nachdenklich im Schneidersitz vor einer weißen Wand. Dahinter sitzt wie ein Schatten eine weitere Schauspielerin. Um sie herum fliegen Notizblätter. Das Bühnenbild von Ansgar Prüwer spiegelt, was Anne Frank sich vorstellt.

„Liebe Kitty“ ist eine Art Tagebuch, das ein fünfzehnjähriges Mädchen vor rund 75 Jahren geschrieben hat. Es ist nie fertig geworden, denn Anne, die Schriftstellerin, ist mit 15 Jahren im Konzentrationslager Bergen-Belsen gestorben. Anne Frank war Jüdin und wurde mit ihrer Familie von den Nationalsozialisten verfolgt.

Wie kann man dieses Buch auf eine Theaterbühne bringen? Noch dazu, wenn die Theater wegen Corona geschlossen haben? Man streamt am Tag der Premiere eine Voraufführung als öffentliche Probe im Internet – kostenlos, für alle, überall.

Regisseur Jan Gehler und Schauspielerin Natalie Hanslik über Anne, ihr Leben und ihre Zeit. Darüber, wie Proben zu Zeiten von Corona stattfinden und wie sich das auf die Aufführung des Düsseldorfer Schauspielhauses auswirkt. Und wie man Annes Geschichte in der Gegenwart lesen kann.

Christiane Enkeler: Ihr kommt gerade von der Probe „Liebe Kitty" von Anne Frank.

Jan Gehler: Heute war es das erste Mal, dass wir komplett durch unser Stück gegangen sind. Das macht man immer drei-, viermal vor einer Premiere. Zum ersten Mal waren heute alle da. Nicht nur die Schauspielerinnen und Schauspieler, sondern auch die, die für Licht, Ton und Bühnenbild zuständig sind.

Natalie Hanslik: Das erste Mal hatten wir die Originalkostüme und sind auch in die Maske gegangen vor der Probe. Wie bei einer echten Vorstellung.

CE: „Liebe Kitty“ heißt das Stück. Wer ist denn Kitty?

Natalie: „Kitty“ hat Anne Frank ihr Tagebuch genannt.

CE: Das klingt wie ein Brief. Aber was ihr macht, soll ja ein Theaterstück sein…

Jan: Anne Frank wollte vor langer Zeit, vor etwa 75 Jahren, aus ihren Tagebüchern eine Art Briefroman schreiben. Sie ist aber nicht fertig geworden, weil sie in ihrem Versteck in Amsterdam entdeckt wurde. Dieser Briefroman ist vor ein, zwei Jahren in einer neuen Übersetzung herausgekommen. Wir wollen jetzt fortführen, ihre Sichtweise zu zeigen, mit Hilfe der Briefe.

„In der Zeit des Nationalsozialismus wurden Juden verfolgt."

CE: Warum musste sich Anne denn verstecken?

Natalie: Anne war Jüdin. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden Juden verfolgt. Auch wenn sie nicht in einer besonders religiösen Familie aufgewachsen ist, war sie für die Nationalsozialisten eine Jüdin durch Geburt, durch ihre Eltern, durch ihre Familie. Sie und ihre gesamte Familie mussten deswegen ins Versteck. Juden wurden von den Nationalsozialisten, den Nazis, verhaftet, in Lager gesteckt. Ihnen wurden alle Sachen weggenommen, ihr ganzes Leben wurde ihnen weggenommen.

CE: Aber als Anne in das Versteck gegangen ist, war sie ja sehr jung. Sie musste doch eigentlich auch zur Schule.

Jan: Ja, sie musste zur Schule. Aber sie war auch vorher schon, bevor sie sich versteckten, aus Deutschland geflohen mit ihrer Familie. Geboren ist sie in Frankfurt am Main in Deutschland. Aber der Vater und die Mutter von Anne Frank, und sie hat auch noch eine ältere Schwester, Margot, die haben schon gewusst, dass schlechte Zeiten für alle Jüdinnen und Juden anbrechen. Deswegen sind sie nach Amsterdam geflohen.

