Immun oder nicht immun?

Die Infektionszahlen in Deutschland steigen. Unklar ist immer noch, wer nach einer überstandenen Infektion, wie lange vor einer erneuten Ansteckung mit Sars-CoV-2 geschützt ist.

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Mit Hilfe einer Pipette wird in einem Labor unter sterilen Bedingungen ein Test auf Antikörper gegen das neue Coronavirus durchgeführt. Zu sehen eine Multipette, mit der kleine Mengen eines Testreagenz in die Probengefäße gegeben werden können.

Sind wir nun immun, wenn wir eine Ansteckung mit dem neuen Coronavirus überstanden haben, oder sind wir es nicht? Die Meldungen über Sars-CoV-2 klingen zurzeit widersprüchlich. Forscher sehen auf der einen Seite zwar Hinweise auf eine langanhaltende Immunität. Auf der anderen Seite wird aber vereinzelt von Infektionen bei Menschen berichtet, die Covid-19 eigentlich bereits hinter sich hatten. Was wissen wir über den Immunschutz gegenüber Sars-CoV-2? Warum ist es so schwierig, eindeutige Aussagen zu machen?

Immun – der Begriff

„Denn zweimal packte es denselben nicht, wenigstens nicht tödlich“, wusste schon der griechische Historiker Thukydides. Vor rund 2400 Jahren erkrankte er selbst an einer rätselhaften Seuche, die viele Bewohner Athens dahinraffte. Wenn Menschen „immun“ sind, kann das im Idealfall bedeuten: die Immunabwehr verhindert über blockierende Antikörper im Blut oder auf den Schleimhäuten, dass der Krankheitserreger überhaupt mit den Körperzellen in Kontakt kommt. Im zweitgünstigsten Fall kann die Immunabwehr das Virus viel rascher als beim ersten Kontakt angreifen, die Infektion also im Keim ersticken. Wenn überhaupt Symptome auftreten, dann sind sie mild(er), „.. wenigstens nicht tödlich“, schrieb Thukydides.

Die Dauer der Immunität hängt (auch) vom Erreger ab

Manche Infektionen oder Impfungen hinterlassen tiefe Spuren im immunologischen Gedächtnis. 11 Jahren nach einer Tetanus-Impfung, 50 Jahre nach einer Windpockenerkrankung oder (hochgerechnet) sogar 114 bzw. 542 Jahre nach Röteln oder Mumps findet oder fände man im Blut noch eine beachtliche Menge zielgerichteter Antikörper (1). Da die Halbwertszeit von IgG-Antikörpern im Blut bei rund drei Wochen liegt, müssen die Antikörper über die Jahre ständig nachproduziert worden sein. Für den Nachschub sorgen langlebige Plasmazellen, die sich im Knochenmark niedergelassen haben.

Wenn berichtet wird, die Antikörper-Spiegel gegen Sars-CoV-2 oder auch gegen andere Vertreter aus der Familie der Coronaviren, gingen nach einem Infekt erschreckend schnell nach unten, heißt das erst einmal noch nichts. Wichtig sei, über eine längere Zeitspanne zu beobachten, ob sich die Antikörper-Menge auf niedrigen Werten einpendele, sagt Andreas Radbruch, Experte für das immunologische Gedächtnis am Deutschen Rheuma-Forschungszentrum in Berlin. Genau dafür haben jetzt Forscherteams in den USA und Island ermutigende Hinweise gefunden (2)(3)(4)(5). Neutralisierende Antikörper gegen das Spike-Protein des Virus bleiben danach über mindestens drei Monate (in der isländischen Studie sogar vier Monate) nachweisbar – auch bei Menschen, die nur leichte Covid-19-Symptome hatten.

Elektronenmikroskopische Aufnahme von Sars-CoV-2, dem Erreger von Covid-19. Die Viruspartikel sind violett, die infizierten Zellen grün angefärbt.
Elektronenmikroskopische Aufnahme von Sars-CoV-2, dem Erreger von Covid-19. Die Viruspartikel sind violett, die infizierten Zellen grün angefärbt.

Drei Monate nach der Infektion fanden US-amerikanische und britische Wissenschaftler außerdem Gedächtniszellen im Blut, die einerseits Antikörper gegen das Virus produzieren (B-Zellen) oder virusinfizierte Körperzellen vernichten können (T-Zellen) (3) (6). Welche Konzentrationen an Antikörpern im Blut oder auf den Schleimhäuten es braucht, damit eine Infektion abgewehrt werden kann, ist unbekannt. Ebenso, welche Rolle die zweite Säule der Immunität, die T-Zellen, dabei spielen.

