Massaker an Kranichen im Libanon: „Es regnete Blut vom Himmel“

Auch in diesem Jahr bringen im Libanon Wilderer Hunderttausende Zugvögel um. Ein ethischer Skandal und ein Angriff auf den Biodiversitätsschutz international

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter:
10 Minuten
Eine Gruppe Kraniche steht im flachen Wasser, darüber fliegen Artgenossen.

Ein Massaker an ziehenden Kranichen im Libanon wirft ein Schlaglicht auf den millionenfachen Tod von Zugvögeln auf dem Weg von Europa nach Afrika. Das zügellose Abschlachten von Adlern, Störchen und Singvögeln ist einerseits ein ethischer Skandal, darüberhinaus aber auch eine Kriegserklärung an alle Versuche, die biologische Vielfalt zu erhalten.

Eigentlich steht der Schutz der biologischen Vielfalt dieser Tage hoch auf der politischen Agenda. Gerade sind globale und europaweite Berichte zur Lage der Natur veröffentlicht worden und die Umweltminister der Europäischen Union haben die Biodiversitätsstrategie der EU-Kommission gebilligt, die den anhaltenden Verlust von Arten und Lebensräumen stoppen soll.

Jagd auf geschützte Zugvögel – Eine wenig beachtete Form des Krieges gegen die Biodiversität

Im Fokus steht dabei berechtigterweise die Landwirtschaft, vernichtet die industrielle Lebensmittelgewinnung allen wissenschaftlichen Expertisen zufolge doch die verbliebenen Lebensräume am stärksten.

Eine für viele Tierarten ebenso gravierende Vernichtung der biologischen Vielfalt spielt sich unterdessen vor aller Augen statt – und findet dennoch nur geringe öffentliche Beachtung: Auch dieses Jahr verüben Jäger und Wilderer Massaker an Zugvögeln auf ihrem Weg in die Winterquartiere. Kaum unterwegs, töten sie Millionen von Vögeln. Die Täter locken mit dem gequälten Gesang eingekerkerter Artgenossen Vögel in tödliche Netze oder zerquetschen die Tiere mit Steinfallen.

Sie holen die Vögel zu Dutzenden mit Kugelhageln vom Himmel, wie auf Bildern und Videos zu sehen ist, die derzeit in sozialen Medien kursieren. Oder die Täter legen mit Leim präparierte Ästen und Zweige aus, von denen ihre Peiniger die Vögel oft in Stücken abreißen. Die Tiere sterben aber auch zuhauf unbemerkt und qualvoll irgendwo entlang ihres Weges an den Verletzungen, die sie erlitten haben, als sie ihren Häschern noch einmal entkommen sind.

Was ist da los, wie kann das geschehen?

Eine Gruppe aus fünf Kranichen fliegt in der untergehenden Sonne über die Golan-Höhen.
Kraniche durchqueren den Nahen Osten zu Zehntausenden auf ihrem Weg von den skandinavischen und russischen Brutgebieten nach Afrika. Haben sie, wie hier, einmal die Golan-Höhen auf israelischer Seite erreicht, haben sie den gefährlichsten Teil ihrer Reise überlebt. Gleich hinter der Hügelkette liegt das syrisch-libanesische Grenzgebiet.

50 Millionen Vögel fallen Vogelwilderern zum Opfer, nochmal so viele sterben bei der legalen Jagd

Das Ausmaß der Wilderei entlang der Vogelzugrouten ist gewaltig. Nach vorsichtigen Schätzungen von BirdLife International werden in den Anrainerstaaten des Mittelmeeres in jedem Jahr schätzungsweise rund 25 Millionen Vögel Opfer illegaler Verfolgungspraktiken.

BirdLife beruft sich auf Schätzungen eigener lokaler Experten und hat daraus Mittelwerte aus jeweils niedrigsten und höchsten Schätzwerten errechnet. Die höchste Schätzung zugrunde gelegt, beträgt die Gesamtzahl der im Mittelmeerraum jährlich illegal getöteten Vögel sogar 37 Millionen, der niedrigsten zufolge 13 Millionen.

Das Komitee gegen den Vogelmord (CABS) geht sogar von mindestens 50 Millionen Vögeln aus, die in jedem Jahr auf dem Zugweg zwischen Europa und Afrika illegal getötet werden. Hinzu kommt in derselben Größenordnung die legale Jagd in der Europäischen Union. Das ergab eine Auswertung aller Jagdstatistiken der EU-Mitgliedstaaten durch das CABS.

