Gedächtnis in der Spritze

Forscher übertragen antrainiertes Verhalten bei Meeresschnecken mit Hilfe von Botenmolekülen.

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Ein Kalifornischer Seehase Aplysia Californica stößt Tinte aus.

Ist so etwas auch bei Menschen denkbar? Eher nicht: Das Experiment wird die Lernforschung jedenfalls weniger verändern als das grundsätzliche Verständnis, wie Tier und Mensch Umweltanpassungen an ihre Nachkommen vererben.

Lässt sich Gelerntes mit einer Spritze übertragen? Ist Gedächtnis transplantierbar, und zwar völlig ohne Nervenzellen oder gar Gehirne zu verpflanzen, alleine durch die Weitergabe winziger Botenmoleküle von einem Organismus zum anderen? Die Schlagzeilen, die vor rund zwei Wochen aus vielen Wissenschaftsredaktionen drangen, legten solche Vermutungen nahe. Wie zutreffend sie aber sind, darüber entscheidet letztlich die Frage, was man unter Gedächtnis versteht.

Dem Neurobiologen David L. Glanzman von der renommierten University of California in Los Angeles ist es mit Kollegen tatsächlich gelungen, ein Verhalten, das sie einer Gruppe von Meeresschnecken antrainiert hatten nur durch die Weitergabe von Bestandteilen aus der Flüssigkeit der Nervenzellen auf andere, gänzlich untrainierte Meeresschnecken zu übertragen (doi: 10.1523/ENEURO.0038–18.2018).

Eric Kandel machte den Seehasen berühmt

Das Versuchstier, der Kalifornische Seehase Aplysia californica, ist bei Lernforschern beliebt. Seine Nervenzellen sind groß. Sein Nervensystem ist primitiv. Lernen kann er trotzdem. Schon der berühmte Nobelpreisträger Eric Kandel hat Teile seiner bahnbrechenden Erkenntnisse zu Grundzügen des Lernens mit Zellen dieser Tiere gewonnen. So zeigte er, dass die Reizung einer Nervenzelle die Synapsen genannten Verbindungen zu anderen Zellen verändert. Deshalb und wegen vieler anderer Erkenntnisse wissen wir heute, dass Erinnerungen höchstwahrscheinlich in Form umfangreicher Erregungsmuster im komplexen Nervennetz gespeichert sind. Wenn wir lernen, wandeln sich Zahl und Stärke der Synapsen im Gehirn, manche Zellen bilden sogar neue Auswüchse und Verbindungen, andere Synapsen verschwinden. Dadurch verändern sich die Erregungsmuster, neue oder gewandelte Eindrücke bleiben hängen und sind in Zukunft abrufbar.

Was nun aus Kalifornien gemeldet wird, passt zumindest auf den ersten Blick überhaupt nicht in dieses Bild – und das sogar, obwohl man das gleiche Verhalten untersuchte, wie einst Kandel: den Siphonrückzugsreflex. Glanzman und Kollegen machten einige Seehasen mit Hilfe schwacher Elektroschocks am Hinterteil des Körpers sensibel für leichte Berührungen der Siphon genannten Wasserausstoßröhre. Diese Röhre zieht die Meeresschnecken meist in ihren Mantel genannten Körper zurück, wenn sie touchiert wird. Schon länger weiß man, dass die Nervenzellen, die den Berührungsreiz weiterleiten, empfindlicher werden, sobald man die Tiere stresst. Derart sensibilisierte Tiere verbergen ihren Siphon besonders rasch und dauerhaft. Auch wenn es sich letztlich nur um einen Reflex handelt, so benutzen Biologen diese Reaktion doch schon lange als simples Modell dafür, wie Tiere mit einem einfachen Nervensystem grundsätzlich lernen können.

Ein Seehase, aufgenommen in der  Morro Bay, Kalifornien. Wissenschaftlicher Name:  Aplysia californica
Dieser Kalifornische Seehase liegt bei Ebbe auf dem Trockenen. Links ragt die Siphon genannte Wasserausstoßröhre aus dem Mantel hervor
Ein Kalifornischer Seehase Aplysia Californica stößt Tinte aus.
Der Kalifornische Seehase Aplysia Californica ist eine Meeresschnecke, die bei Gefahr Tinte ausstößt. Er wird wegen seines einfachen Nervensystems und der großen Nervenzellen von Neurobiologen als Versuchstier geschätzt.

