„Je mehr ich über die Vögel gelernt habe, desto mehr lernte ich auch über mich selbst“

Hilfe in Lebenskrisen, Erinnerungsstütze für Demenzkranke – Thomas Krumenacker über die heilsame Wirkung des Vogelbeobachtens und über wegweisende Projekte

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter:
9 Minuten
Die positive Wirkung des Vogelbeobachtens hat jeder, der das regelmäßig tut, wohl schon einmal gespürt. Ausnahme sind der Frust ist entleerten Landschaften und allzu kompetitive Mit-Birder.

IRGENDWANN ging es einfach nicht weiter für Joe Harkness. Seine Angststörungen und depressiven Schübe trieben ihn immer häufiger zum unmäßigen Alkohol- und Drogenkonsum und zudem in eine schier unendliche Verzweiflung. Eines Tages vor nun sechs Jahren beschloss er, seinem Leben ein Ende zu setzen. „Ich wollte nicht mehr hier sein, ich wollte nirgendwo sein“, erinnert er sich.

Er legte ein zu einem Strang gebundenes Betttuch um seinen Hals. „Es war weich und warm, welch ein Kontrast zur steinernen Kälte in meinem Kopf“, schreibt Harkness in seinem gerade erschienen Buch. Ein ihm nahe stehender Mensch entdeckt den Suizidversuch in letzter Sekunde, überredete ihn zum Aufgeben und rettete Harkness so das Leben. Doch mit dem durch glückliche Umstände gerade noch einmal verhinderten Freitod sind die Probleme nicht gelöst. Für Harkness beginnt ein mühsamer und langwieriger Kampf um die Rückkehr ins Leben. Ihm helfen Ärzte, Medikamente, verschiedene Therapieformen.

Wege aus dem Chaos im Kopf

Die entscheidende Hilfe kommt für ihn aber durch etwas ganz anderes: Es sind die Vögel, die ihm neuen Lebensmut geben. „Die Entdeckung des Vogelbeobachtens hat mein Leben grundlegend zum besseren verändert“, erzählt Harkness im Gespräch. „Vögel gaben mir eine Art Ausstiegsklausel. Sie wurden mein Weg, dem Chaos in meinem Kopf und der Überforderung mit der Bewältigung meines Alltags zu entkommen.“

Vor allem aber, erinnert Harkness sich, waren Vögel ein “Anker der Verlässlichkeit” inmitten eines in Trümmer gefallenen Lebens. „Egal, wie negativ ich alles sah, die Vögel waren immer da. Sie sind verlässlich, wie es Menschen fast nie sind.“ Harkness ist sich sicher, dass er ohne die Wiederentdeckung seiner Leidenschaft für Vögel – die Saat hatte sein Großvater in der frühen Kindheit gelegt – kaum aus seiner Lebenskrise gekommen wäre.

Joe Harkness
Joe Harkness

„Je mehr ich über die Vögel gelernt habe, desto mehr lernte ich auch über mich selbst“, bilanziert Harkness. „Langsam gelang es mir, die Jahre als alkohol- und drogenabhängiger Selbstbetrüger hinter mir zu lassen.“ Seit mehreren Jahren schreibt Harkness inzwischen bereits in seinem gleichnamigen Blog über seine „Bird Therapy“. Vor kurzem legte er sein autobiografisches Buch vor, das seitdem in Großbritannien auch außerhalb der Szene der Vollblut-Birder hinaus diskutiert wird.

Natur heilt

Kontakt mit Natur und Vögeln als Therapie – Harkness’ autobiografischer Bericht über seine psychische Erkrankung und seinen Weg aus der Krise markiert ein Extrembeispiel dafür, wie wichtig, ja existenziell, der Kontakt mit der Natur und speziell mit frei lebenden Vögeln für Menschen sein kann.

