„Der Erhalt der letzten frei fließenden Flüsse muss absolute Priorität haben“

Der Gewässerökologe Klement Tockner spricht im Interview mit Flussreporter über den Notfallplan gegen das massive Artensterben in den Gewässern.

vom Recherche-Kollektiv Flussreporter:
21 Minuten
Ein türkisfarbener Gebirgsfluss mit Schotterbänken, rechts vorne ein Haufen Totholz.

Der Verlust an Biodiversität, der durch menschliche Aktivitäten verursacht wird, hat ein dramatisches Ausmaß erreicht. Wissenschaftler sprechen sogar schon vom sechsten Massenaussterben der Erde. Am schlimmsten ist die Situation in den Süßwasser-Ökosystemen, also in den Flüssen, Feuchtgebieten und Seen. Eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, darunter der österreichische Gewässerökologe Klement Tockner, hat deshalb einen Notfallplan zur Rettung der Gewässer erstellt und im Fachmagazin BioScience veröffentlicht. Der Notfallplan sieht sechs Punkte vor, um das Artensterben in den Gewässern zu stoppen.

Sonja Bettel: Herr Tockner, Sie haben gemeinsam mit 25 anderen Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Ländern kürzlich in der Fachzeitschrift BioScience einen Artikel publiziert, einen „Emergency Recovery Plan“, also einen Notfallplan, für Gewässer. Ist die Situation der Lebewesen der Gewässer so dringend, dass es zu diesem Aufruf kommen musste?

Klement Tockner: Der Zustand der biologischen Vielfalt in den Gewässern ist dramatisch. Die biologische Vielfalt geht in unseren Gewässern um das Mehrfache schneller und dramatischer als am Land oder im Meer zurück. Ich gebe Ihnen zwei Beispiele: Es gibt 26 Störarten weltweit, 24 davon sind gefährdet, vom Aussterben bedroht oder bereits verschwunden. Gerade erst vor wenigen Wochen wurde der Schwertstör, eine der großen Störarten, welcher vier Meter lang wird, offiziell als ausgestorben gemeldet. Das heißt, diese Art ist für immer verschwunden. Dieses Schicksal erwartet bis zu 50 Prozent aller Schneckenarten in unseren Gewässern, ein Drittel aller Amphibienarten und so weiter. Ein hoher Anteil aller Arten in den Gewässern ist somit vom Aussterben bedroht oder bereits verschwunden – und zwar für immer.

Noch einmal zum Schwertstör: Diese Art hat alle Heißzeiten, alle Kaltzeiten in den letzten 200 Millionen Jahren überlebt, und jetzt hat es wenige Jahrzehnte gedauert, um diese Art für immer zu verlieren. Wenn wir über die biologische Vielfalt reden, dann reden wir über die Information und das Wissen, das sich über die letzten paar Milliarden Jahre natürlicher Evolution entwickelt hat.

Zwei Forscher stehen auf Schotter an einem Fluss und schauen in die Kamera. Der rechte Mann hat einen Fotoapparat und ein Fernglas vor der Brust hängen.
Der Gewässerökologe Klement Tockner (links) bei einem Besuch an der Vjosa in Albanien mit Futoshi Nakamura von der Sapporo University in Japan.

Die Megafauna stirbt aus

Wir haben in den letzten Jahren zur sogenannten Süßwasser-Megafauna gearbeitet. Das sind große Arten, die mehr als 30 Kilo wiegen. Das sind Fische, Reptilien, Amphibien und Säugetiere. Insgesamt sind das etwa 200 Arten. Diese Megafauna hat von 1970 bis 2012 weltweit um 88 Prozent abgenommen. Wenn ich nach Südostasien gehe, der Rückgang beträgt dort 99 Prozent. Fast alle diese charismatischen Arten sind fast verschwunden, weltweit. Und es benötigt unglaubliche Anstrengungen, um die wirklich noch langfristig für die nächsten Generationen erhalten zu können.
Ein großer Fisch von der Seite, rechts sein spitzes, nach oben gedrehtes Maul. Seine Schuppen schillern grün, grau und rot.
Ein Arapaima im Aquarium des Kölner Zoo im Jahr 2003. Der Arapaima im Amazonas ist eine der am meisten gefährdeten Fischarten weltweit.