Ein zweites Mal mit Sars-CoV-2 angesteckt

Noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte wurde eine Virus-Pandemie „live“ so intensiv wissenschaftlich beobachtet wie die aktuelle. Forscher bestimmen Antikörper-Mengen, isolieren Virusvarianten und überall werden Menschen massenhaft auf das Virus getestet. Daher wundert es nicht, wenn kürzlich über fünf Männer und Frauen berichtet wurde, die sich nachweislich ein zweites Mal mit Sars-CoV-2 angesteckt haben – allerdings mit einer genetisch vom ersten Kontakt leicht abweichenden Virusvariante (7)(8)(9)(10)(11). Drei der fünf erkrankten nicht oder leichter als beim ersten Mal. Einen 25-jähriger US-Amerikaner traf es nach 48 Tagen und zwischenzeitlich zwei negativen Virustests jedoch heftiger, genauso wie einen 46-jährigen Ecuadorianer nach 63 Tagen. Die ersten drei Fälle müssen – im Gegensatz zum vierten und fünften Fall – kein Anlass zur Sorge sein, sondern können durch die Arbeitsweise der Immunabwehr erklärt werden.

Reaktives und schützendes Gedächtnis – Ausweg Impfung?

Denn um Ressourcen zu schonen und dennoch effektiv auf die Gefahren im individuellen Umfeld eingehen zu können, ist das immunologische Gedächtnis nicht statisch, sondern flexibel aufgestellt. Meist bilde sich nach dem ersten Kontakt der Immunzellen mit einem Krankheitserreger ein „reaktives“ Gedächtnis aus, erklärt Andreas Radbruch. Etwa 10 Prozent der spezialisierten T-und B-Zellen, die sich bei der Beseitigung eines Virus bewährt haben, blieben am Leben, um bei einem erneuten Kontakt, schnell und wirkungsvoll zuzuschlagen. Erst wenn diese zweite Auseinandersetzung mit dem Virus stattgefunden habe – das Immunsystem also annehmen muss, mit diesem Erreger bekomme es in seinem Umfeld dauerhaft zu tun – investiert die Immunabwehr in ein „schützendes“ Immungedächtnis. Wieder bleiben rund 10 Prozent der aktivierten Immunzellen am Leben, dieses Mal wandern Gedächtniszellen jedoch auch in das Knochenmark ein, von wo aus sie im Idealfall über Jahrzehnte schützende Antikörper freisetzen.

Modellhafte, bunte Darstellung eines IgG Antikörper Moleküls. Zu sehen sind die verschiedenen gefalteten Proteinstrukturen, die die Funktion der Antikörper ausmachen: die Bindung des Antigens und die Wechselwirkung mit Immunzellen.
Modell eines IgG Antikörper-Moleküls mit der typischen Y-förmigen Struktur. Der konstante „Fc-Teil“ des Antikörpers kann sich über Rezeptoren zum Beispiel an Fresszellen anlagern. Die beiden variablen Abschnitte des Antikörpers Fab erkennen das Antigen, im Falle von Sars-Cov-2 etwa Regionen des Oberflächen-Spike-Proteins.

Weil die Durchseuchung der Bevölkerung mit Sars-CoV-2 zurzeit gering ist, sind Zweitinfektionen, wie die fünf jetzt dokumentierten Fälle, selten. Ein schützendes Antikörper-Gedächtnis bilde sich aber nur dann, wenn einzelne Menschen dem Virus wiederholt ausgesetzt sind, sagt Andreas Radbruch. Um ein stabiles schützendes Immungedächtnis in der Bevölkerung zu etablieren, gäbe es zwei Möglichkeiten: der Pandemie freien Lauf zu lassen – keine gute Idee angesichts der mit Covid-19 verbundenen Sterblichkeit. Radbruch plädiert dagegen für Impfungen: „Durch zwei Impfungen im Abstand von 2 bis 4 Wochen können wir künstlich nachhelfen, dass sich aus einem reaktiven ein schützendes Immungedächtnis bildet.“ Dafür müsste es aber erst einmal einen Impfstoff geben und die Rolle der Immunabwehr im Krankheitsgeschehen von Covid-19 besser verstanden werden.

Schwere und leichte Verläufe oder wie merkwürdig ist das neue Virus wirklich?

Die Aktionen der Körperabwehr sind zweischneidig. Einerseits stoppen sie das Virus bei mildem oder moderatem Covid-19 effektiv, andererseits verursachen sie bei schweren Verläufen die lebensbedrohlichen Symptome entscheidend mit. Daher sollten die beiden anderen jetzt dokumentierten Fälle – die zwei Männer, die beim zweiten Mal schwerer erkrankten – eine Warnung sein, auch bezogen auf eine (zu) schnelle Zulassung der Impfstoffe, die gerade getestet werden. Da die Immunabwehr ein Teil des Problems bei Covid-19 ist, kann dies auch das immunologische Gedächtnis und letztlich eine Impfung betreffen.