„Menschen sind auch in unserer modernen Zeit Teil der Natur“, erklärt die Sozialpsychologin Elisabeth Kals. „Wenn wir auch vielfach ein stark entfremdetes Verhältnis haben, so bleiben wir doch nach wie vor Teil der Natur und fühlen uns ihr – der Flora, der Fauna, dem, was wir gemeinhin noch als Natur bezeichnen – tief emotional verbunden. Diese Verbundenheit wirkt sich positiv auf die Gesundheit aus und kann vielleicht sogar heilen“, ist sich die Professorin an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt sicher.

Auch zahlreiche Studien belegen die „Wirksamkeit“ von Natur als Medizin. So wies die US-Forscherin MaryCarol Hunter von der Uni Michigan in einer kürzlich veröffentlichten Studie nach, dass schon zwei bis drei jeweils 20 bis 30-minütige Naturaufenthalte pro Woche den Stress-Pegel von Probanden signifikant um 20 bis 28 Prozent senkten. Die Studienautorin spricht von einem Aufenthalt im Grünen sogar als „Naturpille“.

Dass auch der Kontakt mit der Natur bereits im Kindesalter weitreichende positive Auswirkungen auf die psychische Gesundheit als Erwachsener hat, belegte die dänische Forscherin Kristine Engemann Jensen in einer im März erschienenen Untersuchung. Sie verglich auf Basis von Satellitenfotos den Vegetationsgrad in unterschiedlichen Wohnorten Dänemarks und glich diesen mit Statistiken zu psychischen Erkrankungen Erwachsener ab.

Die Studie ergab, dass Menschen, die von Geburt bis zu ihrem 10. Lebensjahr (oder auch länger) in einer von Wäldern, Parks oder anderen großflächigen Grün- oder Naturflächen dominierten Umgebung aufwuchsen, als Erwachsene ein deutlich geringeres Risiko einer psychischen Erkrankung haben. „Das Risiko für spätere psychische Erkrankungen für diejenigen, die in der Kindheit mit dem niedrigsten Grünflächenanteil lebten, war … bis zu 55 Prozent höher als bei denen, die mit dem höchsten Grünflächenanteil lebten“, fasst die Forscherin ihre Studienergebnisse zusammen.

Vogelbeobachtung als Therapieangebot.
In mehr als 40 Pflegeheime hat Kathrin Lichtenauer bereits Vogelfutter-Stationen aufgebaut und die Bewohnerinnen und Bewohner über die heimischen Singvögel informiert.

Natur wirkt also – aber was ist es genau, das die positive Wirkung ausmacht? Die bessere Luft? Die Abwesenheit der täglichen Reizüberflutung? Die Möglichkeit, sich gehen lassen zu können? Jeder dieser Faktoren für sich und alle zusammen, lautet die Antwort vieler Studien. Immer stärker zeichnet sich aber ab, dass Natur dann besonders stark wirkt, wenn sie wahrnehmbar und erlebbar ist. Deshalb kommt Vögeln offenbar eine besondere Bedeutung zu. Sie singen und fliegen herum und sind damit die sichtbarsten Verkörperungen von Natur selbst in Großstädten.

Vogelbeobachtung im Pflegeheim

Diesen Gedanken greift auch ein Modellprojekt des bayerischen Landesbund für Vogelschutz (LBV) auf. Beim Projekt „Alle Vögel sind schon da – Vogelbeobachtung in vollstationären Einrichtungen“ geht es darum, Futterstationen bereitzustellen und die stark eingeschränkten Bewohnerinnen und Bewohnern in Pflegeheimen zum Vogelbeobachten anzuleiten.

In mittlerweile mehr als 40 Pflegeeinrichtungen hat Projektmanagerin Kathrin Lichtenauer Vogelfutterhäuschen installiert und die Heimbewohner über Grünfink, Spatz und Co. aufgeklärt. „Es geht darum, Naturerlebnisse zu schaffen und damit dem Verlust von Lebensqualität entgegenzuwirken“, erklärt Lichtenauer.

