Grenzerfahrungen

Ein rechtlicher Rückblick auf die Flüchtlingskrise und andere Verfassungsnews von Max Steinbeis

von Maximilian Steinbeis
6 Minuten

Liebe Freunde des Verfassungsblogs,

in Großbritannien weigert sich das Wahlvolk, den Tories die Verantwortung für die Brexit-Entscheidung von den Schultern zu nehmen. In den USA torkelt Donald Trump in Richtung Amtsenthebung, mit ungewissem Ausgang. In Spanien droht mit dem katalanischen Unabhängigkeitsreferendum am 1. Oktober eine veritable Verfassungskrise. In Polen hat der Sejm die Justiz faktisch unter das Kuratel von Jaroslaw Kaczynski gestellt. Verfassungspolitisch bewegte Zeiten fürwahr, und aktuelle Themen zuhauf für einen Blog über All Matters Constitutional. Einsteigen will ich für heute aber mit einem Thema, das vermeintlich in der Vergangenheit liegt und doch uns allen noch tief in den Knochen steckt, und zwar rechtlich wie politisch: die Flüchtlingskrise im Spätsommer, Herbst und Winter 2015/16.

Die Generalanwältin beim EuGH Eleanor Sharpston hat in dieser Woche Schlussanträge in zwei Fällen veröffentlicht, die an den Kern dieser beispiellosen Krise rühren. Es geht um einen Syrer und eine afghanische Familie, die in Österreich bzw. Slowenien Asyl beantragt hatten. Die dortigen Behörden verwiesen sie aber an Kroatien, weil sie dort die EU-Außengrenze überschritten hatten und dort um Schutz hätten nachsuchen müssen (Art. 13 Abs. 1 Dublin-III-VO). Das hatten sie aber nicht, weil sie stattdessen von Kroatien mit den allermeisten anderen Flüchtlingen in Richtung Westen „durchgewunken“ worden waren.

Hätten die Staaten Mittel- und Nordeuropas 2015/16 darauf bestehen dürfen oder müssen, dass die Verantwortung für die Aufnahme der Flüchtlinge bei den Ländern an der Außengrenze bleibt? Das ist die Frage, die dieser Fall aufwirft, und die Antwort von Generalanwältin Sharpston lautet: Nein.

Was sich 2015/16 auf dem Westbalkan abspielte, so die Generalanwältin, „ war die größte Massenbewegung von Personen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg“. Für ein solches Szenario waren die Regeln, nach denen die Verantwortung für Flüchtlingsschutz in der EU verteilt wird, nicht gemacht. Diese Regeln haben die einzelnen Oppositionspolitiker oder die kritische Journalistin vor Augen, die mit einem Visum im Pass in Europa aus dem Flugzeug steigt und am Flughafen um Asyl bittet – aber nicht Hunderttausende, die ohne Visum übers Meer kommen, in Griechenland oder Italien landen und dort die Asylsysteme zum Zusammenbruch bringen. Dass Art. 13 Dublin-III-VO die Zuständigkeit für das Asylverfahren den Ländern aufbürdet, wo die EU-Außengrenze erstmals illegal überschritten wurde, macht Sinn, solange man sagen kann, dass sie halt die Grenze hätten ordentlich schützen müssen. Aber nicht im Angesicht einer humanitären Mega-Katastrophe.

Das könnte man alles als geschlagene Schlachten abtun, würde sich nicht der Mythos vom „eklatanten Rechtsbruch“, den Deutschland und andere 2015/16 angeblich begangen haben, so hartnäckig halten – nicht nur bei der AfD, sondern bei gefühlten 20 Millionen anderen Deutschen, die begierig nach dem äußerst anfechtbaren Argumentationsmaterial greifen, das ihnen damals Udo Di Fabio und andere Staatsrechtslehrer ex cathedra aufgetischt haben. Diesem Mythos wird, soweit er den Schlussanträgen seiner Generalanwältin folgt, der EuGH demnächst einen Gutteil seiner Luft aus den Reifen lassen.