Wir verbauen mehr, als wir wiederherstellen können

Im Moment verlieren wir noch viel mehr oder verbauen wir viel mehr naturnahe Flüsse als wir renaturieren. Das ist in keinem Verhältnis zu dem, was wir uns als Ziel gesetzt haben, nämlich einen guten ökologischen Zustand für alle Gewässer in Europa bis 2027 zu erreichen. Da müsste man mit ganz anderen Maßnahmen herangehen. Aber es beginnt auch bei einfachen Maßnahmen: Eine natürliche Ufervegetation herzustellen, eine Beschattung. Das hat auch Effekte natürlich auf die Temperatur in den Gewässern. Oder in Flussabschnitten, wo keine Unterhaltungsmaßnahmen notwendig sind, auch keine Unterhaltungsmaßnahmen durchzuführen, wäre eine der effektivsten Möglichkeiten der Renaturierung, eben nichts zu tun. Die Abschnitte einfach der natürlichen Dynamik zu überlassen, weil ein Fluss weiß, unter Anführungszeichen, am besten, was ein Fluss benötigt auch.
Ein türkisblauer Gebirgsbach fließt zwischen Bäumen, links erstreckt sich eine weiße Schotterbank, im Hintergrund sieht man einen Berg.
Naturbelassene Flüsse zu erhalten, hat höchste Priorität, sagen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Im Bild ein sehr schöner Abschnitt des Tiroler Lech.

Nicht Wasserkraft ja oder nein, sondern wie

Wenn ich die Wasserkraft hernehme, ist es nicht die Frage, Wasserkraft ja oder nein. Das ist gerade für die Länder des globalen Südens eine fast unethische Frage. Aber es geht darum, zu identifizieren, wo baut man Wasserkraftanlagen, wie man baut diese Anlagen, und wie betreibt man sie dann. Und dafür müssen wir Antworten finden, und wir müssen sowohl die ökonomischen als auch die ökologischen und die sozialen Konsequenzen gemeinsam berücksichtigen.

Ein Appell an die Wissenschaft

Das ist auch ein Appell an uns Wissenschaftler. Wir müssen uns genauso diesem Dialog einfach aussetzen, und Dialog heißt eben, die Wissenschaft informiert, aber die Wissenschaft hört auch zu. Das benötigt natürlich auch im Wissenschaftsbetrieb andere Incentives, dass dieser Dialog, dieses Engagement genauso wertgeschätzt wird, als wie die Anzahl an Publikationen, die man produziert. Aber ich glaube, es ist beides machbar. Man kann ein guter Wissenschaftler sein, oder ein exzellenter Wissenschaftler sein, und man kann trotzdem dieses Wissen immer wieder hineinbringen. Aber als Wissenschaftler ist man ein „Honest Broker“ und kein Advokat.

Sechs dringende Schritte gegen den dramatischen Verlust der Biodiversität in den Gewässern, wie die AutorInnen sie vorschlagen:

  1. Beschleunigung der Umsetzung von Umweltströmen.
  2. Verbesserung der Wasserqualität zur Erhaltung des Wasserlebens.
  3. Schutz und Wiederherstellung kritischer Lebensräume.
  4. Verwaltung der Nutzung von Süßwasserarten und Flussaggregaten.
  5. Verhinderung und Kontrolle der Invasion nicht einheimischer Arten in Süßwasserlebensräume.
  6. Schutz und Wiederherstellung der Süßwasserverbindung.


Literatur:

Bending the Curve of Global Freshwater Biodiversity Loss: An Emergency Recovery Plan. BioScience biaa002, 19.2.2020

Ceballos G, Ehrlich PR, Dirzo R. 2017. Biological annihilation via the ongoing sixth mass extinction signaled by vertebrate population losses and declines. Proceedings of the National Academy of Sciences 114: E6089–E6096

Are We Really in a 6th Mass Extinction? Here’s The Science