Sie reist für das Projekt nun schon im zweiten Jahr kreuz und quer durch Bayern und hat neben Futterstationen und Vogelfutter auch stets ein eigens für das Projekt konzipiertes „Bestimmungsbuch“ im Gepäck. Es ist im Stil eines Kinderbuchs gehalten, mit extradicken Seiten und abwaschbar beschichtet. Darin finden sich in einfacher Sprache einige grundlegende Informationen über Kleiber, Amsel, Meisen und Co.. Realitätsnah aussehende Vogelpuppen und ein Vortrag über die sieben gängigsten gefiederten Fenstergäste gehören ebenfalls zur Standardausrüstung Lichtenauers.

Die emotionale Kraft, die die Begegnung mit wild lebenden Vögeln freisetzen kann, erlebt Lichtenauer beinahe täglich. „Die Beschäftigung mit den Vögeln weckt häufig verschüttete Erinnerungen“, hat sie bei ihren Besuchen festgestellt. Wie bei jener älteren Dame, die nach dem Vortrag der LBV-Frau zu ihr kommt, ihr die Hand gibt und sich dafür bedankt, dass sie wieder einmal eine Amsel hören durfte, wenn auch nur vom Band.

Lichtenauer sieht bei ihren Besuchen in den Pflegeheimen auch die oft wenig bekannten Seiten der stationären Pflege. Sie ist auch in den sogenannten beschützten Bereichen auf Demenzstationen unterwegs, dort wo die Menschen in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind. Auf einer solchen Station begegnete ihr Walter, der, motiviert durch ihren Vogel-Vortrag ausdauernd pfiff wie ein Vogel.

Erinnerungsblitze auf der Demenzstation

Dieses Erlebnis ließ sie sie lange Zeit nicht mehr los. Sie begegnete auch jener Frau, die beim Gedächtnistraining nie etwas sagte, als aber das Angebot zur Vogelbeobachtung kam, zum Erstaunen der Betreuer von über Jahre zurückliegenden eigenen Erlebnissen berichtete. „Es gibt viele emotionale Momente“, sagt Lichtenauer. Eva Lychen, Bewohnerin eines Pflegeheims in München, bringt ihre Leidenschaft für Vögel so auf den Punkt: „Wenn ich einen netten Vogel beobachten kann, dann ist für mich eigentlich der Tag schon gerettet.“

„Vögel berühren Menschen auf eine besondere Art“, glaubt Lichtenauer. „Das geht auch mir ja nicht anders. Eine Amsel, die hört sich an nach Frühling, nach frischem Regen auf warmen Pflasterstein an. Wir verknüpfen viel mit manchen Dingen, bei Musikstücken ist das ja nicht anders.“

Gesundheitsprävention durch Vogelbeobachten

Das Ziel des Projekts „Alle Vögel sind schon da“ geht aber darüber hinaus, den Menschen in den Pflegeheimen ein paar schöne Stunden zu schenken. „Vogelbeobachten als aktive Gesundheitsprävention“ lautet die Philosophie hinter dem Projekt des Vogelschutzverbandes, das hauptsächlich von den Pflegekassen AOK, BKK classic, IKK, Knappschaft, der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau sowie der Stiftung Bayerisches Naturerbe des LBV finanziert wird.

Wer speist denn da? Futterstellen sind ein einfaches Mittel, um den Kontakt mit der Natur herzustellen.
Wer speist denn da?

Um die Wirksamkeit wissenschaftlich zu überprüfen, wird das Projekt von Sozialpsychologin Kals und ihren Mitarbeiterinnen Susanne Freund und Patricia Zieris begleitet. Kann Vogelbeobachtung die psychosoziale Gesundheit, die Mobilität und die geistige Leistungsfähigkeit von Menschen in Pflegeheimen fördern und so zu einem besseren Wohlbefinden und mehr Lebensqualität beitragen? So lautet die Fragestellung an das Forscherinnenteam. „Eine wissenschaftliche Begleitung ist zentral, damit Initiativen wie diese fundiert bewertet werden und damit auch ernst genommen werden“, betont Kals. „Es gibt Effekte, die man zeigen kann und das ist wichtig sowohl für die Akzeptanz solcher Projekte wie auch für ihre Verbreitung.“

