Mauerfall: Von geschichtlichen Monstern und anderen Lebewesen

Eine Spurensuche per Rad und Boot.

32 Minuten
Michael Cramer hat, mit windzerzaustem Haar, seinen Blick vorbei an der Kirche, gen Potsdam gerichtet.

Der Herbst ist für mich Poesie-Zeit. Ich wärme mich an Señor Machado und seinem Trost, frei interpretiert: Einmal unterwegs, findet sich schon ein Weg. Die Reise beginnt am 4. Oktober. Ich fahre mit dem Fahrrad gen Osten, ohne feste Route, aber mit dem so gar nicht lyrischen Wort Wiedervereinigung im geistigen Verdauungsapparat.

Clips & Sounds in diesem Beitrag

  1. Begegnung mit Mecklenburgs seltsamsten Bewohnern (kurz vor Bäk)
  2. Klaus Jante spricht über Vor- und Nachwende und rezitiert sein Lieblingsgedicht (Warlow)
  3. Interview mit Michael Cramer (Potsdam)
  4. Die Glienicker Brücke und ihre DDR-ironische Benennung (Potsdam).
Der 63-jährige Willy Brandt mit Gitarre und Zigarette im Freien; davor der 53-jährige Autor Martin C Roos.
Von der Willy-Brandt-Stiftung gewollter Ulk: Das im Hinterhof des Brandt-Hauses angebrachte Porträt des ehemaligen Bundeskanzlers lädt zu Selfies ein – hier mit dem RadelndenReporter.

Mein RadReport beginnt an der „Brandt-Mauer“

Europas einstiger Teilung ohne Mauerrest gedenken? – Heute undenkbar.

Weltberühmt sind die 1,3 Kilometer der East Side Gallery in Berlin. Weltsymbolisch zieren drei Mauersegmente vom Leipziger Platz das UN-Hauptquartier in New York. Und auch Willy Brandt bekam sein ganz privates Stück Mauer: geschenkt wahrscheinlich 1991 von Berlins damaligem regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen. Wann genau Brandt das Mauersegment erhielt, das heute im Innenhof des Willy-Brandt-Hauses steht, weiß man beim Lübecker Ableger der Brandt-Stiftung nicht. Wohl aber sagt man mir, wann und wo das Porträt entstand, dass im Riesenformat die Wand hinter dem Segment ziert (Foto oben). Es zeigt einen tiefenentspannten 63-Jährigen in einem Teutoburger Ausflugslokal, Gitarre spielend, eine frisch angesteckte Zigarette im Mundwinkel, zwei Jahre nach seinem Rücktritt als Bundeskanzler im Jahr 1974.

Schuld war ein DDR-Spion. Er war einer von Brandts engsten Mitarbeitern, wofür der Kanzler die Verantwortung übernahm und zurücktrat. Brandts Erinnerung daran, dass er gleichsam über die DDR stolperte, mag Diepgens Mauergeschenk noch einmal zementiert haben.

Mecklenburg: Ein bisschen Südamerika liegt an der Route

Lübeck ist Brandts Geburtsstadt. Sie war zu DDR-Zeiten die einzige deutsche Großstadt direkt am Eisernen Vorhang. Deswegen bin ich im Nu an der Grenze zu Mecklenburg-Vorpommern. Und bei Vögeln, an denen sich die Geister scheiden.

Der RadelndeReporter lehnt am Gedenkstein zum Tag der Deutschen Einheit, der am Ortsrand von Lübeck steht.
Ernste Miene zu freudigem Datum: An der Landesgrenze Holsteins liegen noch 490 Radkilometer vor mir.
Neben den Transformatoren eines Umspannwerks strahlt vor dunklem Grau-Braun ein Regenbogen.
So sieht die schöne Seite des Gewitters aus, das gegen 7.30 Uhr südlich von Sandau die Elbe herabdonnert – mir direkt entgegenkommend.
Vor einer waldumsäumten Straße steht das blaue Warnschild mit der Aufschrift „LÄRM – Schieß- und Übungsbetrieb“.
Befindet sich zu etwa zwei Dritteln auf dem Territorium Sachsen-Anhalts und zu einem Drittel in Brandenburg: der Truppenübungsplatz Klietz.
Im Vordergrund das Antlitz Cramers neben einem Stück des Bootsaufbaus, im Hintergrund die Kirche mit dem frei stehenden Turm.
Michael Cramer und die Heilandskirche in Sacrow, vom Wasser des Jungfernsees aus gesehen.
Michael Cramer hat, mit windzerzaustem Haar, seinen Blick vorbei an der Kirche, gen Potsdam gerichtet.
Michael Cramer lebte seit 1974 in Westberlin und engagierte sich nach dem Mauerfall fürs aktive Gedenken an die einstige Teilung. Sein Mauerradweg führt im Norden Potsdams an der Heilandskirche von Sacrow vorbei.
Michael Cramer und Martin C Roos lupfen nebeneinander lachend ihr Fahrrad am Bug des Wasservehikels; im Hintergrund der von der Havel gespeiste Jungfernsee.
IronCurtain-Grandseigneur und RadelnderReporter entsteigen an der Meierei Potsdam dem Floß.

Abends, am einstigen Tag der Republik stelle ich im Bildungsforum Potsdam mein Deutschlandbuch vor.

An der Straße neben der Nikolaikirche hängen noch die Plakate mit den Deutschland- und Euopa-Farben und der Aufschrift „Deutschland ist eins: vieles“.
Potsdam war am 3. Oktober 2020 Gastgeber der offiziellen Feierlichkeiten.
Im Hintergrund lehnt das Rad des RadelndenReporters an einem Überbleibsel der Berliner Mauer.
In meinem Magazin RiffReporter.de/Deutschland thematisierte ich regelmäßig die Themen Rechte Gewalt und Deutsche Geschichte. Das Foto entstand kurz vor dem Treffen mit dem Vater des Mauerradwegs, Michael Cramer. Im Vordergrund: ein Stück alter DDR-Sicherheitszaun.
Auf der Glocke vor dem Rathausturm steht „keine Gewalt“. Die Tumuhr zeigt fünf vor Zwölf.
Die Friedensglocke in Dessau-Roßlau ist ein Denkmal für die politische Wende 1989, passt aber zeitlos als Mahnung, sich gewaltbereiten Radikalen entgegenzustellen.

Disclaimer

Diese Recherche entstand mit Unterstützung der TMB Tourismus Marketing GmbH Brandenburg in Form von zwei Übernachtungen im B&B Hotel Potsdam und der Floßüberfahrt von Sacrow bis Potsdam (weil das Wassertaxi aufgrund der Corona-Situation frühzeitig den Verkehr eingestellt hatte).

Weder die Auswahl von Recherchespots noch die Berichterstattung wurden durch die Unterstützung in irgendeiner Weise beeinflusst.

Zum zitierten Mauerweg informiert Brandenburg über reiseland-brandenburg.de/poi/ruppiner-seenland/radtouren/mauerweg

Die mit Michael Cramer gefahrene Route ist Teil des Mauerradwegs Berlin. Regulär dürfte die Wasserpassage von Sacrow nach Potsdam ab Frühjahr 2021 wieder möglich sein (potsdamer-wassertaxi.de).