Da hat Anne auch eine neue Sprache gelernt, Niederländisch. In den Niederlanden ging das dann schrittweise, dass zuerst alle Jüdinnen und Juden nicht mehr in normale Schulen durften, sondern in extra Schulen gehen mussten. Dann kam ein Aufruf von den Nazis für die Schwester von Anne, dass diese sich vorstellen und zum Arbeitseinsatz nach Deutschland „verschwinden" sollte. Da hat dann die Familie entschieden: Okay, wir gehen jetzt in ein Versteck. Wir wollen als Familie zusammenbleiben und wir wollen nicht, dass uns was Schlimmes passiert. Damit waren dann aber auch die Schule und alle Freundinnen und das ganz normale Leben von einem Tag auf den anderen für Anne und ihre Familie vorbei.

„Wir wollen als Familie zusammenbleiben."

CE: Du kannst alle deine Freunde nicht mehr sehen…

Jan: Nicht mehr draußen spielen. Dich mit niemand anderem unterhalten als mit deiner Schwester und mit deinen Eltern. Eine Woche später kam in das Versteck noch eine andere Familie, die einen Sohn hatte, der ein bisschen älter war, 16, also waren sie zuerst sieben im Versteck und später acht. Insgesamt waren sie fast zwei Jahre zu acht in diesem Versteck. Bis auf ein paar Helferinnen und Helfer, die sie immer mal mit Essen versorgt haben und Büchern und Nachrichten von draußen, hatten sie keinen Kontakt zur Außenwelt.

CE: …sehr eng zusammengepfercht.

Natalie: Ja, es waren, glaube ich, ein, zwei, vier Zimmer und ein Waschraum, aber winzig klein. Man muss sich das wirklich vorstellen: Die haben am Abend die Möbel umgebaut zu Schlafstätten und Betten und tagsüber das wieder weggeräumt, um da irgendwie SEIN zu können. Also da war nicht viel Platz. Man konnte sich nicht groß aus dem Weg gehen.

Jan: Sie mussten auch sehr leise sein, weil das Versteck im Hinterhaus der alten Firma von Annes Vater war. Er hatte sie Freunden gegeben, damit sie nicht den Nazis in die Hände fällt, weil die Nazis sich auch jeglichen Besitz von allen Jüdinnen und Juden gekrallt haben. Annes Vater hatte ein Mittel zur Marmeladenherstellung verkauft und später auch Gewürze. Und in diesem Hinterhaus, das nur einen kleinen Eingang hatte, eine kleine Verbindungstür, vor die aber ein großes Bücherregal gestellt wurde, da waren die acht Versteckten. Wenn die Arbeiter – denn in der Firma wurde ja ganz normal gearbeitet – gearbeitet haben, dann mussten die Familien, die Versteckten, die ganze Zeit wahnsinnig ruhig sein. Die Arbeiter durften ja nicht wissen, dass sich da jemand versteckt.

Jan Gehler guckt mit Bart, braunem Hoodie und roter Mütze in die Kamera. Im Hintergrund ein See, am anderen Ufer ein paar Bäume.
Das ist der Regisseur des Theaterstückes „Liebe Kitty“ nach dem unvollendeten Roman von Anne Frank: Jan Gehler. „Ich gebe hier als Regisseur ein paar Spielregeln vor und schärfe in den Proben eher ein Gefühl für die Gruppe“, beschreibt er seine Aufgabe in Düsseldorf. Er ist 1983 in Gera geboren und inszeniert ein Stück nach dem anderen. Das hat er studiert.
Eine junge Frau sitzt nachdenklich auf der Bühne vor einer weißen Wand. Hinter ihr ist ein Schatten, der in einem Buch liest. Das Bühnenbild von Ansgar Prüwer zeigt weitere Seiten von Anne.
Natalie Hanslik spielt Anne. Aber sie spielt nicht nur Anne, sondern auch deren Mitbewohner:innen im Versteck. Und sie ist nicht die einzige, die Anne spielt. Es ist so: Der ganze Text ist von Anne Frank. Alle sechs Schauspieler:innen teilen sich den Text auf. Das entscheiden sie oft erst im Moment. Natalie sagt: „Dieses ganze Thema ist unbeschreiblich traurig und grausam. Aber in den Texten, die Anne geschrieben hat, stehen nicht nur ganz schlimme Sachen. Es ist auch manchmal lustig. Die machen auch Witze. Sie kommt irgendwann in die Pubertät und es passieren Dinge mit ihr… das sind Dinge, die jedem Mädchen passieren, auch heute.“