„Vogelbeobachtung kann glücklich machen“

Nach eineinhalb Jahren Begleitforschung zum LBV-Projekt – bis Studienende soll die Wirkung der Maßnahmen in sechs Pflegeeinrichtungen umfassend untersucht und in 70 weiteren per Fragebogenstudie erforscht werden – haben die Wissenschaftlerinnen kürzlich einen Zwischenbericht vorgelegt, in dem sie zu einem erstaunlich eindeutigen Ergebnis kommen: „Die Annahme, dass Vogelbeobachtung das Potenzial hat, Menschen gesünder und glücklicher zu machen, ist völlig richtig“, sagt Studienleiterin Kals.

Die Wissenschaftlerinnen messen die Wirksamkeit der Vogelbeobachtung als Therapie gegen den Verlust von Lebensqualität und zur Erhaltung der geistigen Fitness anhand verschiedener sogenannter Präventionsziele, wie sie der Krankenkassen-Spitzenverband GKV für Pflegeheime entwickelt hat.

Fünf solcher Ziele haben die Kassen festgelegt, deren Erreichen den Maßstab guter Pflege bildet. „Alle Vögel sind schon da“ will gleich drei davon erfüllen: Den Erhalt der psychosozialen Gesundheit, die Stärkung kognitiver Ressourcen, sprich mentaler Leistungsfähigkeit, und die Steigerung von körperlicher Aktivität und Mobilität der Heimbewohner. Der 33-seitige Zwischenbericht der Wissenschaftler attestiert dem LBV-Projekt eine erfolgreiche Arbeit: „Bislang bestätigen die Daten die präventive Kraft des Projekts“, heißt es darin.

Die psychosoziale Gesundheit etwa – in der Begleitstudie durch Befragungen gemessen anhand von Variablen wie ‚emotional positives Empfinden’, ‚soziales Wohlbefinden’ oder die ‚Abwesenheit von negativen Gefühlen’ sei durch Vogelbeobachtung deutlich positiv beeinflusst worden, schreiben die Wissenschaftlerinnen.

„Durch das Angebot der Vogelbeobachtung, der Anregung zur Bewegung und zum Nachdenken über die beobachteten Vögel kann das soziale Wohlbefinden direkt gesteigert werden.“ Auch habe sich die Vogelbeobachtung fördernd auf die „kognitiven Ressourcen“ ausgewirkt, sprich: die mentale Leistungsfähigkeit der meist betagten oder durch Krankheit früh zum Pflegefall gewordenen Bewohner wurde gestärkt. Bei allen angestrebten Präventionszielen zeigten sich Veränderungstendenzen. Endgültige Aussagen seien aber erst nach Studienende im kommenden Jahr möglich.

„Naturbegegnung gesellschaftlich relevant“

Mit Haustieren ließe sich nach Meinung der Forscherinnen ein ähnliches Ergebnis wohl nicht erzielen. Diese seien zwar als Therapietiere bewährt. Das Vogelbeobachten entfalte seine Wirkung aber womöglich gerade deshalb, weil freie, wildlebende Tiere freiwillig eine kurze Bindung zum Menschen eingingen. „Das eröffnet uns viele Projektionsmöglichkeiten.“

LBV-Chef Norbert Schäffer verweist auch auf die gesellschaftspolitische Bedeutung des Projekts. Einerseits gehe es um soziale Verantwortung, den Menschen in den Heimen etwas Gutes zu tun, wenn dies mit Mitteln des Vogelbeobachtens möglich sei, begründet er das Engagment seines Verbands in den Plegeheimen.

„Wenn es uns mit den begleitenden Studien zudem gelingt zu zeigen, dass sich Vogelbeobachtung als Beispiel für Naturbegegnung positiv auf das Lebensglück von Bewohnerinnen und Bewohnern von Pflegeheimen auswirkt, können wir davon ausgehen, dass dies auch für andere Menschengruppen der Fall ist“, sagt Schäffer. „Damit hätten wir den Beweis, dass Naturbegegnung auch gesellschaftlich relevant ist.“

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