Warum der US-Amerikaner und der Ecuadorianer beim zweiten Kontakt zu dem neuen Virus sogar schwerer erkrankten als beim ersten Mal, weiß man nicht. Ob der junge Mann aus den USA nach der ersten Infektion überhaupt Antikörper bildete (wovon auszugehen ist), wurde gar nicht untersucht. Der Südamerikaner hatte nach der ersten Ansteckung zumindest IgG und IgM-Antikörper gegen Sars-CoV-2 im Blut. Möglicherweise waren unter den gebildeten Antikörpern auch solche, die es dem Virus (bei einem zweiten Kontakt) über den Vorgang des so genannten „Antibody-dependent enhancement“ sogar erleichterten, Körperzellen zu befallen. Rein theoretisch könnte auch ein Impfstoff die Produktion solcher „Verstärker“-Antikörper auslösen. Direkt nach der Impfung würden keine Beschwerden auftreten, wohl aber nach einem erneuten Kontakt, etwa bei einer tatsächliche Infektion mit dem Virus oder eine Zweitimpfung.

Das ist bisher reine Spekulation. Aber von anderen Infektionen – zum Beispiel dem Dengue-Virus oder dem Felinen Coronavirus (ein Coronavirus der Katzen) -weiß man, dass Antikörper nicht nur blockieren, sondern im ungünstigen Fall eine Infektion oder das Entzündungsgeschehen eben auch verstärken können (12).

Eines zeigen die beschriebenen Fälle jedoch deutlich: Eine vorausgegangene Infektion garantiere nicht in jedem Fall eine völlige Immunität, schreiben Wissenschaftler der University of Nevada, die den Fall des 25-Jährigen untersucht haben (9). Daher sollte jede oder jeder, ob sie oder er bereits einmal an Covid-19 erkrankt ist oder nicht, Vorsicht walten lassen, um eine (erneute) Infektion zu vermeiden.

Bei bisher 26 Millionen bekannten Coronavirus-Infektionen weltweit sollten einige wenige Zweitinfektionen kein Grund zur Sorge sein, sagt zwar der Virologe Thomas Geisbert von der University of Texas gegenüber dem Fachmagazin „Nature“ (7). Andere Experten rechnen in den nächsten Wochen und Monaten allerdings mit einer steigenden Anzahl von Zweitinfektionen. Dann wird sich herausstellen, ob und bei wem das Immunsystem das Virus rasch eindämmen kann – beziehungsweise ob und bei wem das gefürchtete Gegenteil auftritt.

Störung des Immungedächtnis

Auf welche Weise Antikörper die Krankheitsprozesse nach einer Sars-CoV-2-Infektion verstärken können, untersucht Mascha Binder vom Universitätsklinikum Halle (Saale). Bei schweren Covid-Fällen verliefe die Immunreaktion recht merkwürdig, sagt die Medizinerin. Normalerweise würden B-Zellen nach der Aktivierung in so genannten Keimzentren in den Lymphknoten oder der Milz „nachreifen“. Durch winzige genetische Modifikationen würde sichergestellt, dass die von dieser B-Zelle hergestellten Antikörper auch wirklich passgenau an ihr gegenüber andocken und es unschädlich machen könnten. Bei Covid-19 sei dies, laut ihrer und den Beobachtungen anderer Arbeitsgruppen (13)(14)(15) nicht so, sagt Binder: „Es gibt keine Reifung, die B-Zelle geht sofort in die Produktion.“

Diese Eile und ein rasches Aufflackern der Antikörperproduktion, die vermutlich durch ein Zuviel an bestimmten Botenstoffen ausgelöst wird, könnte die Ausbildung eines langlebigen Immungedächtnis beeinträchtigen, fürchtet Binder. Und sie könnte die Bildung unguter Antikörper begünstigen, die nicht hemmen, sondern eine Entgleisungen der Abwehr noch befeuern.

Mitten in der Pandemie, wo sich wissenschaftliche Details anhäufen, aber der Blick auf das Ganze (noch) nicht möglich ist, gilt es wachsam zu bleiben. Trotz der ermutigenden aktuellen Antikörper-Studien wissen wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wie widerstandsfähig der Körper nach einer Infektion gegenüber Sars-CoV-2 tatsächlich ist. Wahrscheinlich wird es große individuelle Unterschiede geben, genauso wie auch die Krankheit an sich nicht alle gleich schwer trifft.

(Dies ist eine veränderte und aktualisierte Version eines Artikels von mir, der bereits in der „Neuen Zürcher Zeitung“ erschienen ist.)

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