Google macht sich zum Schwerezentrum der Medizin von morgen

Die Firma aus dem Silicon Valley hat die zielgenaue Werbung erfunden. Dafür überwacht sie ihre Nutzer. Nun nutzt Google sein Know-how über Datenanalyse, um Ähnliches in der Medizin zu tun.

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Ein Kameraauge als Symbol für digitale Überwachung

Google hat mit seiner Suchmaschine die Welt verändert. Mit weniger gibt man sich im Silicon Valley auch nicht zufrieden. „Disruption“ heißt das Mantra südlich von San Francisco. Damit ist radikale Innovation gemeint. Nicht bloß ein zusätzliches innovatives Produkt, das dem Baum des Konsums ein neues Zweigchen wachsen lässt. Nein, Disruption meint, mit der etablierten Art und Weise zu wirtschaften, völlig zu brechen. Einen Markt zu zerstören, um ihn neu aufzubauen und einen möglichst großen Teil der Profite abzuschöpfen.

Das hat Google zuerst mit der Werbung getan. Dank der Datenspuren, die Nutzer von Googles Suchmaschine hinterlassen, lernen Googles Algorithmen deren Verhalten kennen und können sie daraufhin individuell ansprechen. Googles Algorithmen sagen treffsicher voraus, welche Werbung von welchem Nutzer angeklickt wird. Mit der zielgenauen Werbung hat sich die klassische Massenkommunikation über Plakatwände und dergleichen weitgehend erledigt.

Mit seiner Art, Daten über das Verhalten eines Kunden durch künstliche Intelligenz in Prognosen über seine Reaktion auf Werbeanzeigen zu verwandeln, habe Google eine neue Form des Kapitalismus gegründet, meint die US-Ökonomin Shoshana Zuboff. Diesen nennt sie „Überwachungskapitalismus“.

Disruption in der Medizin

Nun will der Suchmaschinengigant das Modell offenbar auf einen anderen Markt ausdehnen. Auf ein Thema, bei dem es um mehr geht, als die Wahl zwischen einer blauen oder einer roten Bluse, sondern oft um Leben und Tod. Auf eine Angelegenheit, die jeden Menschen betrifft. Die Rede ist von Medizin und Gesundheit. Auch dieser Markt steht, bildlich gesagt, vor dem Wandel von der Plakatwand zur Hinwendung zum Individuum.

Einiges deutet darauf hin, dass Google dies, ähnlich wie schon bei der Werbung, durch eine Art datengetriebene Gesundheitsüberwachung erreichen will.

Was sucht eine Firma, bei der sich alles um Bits und Bytes dreht in einem Feld, bei dem der greifbare, höchst analoge Körper im Mittelpunkt steht? Diese Frage zielt in den Kern der Disruption, vor der die moderne Heilkunst steht. Ihr neues Fundament sollen Daten sein. Darauf sollen zwei neue Gebäudeteile stehen: Präzision und Prävention. Beiden Aspekten widmet Alphabet sich mit dem typischen „Think Big“ des Silicon Valley.

Präzision: Digitale Zuwendung

Was ist mit Präzision gemeint? Viele Patienten dürften das Gefühl kennen, eine Nummer zu sein. Sätze, wie „Der Leberkrebs auf Zimmer 12“ mögen ein Klischee sein, doch sie dürften so oder ähnlich täglich an Kliniken fallen. Die Präzisionsmedizin soll das radikal ändern. Ähnlich wie in der Werbung wendet sie sich von der Masse ab, und den Eigenheiten des einzelnen Patienten zu. Autorenfilm statt Blockbuster, sozusagen. Man spricht auch von „personalisierter Medizin“.

Feinkörnige Daten zeigen individuelle Charakteristika der Krankheit eines Patienten, die sich therapeutisch nutzen lassen. Minimale Unterschiede im Kontrast auf Röntgenaufnahmen der Lunge etwa zeigen an, ob eine bestimmte Therapieform gegen Lungenkrebs bei dem Betroffenen anschlagen kann oder nicht. Ein Arzt kann diese Feinheiten nicht erkennen, ein Algorithmus an der Uniklinik Essen hingegen schon.

Vielen Krankheiten liegt ein sehr komplexes molekulares Geschehen zugrunde. Das macht Prognosen schwierig. Bei überstandenem Brustkrebs zeigen 70 Gene das Risiko an, dass die Krankheit nach Jahren wieder aufflammt. Ob ein Neuroblastom, ein Kinder befallender Tumor, sich aggressiv ausbreitet oder gutartig bleibt, lässt sich noch schwerer vorhersagen. Fast 200 Gene steuern die Biologie dieses Krebses. Wer einen Patienten gezielt behandeln will, muss ihn genau vermessen und die Daten effizient verarbeiten. Dass das in jedem Fall zu einer Therapie führt, die dem Patienten auch nützt, lässt sich allerdings nicht sagen. Jede einzelne personalisierte Behandlungsform muss, wie herkömmliche Methoden auch, in klinischen Studien auf ihre Wirksamkeit hin untersucht werden.

Alphabet kann die zentrale Rolle in diesem Prozess spielen: Die digitale Vermessung von Patienten ist wie geschaffen für die Datenprofis des Konzerns. Muster in großen Datenmengen zu erkennen ist ihr Kapital. Zu diesem Zweck entwickeln sie Algorithmen, zum Teil lernfähige, und auch Hardware: Chips, die lernfähige Software besonders effizient ausführen.

Dem einzelnen Kranken scheint das auf den ersten Blick wenig zu bringen. Ein Patient ist zunächst nur ein individueller Datenpunkt, der für Alphabet wenig Bedeutung hat. Interessant sind für den Konzern Millionen oder Milliarden Datenpunkte. Nur in derart großen Datenmengen lassen sich auch dünn gesäte Regelmäßigkeiten aufspüren, die bei Betrachtung nur weniger Patienten nicht hervortreten. Die Patientengruppen, die einem bestimmten Muster entsprechen werden immer kleiner. Hier schließt sich der Kreis: Der einzelne Patient kann einer kleinen Gruppe zugeordnet werden und erhält dadurch eine sehr viel personalisiertere Behandlung als heute üblich. Obwohl es sich also um eine Art Kleingruppen-Medizin handelt, hat sich hierfür der Ausdruck „personalisierte Medizin“ eingebürgert.