Nun entnahmen die Kalifornier Flüssigkeit aus den Nervenzellen trainierter, also empfindlich reagierender Schnecken und isolierten darin befindliche RNA-Moleküle (Ribonukleinsäuren). Diese spritzten die Forscher ins Gefäßsystem solcher Schnecken, die noch nicht trainiert waren und deshalb auch nur schlecht auf Berührungen reagierten. Anschließend verhielten sich diese Seehasen erstaunlicherweise aber ganz so, als seien auch sie zuvor mit den Elektroschocks getrietzt worden. Offenbar gelangten die kleinen Moleküle ins Nervensystem der Seehasen und justierten es neu. Mit den RNAs übertrug sich also auch eine Art Information – man kann auch sagen: die Erinnerung oder das Gedächtnis der Tiere.

Die RNA-Spritze wirkt nur, wenn die Spender vorher trainiert worden sind

Noch überzeugender machen das Resultat die Kontrollexperimente: Übertrugen die Forscher zum Beispiel RNAs aus den Zellen untrainierter Schnecken, hatte das keine Auswirkung auf das Verhalten der Empfänger. Außerdem wirkten die RNAs der sensibilisierten Tiere nicht auf jede Nervenzelle gleich. Spritzten die Forscher die Botenmoleküle in isolierte Aplysia-Zellen, die in Petrischalen gedeihten, reagierten diese nur, wenn es sich um so genannte sensorische Neuronen handelte, also um Zellen, die Sinnesinformationen zum Nervensystem der Tiere leiten. Waren es hingegen motorische Neuronen, also Nerven, die die Muskulatur steuern, waren sie nicht empfänglich für den RNA-Mix.

Dass sich untrainierte Tiere also nach einer Spritze mit der RNA aus Nervenzellen trainierter Tiere ähnlich wie diese verhalten, rührt eindeutig daher, dass irgendwelche Bestandteile des RNA-Cocktails die sensorischen Neuronen manipulieren. Bleibt also die Frage, ob und wie die Botenmoleküle in die Genregulation der Zellen eingreifen, so dass sich deren Stoffwechsel wandelt und sie letztlich andere Eigenschaften besitzen als zuvor. Hier kommt die Epigenetik ins Spiel. Epigenetische Strukturen sind simple biochemische Anhängsel an das Erbgutmolekül DNA oder an die Proteine, die der Zelle bei der Verpackung der DNA helfen. Sie verändern die Lesbarkeit der betroffenen Erbgutabschnitte, lassen den eigentlichen Bauplan für Proteine, den Gentext, aber unverändert. So bestimmen die epigenetischen Anhängsel letztlich wie Schalter oder Dimmer darüber, welche Gene eine Zelle wie gut und zu welcher Zeit benutzen kann und welche nicht.

Und weil RNAs – in diesem Fall in der so genannten nichtkodierenden Form – spiegelbildlich zu bestimmten Abschnitten einer DNA passen, können sie zumindest theoretisch epigenetisch aktiven Enzymen gezielt den Weg weisen. Damit können sie aber auch bestimmen, welche Gene eine Zelle gerade auf aktivierbar schalten oder zum Beispiel herunterdimmen soll. Dass die nichtkodierenden RNAs einen solchen Job grundsätzlich erledigen können, weiß man bereits von Experimenten mit Pflanzen. Inwieweit das gleiche aber auch bei Tieren geschieht, war bislang unklar.

Pflanzen und Pilze tauschen Informationen per RNA miteinander aus

Auch an diesem Punkt liefert die neue Studie nun wichtige Indizien. Die Kalifornier blockierten nämlich bei einigen Seehasen, denen sie RNA sensibilisierter Tiere gespritzt hatten, ein spezielles epigenetisches Enzym, das Methylgruppen (CH-3) direkt an die DNA anbaut und in aller Regel dafür sorgt, dass benachbarte Gene weniger gut abgelesen werden können. Plötzlich blieb die Gedächtnisspritze wirkungslos. Die RNA hatte offenbar den Partner verloren, mit dessen Hilfe sie ihre Information überträgt. Das ist zum einen ein klarer Hinweis darauf, wie die Nervenzellen von Aplysia sich überhaupt sensibilisieren, nämlich indem sie das Muster der DNA-Methylierung in ihrem Erbgut verändern. Und es ist zum anderen einer der ersten Belege dafür, dass auch bei Tieren nichtkodierende RNAs als Wegweiser für epigenetische Veränderungen dienen.

Von Pflanzen oder Pilzen wusste man das wie erwähnt schon lange. Man kennt sogar Organismen, die innerhalb einer Art oder sogar zwischen verschiedenen Arten mit Hilfe von RNAs Informationen austauschen. Die Nordamerikanische Seide zum Beispiel ist eine parasitäre Pflanze, die auf anderen Pflanzen lebt und sich von deren Säften ernährt. Sie sendet nichtkodierende RNAs in den Wirt und sorgt damit dafür, dass er besonders viel Energie für den Parasiten bereitstellt (Newsletter Epigenetik 28). Auch in Symbiose mit einer Pflanze lebende Wurzelpilze tauschen mit dieser wechselseitig RNAs aus und beeinflussen so gegenseitig die Regulation ihrer Gene (Newsletter Epigenetik 4/2011).

