Heimat. Heimat?

Ein Kampfbegriff und seine Geschichte. Buchrezension.

5 Minuten
Über den steilen, dicht bewaldeten Hängen südlich der Ortschaft Boll ragen die Giebel und Zinnen der turmbewehrten Burg auf.

Heimat

Lässt sich der „Begriff wieder zurückzugewinnen für einen normalisierten Umgang“?

Der zitierte Ausschnitt stammt von W. Kretschmann, Ministerpräsident Baden-Württemberg

Neben den Titelangaben ist der Ausschnitt einer hessischen Fachwerkfassade abgebildet.
Buchcover von „Heimat – Geschichte eines Missverständnisses“ von Susanne Scharnoski, erschienen Ende April 2019. Es handelt sich um ein akademisch fundiertes Werk, das dennoch flüssig lesbar ist, ohne den 26-seitigen Referenzapparat konsultieren zu müssen. Bibliografische und Autoren-Angaben am Ende des Riff-Beitrags.

„Heimat als Kitsch“

So lautet die Überschrift auf ungefähr halber Strecke des Buches – ein Kapitel, das ich regelrecht verschlang, weil Schwarnowski dort haarklein die Zusammenhänge zwischen diesen beiden „untrennbaren“ Begriffen aufschlüsselt.

Welche Schwachstelle gibt’s im Buch? Die Autorin hätte die Historie der „Dorfgeschichten“ nach dem Muster von Berthold Auerbach ruhig expliziter ausgestalten können. Außerdem fehlt für meinen Geschmack im Kapitel „Alte und neue Heimat in West und Ost“ ein Bezug zu den Debatten über Ausländerfeindlichkeit in den Neuen Bundesländern. Zuletzt, im verbleibenden Fünftel des Werks, mangelt es stellenweise etwas am langen Atem; schlagwortartige Interpretationen der Autorin verkümmern stellenweise zu Worthülsen. So rollt Scharnowski im Kapitel „Die Sehnsucht nach der alten schönen Zeit“ die Frage auf, warum es heute beispielsweise „Gartenzwerge mit Hipster-Brille“ gibt und schicke Bars mit „Bildern von röhrenden Hirschen an der Wand“. Als Antwort hält die Autorin die „betont ironische Aneignung von Heimatkitsch“ bereit, führt dies aber nicht näher aus.

Fazit

All dies tut der Lektüre aber keinen Abbruch – ein durchweg empfehlenswertes Kompendium und Lesebuch!

grüner offener Autoanhänger auf einer durch einen Gartenzaun von der Straße abgetrennten Wiese. Auf dem Anhänger ist ein zirka 1 auf 3 Meter großes weißes Plakat montiert mit der Aufschrift „Rettet das Ehrenamt“
Niedersachsen – nördlich von Hannover
Zerrissene Deutschland-Flagge im Wind flatternd
Schleswig-Holstein – östlich von Lübeck.
Hinweisschild einer Bremer Lebkuchen-Manufaktur vor dem Hintergrund gestapelter Schiffscontainer.
Bremen – Holzhafen
Sechs allegorische Frauenköpfe aus Sandstein.
Berlin – Außenrelief an der Besucherterrasse.
Lochplatten-Skulpturen des „Molecule Man“ im Gegenlicht der untergehenden Sonne. Von den drei Skulpturen sind aufgrund des Aufnahmewinkels nur zwei zu sehen.
Berlin: Lochplatten-Skulpturen des „Molecule Man“ im Gegenlicht der untergehenden Sonne. Von den drei Skulpturen sind aufgrund des Aufnahmewinkels nur zwei zu sehen.
Zur Rumpelkammer umfunktioniertes ehemaliges Gewächshaus; eine kleine Palette Setzlinge steht vor dem gewölbten Eingangsbereich.
Hamburg – Vierlanden
Rechts neben einer riesigen Scheuneneinfahrt prangt an der Holzwand das Schild „Bauer sucht Frau“ – rot auf weißem Grund.
Niedersachsen – südwestlich von Lüneburg
Vor einer durch zwei Feldflächen geteilten grünen Wiese steht das Schild „Weg ohne Fortsetzung“.
Baden-Württemberg – nordöstlich von Reutlingen
Frontseite einer Dorfmetzgerei: „Stringe's Fleisch und Wurstspezialitäten – Landschlachterei“
Niedersachsen – nahe Rotenburg/Wümme

Angaben zum Buch

Heimat: Geschichte eines Missverständnisses. 272 Seiten; gebunden, mit Schutzumschlag (s. Bild oben). wbg Academic, Darmstadt, ISBN 978–3–534–27073–6; 40 Euro.

„Waschzettel“ des Verlags

Was ist Heimat? Die Antworten sind vielfältig, denn längst ist Heimat zum politischen Kampfbegriff geworden. Die einen verbinden damit das Bewahren deutscher Kultur und Identität, die anderen setzen der vermeintlich überholten Idee neue Werte wie Weltoffenheit, Dynamik und Diversität entgegen. Der Band bietet einen innovativen Überblick über die Kultur- und Debattengeschichte des Heimatbegriffs seit dem 17. Jh. Die meist missverstandene Bewertung der Romantik von Heimat wird ebenso behandelt wie die Propaganda in der Kolonialzeit, im Ersten Weltkrieg und im Nationalsozialismus. Ein systematischer Teil beleuchtet im Kontext von Heimat umstrittene Begriffe wie Kitsch oder Nostalgie. Damit leistet der Band einen wichtigen Beitrag zur Versachlichung einer ideologisch stark aufgeladenen Debatte und hilft, die oft zu Schlagworten verkürzten Argumente besser zu verstehen.

Autorin Susanne Scharnowski

Geboren in West-Berlin – Studierte Germanistik und Anglistik – Promotion in Neuerer deutscher Literatur mit einer Arbeit über Clemens Brentano an der FU Berlin – DAAD-Lektorin für deutsche Sprache, Kultur und Literatur an den Universitäten von Cambridge, Melbourne und Taipeh – Veröffentlichungen zu Literatur und Ökologie, Heimat und Literatur sowie zur Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts. Seit 2003 ist Susanne Scharnowski an der FU Berlin als Wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig und koordiniert das Studienprogramm für internationale Gaststudierende mit eigenen Lehrveranstaltungen zur deutschen Kulturgeschichte.