Nach Ansicht der Generalanwältin konnte man 2015/16 nicht einfach sagen: illegaler Grenzübertritt von Serbien nach Kroatien, ergo Kroatien nach Art. 13 I Dublin-III-VO zuständig, ergo wir unzuständig, ergo Rechtsbruch, wenn wir die Leute trotzdem aufnehmen (ersetze, mutatis mutandis, Kroatien mit Ungarn). Wenn Hunderttausende auf die Grenze zukommen, wenn im herannahenden Winter improvisierte Lager à la Idomeni aufgeschlagen würden, wenn nach ihrer Aufnahme wie bereits in Griechenland menschenunwürdige Zustände drohen, die die Schutzverantwortung für die Flüchtlinge dann ohnehin durchstreichen würden – dann kann man diese Situation doch nicht mit einem Maßstab messen, der dafür weder taugt noch gemacht war:

„Weder [Art. 13 Abs. 1] noch die Dublin‑III-Verordnung als Ganzes war für den Fall gestatteter Grenzübertritte durch einen Massenzustrom potenzieller Antragsteller auf internationalen Schutz gedacht. Die Verordnung zielt nicht darauf ab, eine nachhaltige Verteilung der Zuständigkeit für Personen, die internationalen Schutz beantragen, innerhalb der Union als Reaktion auf einen solchen Zustrom von Menschen zu gewährleisten.“ (RNr. 189)

Art. 13 Abs. 1 Dublin-III-VO gibt somit für diese extreme Konstellation nichts her, und die anderen Kriterien des Kapitels III der Verordnung schon sowieso nicht. Heißt das, dass die Dublin-Verordnung eben „gescheitert“ ist? Keineswegs. Wenn die besagten Kriterien nicht greifen, dann ist nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO eben der Staat zuständig, wo der Asylantrag gestellt wurde. Also, im Regelfall: wir.

Mit ist natürlich klar, dass so ein rechter AfDler sich in seiner Rechtsauffassung nicht von irgendeinem dahergelaufenen EuGH beirren lässt. Das soll auch gar nicht meine Sorge sein. Natürlich kann man diese Rechtsmeinung für falsch halten, und natürlich bleibt es auch nach einem Urteil aus Luxemburg möglich, sogar mit guten Gründen, die Flüchtlingspolitik 2015/16 in allen möglichen Aspekten als rechtswidrig zu kritisieren. Es wird halt nur ein Stück anspruchsvoller. Man kann nicht mehr einfach auf Di Fabio zeigen und sagen: Der war mal Verfassungsrichter, der weiß Bescheid. Das konnte man im Übrigen noch nie. Recht ist etwas, das mit Argumenten ausgehandelt werden muss und nicht mit vermeintlicher oder tatsächlicher Expertenautorität gesetzt. Das sichtbar zu machen, wird mit diesen Schlussanträgen leichter.

Selbstverteidigung

Warum das Bündnis der britischen Tories mit der nordirischen DUP ein „faustischer Pakt“ ist, der die Konservativen ihre Seele und Theresa May ihren Job kosten wird, schreibt AIDAN O’NEILL in seinen ersten Gedanken zum Wahlergebnis auf den britischen Inseln auf. Erlösung verspricht er sich von Ruth Davidson, der erfolgreichen Führerin der schottischen Konservativen, die alles ist, was Theresa May nicht ist und umgekehrt: jung, homosexuell, sympathisch, aus einer Working-Class-Familie und Schottin.

Wie kann sich die Justiz verteidigen, wenn Gesetzgebung und Regierung ihr an den Kragen wollen? In Polen ist diese Frage alles andere als theoretisch im Moment. An der Universität Oxford hatten im Mai vier herausragende Experten aus Polen über dieses Thema anhand des bedrohten Verfassungsgerichts durchdiskutiert, mit Beiträgen von MARCIN MATCZAK, TOMASZ GIZBERT-STUDNICKI, ADAM CZARNOTA sowie LECH MORAWSKI – letzterer ist einer der drei von der jetzigen PiS-Regierung nominierten Richter am polnischen Verfassungsgericht, deren Sitze eigentlich schon von vor der PiS-Machtübernahme gewählten Richtern besetzt sind. Kann man die Verfassungspolitik der PiS mit „republikanischen“ Argumenten rechtfertigen? Morawksi versucht das, und PAUL BLOKKER macht ihm diesen Versuch streitig. TOMASZ KONCEWICZ beschreibt, wie die „Selbstverteidigung der Justiz“ in Polen aussehen könnte und welche ermutigenden Zeichen er beobachtet.