Aber Pflanzen und Pilze haben keine Gehirne, sie besitzen keine Nervenzellen. Sie sind darauf angewiesen, Informationen irgendwie zu verstofflichen und auf diesem Weg untereinander auszutauschen. Dass man ähnliches nun sogar bei Tieren entdeckt, ist also durchaus eine Sensation. Aber eines ist es gewiss nicht: ein Hinweis darauf, dass Tiere ihre Langzeiterfahrungen epigenetisch speichern, und dass man deshalb auch menschliche Erinnerungen einfach so per Spritze transplantieren kann.

Zeichnung eines Gehirns, in das mit einer Spritze etwas injiziert wird.
Lernen per Spritze oder RNA-Pille: Dieser (Alb-)Traum wird zumindest für Menschen wohl niemals Realität.

Gedächtnis ist halt mehr als nur die bewusste oder unbewusste Information, die im Nervennetz gespeichert ist. Das Immunsystem kann sich zum Beispiel an Krankheitserreger erinnern, und jede hochentwickelte Zelle hat eine Art molekularbiologisches Gedächtnis für Umwelteinflüsse. Es sind die Epigenome, also die Gesamtheit der epigenetischen Strukturen einer Zelle, die auch als das Gedächtnis der Zellen bezeichnet werden. Diese Epigenome haben die Aufgabe, die Identität einer Zelle etwa als Neuron, Haut- oder Leberzelle festzulegen und zudem für stabile Anpassungen des Zellstoffwechsels an Einflüsse von außen zu sorgen.

Nichts anderes passiert im Seehasen-Experiment: Das Tier wird gestresst, darauf reagieren bestimmte Neuronen mit einer epigenetisch gesteuerten Anpassung, nämlich der Eigenschaft, sensibler auf Reize zu reagieren. Das bewirkt wiederum, dass ein bestimmter Reflex, nämlich das Einziehen des Siphons nach seiner Berührung, sich verstärkt. Mit Erinnerungen, Gedächtnis im eigentlichen Sinn oder gar Bewusstsein hat all das nichts zu tun.

Sind nichtkodierende RNAs der lange gesuchte Bote zwischen den Generationen?

Dennoch könnten die Resultate aus Kalifornien auch für uns Menschen von großer Bedeutung sein. Sie untermauern gängige Theorien, wie auch bei uns die Prägung von Gesundheit und Persönlichkeit geschieht. Auch das menschliche Gehirn reagiert auf andauernden zu starken Stress durch eine Veränderung bestimmter Nervenzellen. Dadurch verstellt sich die so genannte Stress-Achse. Die Art, wie wir auf Belastungen reagieren, wandelt sich, das Risiko für Stresskrankheiten kann steigen, unser Sozialverhalten kann sich ändern.

Es gibt sogar Hinweise, dass solche Umweltanpassungen an folgende Generationen vererbt werden. Nur, wie das genau geschieht, ist noch ziemlich unklar. Genau an diesem Punkt könnte der Kalifornische Seehase weiterhelfen: Aus Experimenten mit Mäusen ist bekannt, dass sich die Spermien traumatisierter oder zu stark gestresster Männchen verändern. Es finden sich bestimmte nichtkodierende RNAs in ihrer Zellflüssigkeit. Und es genügt bereits, einem befruchteten Ei von Eltern, die niemals stark gestresst worden sind, diese RNAs zu spritzen, um Nachwuchs zu erhalten, der selbst Symptome eines traumatisierten oder dauerhaft gestressten Tieres zeigt (doi: 10.1073/pnas.1508347112, doi: 10.1038/nn.3695).

Im Endeffekt geschieht hier etwas Vergleichbares wie bei der experimentellen Gedächtnisübertragung unter Meeresschnecken. Auch hier wird ein Bestandteil des zellulären Gedächtnisses von einem Organismus an den anderen offenbar per RNA weitergegeben. Bislang war allerdings unklar, auf welchem Weg die RNAs im Maus-Versuch die Entwicklung der kommenden Generation prägen. Nun scheint es tatsächlich möglich, dass die RNA der Spermien und womöglich auch der Eizellen als Wegweiser für epigenetische Veränderungen in die Entwicklung der kommenden Generation eingreift und diese womöglich für den Rest des Lebens prägt. Einmal mehr hätten die Seehasen in den Laboren der Neurobiologen der Grundlagenforschung einen wichtigen Dienst erwiesen.

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