Auch Wildnis ist eine kulturelle Leistung

Weltweit verschwindet die Wildnis. In der Schweiz versucht man nun, die Bevölkerung vom Wert freier Naturentwicklung zu überzeugen.

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter:
8 Minuten
ein umgestürzter Baum im Wald [AI]

Die Menschen lassen kaum einen Landstrich mehr unberührt. Ihre Spuren sind auf über 70 Prozent der eisfreien Landoberfläche deutlich zu sehen, wie der soeben erschienene Bericht zu Klimawandel und Landnutzung des Weltklimarates IPCC festhält. Ungestörte Ökosysteme sind nicht nur selten geworden, sie verlieren auch ständig an Fläche. Die Wildnis schrumpft und schrumpft. Zwischen 1993 und 2009 sind 10 Prozent der unberührten Natur verloren gegangen, was 3,3 Millionen Quadratkilometern und damit mehr als der Fläche Indiens entspricht: Die Gebiete wurden überbaut, für die Landwirtschaft genutzt oder für die Ausbeutung von Ressourcen vernichtet. Vor allem im Amazonas und in Afrika sind starke Abnahmen zu verzeichnen.

Dabei hat Wildnis wichtige ökologische Funktionen. Sie spielt insbesondere für die Biodiversität eine bedeutende Rolle, ist sie doch ein Rückzugsort für Arten, die durch den Menschen unter Druck gekommen sind. In der wilden Natur können sich Tiere und Pflanzen ungestört vom Menschen entwickeln. Wildnis wird damit zu einem wertvollen Reservoir genetischer Informationen; Informationen, die später als Referenz genutzt werden können, um degradierte Landstriche in wildere Gebiete zurück zu verwandeln. So wird etwa der äussert selten gewordene Pardelluchs in Spanien und Portugal in einem Wiederansiedlungsprojekt gezüchtet – durchaus mit Erfolg. In den letzten Jahren hat sich zudem gezeigt, dass Wildnis nicht nur viel Kohlendioxid zu speichern vermag, sondern auch als Puffer gegen den Klimawandel dient: Je wilder ein Gebiet ist, desto besser ist es gegen negative Auswirkungen der Klimaerwärmung geschützt.

Doch derzeit verteilen sich 70 Prozent der verbleibenden Wildnisgebiete auf gerade einmal fünf Staaten: Russland, China, Australien, die USA sowie Brasilien. Dass dort die Wildnis weiterhin in akuter Bedrängnis ist, demonstriert gerade der neue brasilianische Staatspräsident Jair Bolsonaro, unter dem die Abholzung des Amazonasregenwaldes wieder stark voranschreitet.

Doch wie sieht es eigentlich bei uns aus? Gibt es in den hochindustrialisierten und dichtbesiedelten Ländern Europas überhaupt noch Wildnis?

ein Schild an einem Baum [AI]
Hier Wildnis, Mensch bitte draussen bleiben: Im Schweizerischen Nationalpark herrscht ein Weggebot.
eine Karte eines Gebirges [AI]
Wild dank der hohen Berge: Je blauer, desto höher ist die Wildnisqualität, je röter, desto geringer.
eine Straße in den Bergen [AI]
Hier ist die Schweiz am wildesten: im Aletschgebiet.
ein Gebirge mit Bäumen und einem Fluss [AI]
Im Schweizerischen Nationalpark überlässt man die Natur seit über 100 Jahren sich selbst. So entsteht dort, wo früher abgeholzt wurde, wieder Wildnis.