Das Bundesverfassungsgericht hat in dieser Woche einen Beschluss zur Kernbrennstoffsteuer veröffentlicht, der für den deutschen Fiskus teuer und die Atomwende der Bundesregierung wenig schmeichelhaft ist. Dass die Entscheidung auch verfassungspolitisch ziemlich interessant ist, etwa was die Kreativität des Gesetzgebers beim Erfinden neuer Steuern betrifft, arbeitet RAINER WERNSMANN heraus.

Dass wir uns um das neue BKA-Gesetz Sorgen machen müssen, ahnten wir mehr als dass wir es wussten, denn die Materie ist komplex und unübersichtlich. MATTHIAS BÄCKER bringt auf den Punkt, was genau an dem Gesetz so problematisch ist – nämlich nicht zuletzt seine Unklarheit: „Möglicherweise stellt es das polizeiliche Informationswesen weitgehend ins Belieben des BKA; dies wäre mit Grundrechten nicht zu vereinbaren. Bemerkenswerterweise lässt sich das Gesetz auch gerade umgekehrt so interpretieren, dass es für die Informationsordnung des BKA überzogene und impraktikable Vorgaben errichtet.“

Vom Glossator FABIAN STEINHAUER kommen in seiner dieswöchentlichen Kolumne Betrachtungen zu Montagen, Mandorlen, Scheidekünsten und zum genauen Hinschauen.

Anderswo

KENNETH ARMSTRONG hat wenig Mitleid mit der britischen Premierministerin Theresa May und ihrem kolossal fehlgeschlagenem Versuch, sich eine solide Mehrheit für ihren Hard Brexit zu verschaffen. AKASH PAUN hat schon vor der Wahl vorausgesagt, dass auch ein Parlament ohne absolute Mehrheit für eine Seite nicht den Himmel zum Einsturz bringen würde. Warum auch ohne die protestantisch-nordirischen Unionisten als Partner der Tories am Regierungshebel in Westminster das friedensstiftende Karfreitagsabkommen in Nordirland in höchster Gefahr ist, beschreiben COLIN HARVEY und DANIEL HOLDER.

MARIO GARCÍA zeigt, dass auch der spanische Verfassungsgerichtshof bei gleichzeitiger Offenheit für das Europarecht mittlerweile ziemlich angespannt auf die Art reagiert, wie der EuGH gelegentlich mit nationalen Verfassungsordnungen umspringt.

MICHAL OVÁDEK berichtet, welche Mühen die Slowakei hatte, sich von einem Amnestiegesetz aus der Ära des autoritären Präsidenten Vladimir Meciar in den 90er Jahren zu befreien, samt Verfassungsänderung und Urteil des Verfassungsgerichts.

JEAN-PIERRE GAUCI schlägt Alarm über die Rückkehr der völkerrechtswidrigen Praxis in Italien, Flüchtlinge zurück nach Libyen zu schicken.

DEBORAH PEARLSTEIN hält es für nicht unplausibel, den US-Kongress in punkto Trump-Impeachment auf sein eigenes Vorgehen im ähnlich gelagerten Fall des Trump-Vorgängers Richard Nixons zu verpflichten. ERIC POSNER widerspricht ALAN DERSHOWITZ’ These, dass der Präsident in seiner Allmacht über Personalien wie die des FBI-Direktors sich der Behinderung der Justiz gar nicht schuldig machen kann. Eine Auswahl von Kurzkommentaren teilweise sehr prominenter Verfassungsrechtler zur Aussage des gefeuerten FBI-Chefs Comey ist hier zu finden.

Soweit für diese Woche. In der nächsten erwarten wir u.a. eine Einschätzung von MIGUEL AZPITARTE zum angekündigten Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien und seinen verfassungsrechtlichen Folgen. Einstweilen Ihnen alles Gute,

Ihr Max Steinbeis

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