Aufbruch in eine neue Welt des Journalismus

Wir leben in einer Welt der vernetzten Dinge. Was heißt das für den Journalismus?

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Eine Miniatur-Reporterin befragt Elektronik

Vor zwei Jahren habe ich mich mal vier Stunden mit einer Barbie unterhalten. Ich bin heute noch verblüfft, wie viel sie zu erzählen hatte zu amerikanischer Geschichte, dem Schutz der Elefanten und den Folgen der Globalisierung. Eine weltgewandte Gesprächspartnerin im Körper einer Plastikpuppe. Und glauben Sie mir, ich bin nicht bekloppt.

Eine sprechende Barbie-Puppe mit Ada Lovelace T-Shirt
Die Hello Barbie als Ada-Lovelace-Fangirl

Die unbelebte Welt um uns erwacht. Sensoren machen das Inventar unseres Lebens zu Zeugen unseres Alltags – jeden Schuh, jeden Mixer, jedes Fitnessarmband. Die Vernetzung der Dinge trägt ihre Aufzeichnungen ins globale Netz, zu denen, die ihre Daten analysieren und darauf Geschäftsmodelle gründen. So entsteht das “Internet der Dinge” (englisch: internet of things, meist IoT abgekürzt).

Rasant und und unaufhaltsam erobert es unseren Alltag. Der Punkt ist nicht mehr weit, an dem wir die vernetzten Dinge einfach nur noch Dinge nennen, schreibt der Journalist Alex Handy. Er hat Recht, denke ich. Und wir Journalisten? Wir stehen bislang am Rande der Szenerie, beschreiben, was sich das entwickelt. Das ist gut so. Aber wir könnten so viel mehr: Lasst uns das Internet der Dinge erobern!

Eine kleine Kamera ist an einem Schrank befestigt.
Das Nachrichtenmöbel sMirror erkennt die Morgenroutine und spielt passende Inhalte aus.
“The Internet of Things is slowly working its way into our lives, to the point where we’ll just call them Things.“ – Alex Handy, Journalist

Ich nenne das Erzählen mit Hilfe des Internets der Dinge den “Journalismus der Dinge” (Journalism of things, JoT). Es ist keine bloße Spielart des Datenjournalismus, es geht nicht allein um eine neue Form alter Ausspielgeräte oder ein neues Steuerungskonzept mit Sprache statt Knöpfen. Es geht um viel mehr. Denken Sie kurz daran, wie das Internet den Journalismus verändert hat. Wie es war, als wir ohne den Anschluss in der Tasche durch die Welt gelaufen sind. Wie unwirklich es erschien, dass das Internet einmal der Kern des journalistischen Alltags sein würde. So ergeht es uns heute wieder mit dem Internet der Dinge. Es ist da, es breitet sich aus – und setzt an, auch den Journalismus zu verändern.

Denn das Internet der DInge wird ebensowenig verschwinden wie das Netz. Die Zahl vernetzter Gegenstände um uns herum nimmt ständig zu. Expertinnen rechnen damit, dass es im Jahr 2022 schon 25 Milliarden Gegenstände sein werden. Schon heute sind Autos im Internet der Fahrzeuge verbunden und tauschen Stau und Blitzeis-Informationen aus, Heizungsthermostate bekommen im Internet of Home aktuelle Wetterinformationen von Temperatursensoren, Küchenmixer bestellen im Internet of Food die Zutaten für das Trendrezept aus dem Netz.

Mädchen mit Tonie-Box
Tonie-Box statt Kassettenrekorder: Eine perfekte Plattform für Kinder-Journalismus
"Es sollte uns klar sein: Das Internet der Dinge wird nicht, wie das gesamte Internet, wieder verschwinden. Als Medien-Unternehmen müssen wir beginnen darüber nachzudenken, wie diese Technologien uns helfen können, die Welt besser zu informieren.” – Francesco Marconi, Strategy Manager bei Associated Press

Die Welt der vernetzten Dinge wird zur neuen Quelle für den Journalismus. Noch nie zuvor lagen die Stoffe, aus denen Geschichten sind, näher, nie waren sie zahlreicher, nie umfassender. Die Dinge um uns herum sind zu Trägern von Geschichten geworden. Nicht nur die unbelebte Natur, auch die belebte, nicht-menschliche Welt kann sich dem Menschen mitteilen: Nashörner zum Beispiel sind im Internet of Rhinos vernetzt, um sie vor Wilderei zu schützen.

Ob aus dem Inneren des Vogelzugs auf den Highways des Himmels oder tief im Pazifik von den Wanderungen des Weißen Hais, ob aus dem Dschungel von Borneo oder auf Radhöhe im Verdrängungskampf auf den Straßen Berlins, ob mit Fitnessarmband in geheimen Militärbasen oder mit Sensoren im Pansen der Milchkuh: Plötzlich können wir Journalistinnen Geschichten erzählen, die näher dran sind, als ein menschlicher Reporter je herankommen könnte. Präzise gemessen durch Sensoren, rund um die Uhr, an jedem Tag des Jahres, mit annähernd gleichbleibender Präzision – und das live.

Reporterbox mit Sensoren vor Kuh
Rind erkannt: Die Reporterbox im Feldeinsatz

Es ist der Journalismus der vernetzten, nicht-humanen Welt: Willkommen im Journalismus der Dinge!

Datenlogger in Flüssen, Städte mit Schusswaffen-Sensoren, Fahrräder mit Abstandssensoren und Hauskatzen mit Kameras: Sie alle sind Rechercheure in unserem Leben. Schon heute ist die die Vielfalt der neuen Perspektiven atemberaubend. Das macht das Internet der Dinge für Journalismus so aufregend – und manchmal auch erschreckend.

Genau das aber zeigt uns, wie mächtig dieses Paradigma ist. Und wie anspruchsvoll. Der Journalismus der Dinge nutzt die Bereiche der vernetzten Welt, die nicht über grafische Benutzeroberflächen zugänglich sind. Jenseits unserer herkömmlichen Browserfenster kommunizieren die Dinge in Protokollen wie I2C, UART und Zigbee, sie fädeln sich ein in den Datenstrom zwischen Youtube-Videos und unseren E-Mails oder nutzen eigene Netze wir Lora.

Manche dieser Netze sind beschränkt auf eine Werkshalle, einen Kuhstall, ein Wohnzimmer. Andere sind ans globale Internet angebunden. Gemeinsam ist ihnen die Menge der Daten. Und dass sie den Menschen, die sich in ihnen bewegen, Anschlusspunkte zur Verfügung stellen.

Wobei hier eine für den Journalismus wichtige Unterscheidung notwendig ist: Den Zugang haben zunächst nur bestimmte Menschen. Die Maschinenbedienerin kann den Status der vernetzten Maschine sehen, die Standzeit der Werkzeuge und die Probleme in der Lieferkette. Der Milchbauer kann die Leistungskurve seiner Milchkuh sehen, ihre Entwicklung, ihre Gesundheitsdaten. Und die Bewohnerin eines Smarthome kann ihre Gewohnheiten studieren, das Schlafverhalten vielleicht oder die Frequenz des Wäschewaschens, den Energieverbrauch und die Außer-Haus-Zeiten.

Doch das heißt nicht, dass diese Zugänge auch Reportern offen stehen. Oftmals werden sie gehütet wie Tagebücher – und das ist auch gut so. (Die investigativen Fälle, in denen das nicht so ist, werde ich später behandeln.) Wie bei jeder guten Geschichte müssen sich die Protagonisten auch im Journalismus der Dinge ein Stück öffnen und ihre Daten preisgeben.

Prototyp der Steuereinheit Storytrolley wie er durch einen Supermarkt fährt.
Der Storytrolley bringt Journalismus in den Supermarkt

In dieser Koralle werde ich Reporterinnen, Leserinnen und Redaktionen das Basiswissen für den Journalismus der Dinge liefern. Vom kostengünstigen Projekt für die Lokalredaktion bis zum Großprojekt fürs Fernsehen: Wie können vernetzte Gegenstände den Journalismus bereichern? Wie sehen Formate, Dramaturgien und Stories von und mit Gegenständen aus? Wie kann Journalismus für das Nachrichtenmobiliar von Morgen funktionieren?

Es wird in dieser Koralle in den nächsten Monaten um Geräuschsensoren gehen, die Zikaden erkennen und andere Sensoren, die Schussgeräusche detektieren, um Sensoren in Limonadenflaschen und an Wetterballons, um Displays in Frühstücksbrettchen und sprechende Spielzeugpuppen, um Soundsensoren auf dem Meeresgrund, Fitnessarmbänder beim Geheimdienst und Abstandssensoren am Fahrrad, es wird um die großen Würfe gehen und Hands-on-Innovationen.

Ich werde hier das Basislager aufschlagen für die Expedition in den Journalismus der Dinge, werde beobachten, beschreiben und das Gepäck schnüren für alle, die sich vorwagen mögen. Unser Ausflug in die Welt der Dinge wird nicht bequem, nein. Und nicht einfach. Aber wie alle Entdecker müssen wir uns ins Internet der Dinge wagen mit dem besten Rüstzeug, das wir haben: unserer Neugier.

(Eine Version dieses Artikels erschien im Medium Magazin 6/2018.)

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