Die illegale Verfolgung gefährdet das Überleben ganzer Arten

Als Hauptverfolgungsländer gemessen an den absoluten Zahlen werden von BirdLife Ägypten mit im Mittel 5,7 Millionen und Italien (5,6 Millionen) getöteter Vögel genannt. Syrien, der Libanon und Zypern folgen. Bezogen auf die Intensität der Verfolgung (gemessen an der Zahl der getöteten oder gefangenen Vögel pro Quadratkilometer) belegen Malta, Syrien und der Libanon die Spitzenplätze.

Singvogelarten weisen zahlenmäßig die höchsten Opferraten auf. Fast drei Millionen Buchfinken, zwei Millionen Wachteln und ebensoviele Mönchsgrasmücken fallen der Wilderei zum Opfer. Diese Arten sind nicht in ihrem Bestand gefährdet. Aber die illegale Verfolgung ist für andere Vogelarten mittlerweile ein Top-Bedrohungsfaktor für das Überleben der ganzen Art.

Ein adulter Schreiadler und sein flügger Jungvogel sitzen in einer Eiche.
Die Verfolgung durch Jäger auf dem Zug in die Winterquartiere ist für einige seltenere Vogelarten eine existentielle Bedrohung. Schreiadler ziehen nur ein einziges Junges pro Jahr auf. Jeder Verlust wiegt schwer.

Schreiadler werden beispielsweise allein im Libanon in einer Größenordnung von 5000 Vögeln getötet. Bei einer Weltpopulation von nur rund 30.000 Brutpaaren und einer geringen Reproduktion von meist nur einem Jungvogel im Jahr ist die Verfolgung auf dem Zug eine gleichwertige Bedrohung wie der Verlust geeigneter Lebensräume durch die stetige Intensivierung von Agrarland und Wäldern in den Brutgebieten.

Kranichmassaker im Libanon

Dieser Tage erreichen uns wieder erschütternde Bilder aus dem Libanon. Diesmal von Kranichen. Zu Dutzenden posieren einzelne Jäger mit den getöteten Tieren, die sie an Drahtzäune gehängt oder auf Motorhauben ihrer Autos drapiert haben. Selbst Kinder sind auf Fotos zu sehen, wie sie mit den Vögeln posieren, die in vielen Ländern als „Vögel des Glücks“ verehrt werden.

Wir haben mit Lloyd Scott gesprochen, der für das Komitee gegen den Vogelmord das Geschehen verfolgt. Wegen der Corona-Pandemie kann in diesem Jahr kein internationales Team der Vogelschutzorganisation vor Ort sein. Scott steht aber mit den libanesischen Naturschützern im ständigen Kontakt, die ungeachtet der Pandemie im Einsatz sind.

Lloyd Scott kniet auf dem Boden und hält dabei zwei getötete Vögel in die Luft: einen Schreiadler und einer Waldohreule.
Lloyd Scott vom Komitee gegen den Vogelmord bei der Bergung illegal abgeschossener Greifvögel, hier einem Schreiadler und einer Waldohreule.

Wie haben Sie über das Massaker an Kranichen erfahren?

Ich erhielt über die CABS-Facebook-Seite eine Videobotschaft von einer Frau aus dem Dorf Laklouk im Libanongebirge. Sie hat eine große Gruppe Kraniche gefilmt, die dort entlang gezogen ist. Der Kranich-Zug befindet sich gerade auf dem Höhepunkt und ist in diesem Jahr besonders intensiv. Sie berichtete, dass es schon die dritte Welle von Kranichen innerhalb weniger Stunden war. Die Frau befürchtete, dass die Vögel zur Zielscheibe werden könnten, und wollte uns informieren, falls wir etwas zu ihrem Schutz unternehmen können.

Ermutigend zu hören, dass sich auch viele Menschen vor Ort für die Tiere einsetzen. Was konnten Sie unternehmen?

Ich habe unsere libanesischen Partner vom Naturschutzverband SPNL und dem Zentrum für nachhaltige Jagd sowie eine Anti-Wildereieinheit kontaktiert, um sie zu bitten, in der Region um einen bekannten Flaschenhals des Vogelzugs bei Egbhe Position zu beziehen.

Warum dort?

In dieser Region sind wir normalerweise mit unseren Vogelschutzcamps aktiv, die in diesem Jahr wegen Corona ausfallen müssen. Leider gelang es wegen Aktivitäten an einem anderen Hotspot der Vogelverfolgung nicht, Leute in die Gegend zu bringen. Über die sozialen Medien konnten andere Vogelschutzorganisationen wie der Schweizerische Tierschutzverband und die Beiruter Gruppe BETA (Beirut for Ethical Treatment of Animals) die Aktivitäten der Wilderer dokumentieren, darunter Abschüsse von Rosapelikanen und Kranichen.

Kann man durch die einzelnen Berichte ein Bild vom Ausmaß der Vogelmassaker bekommen?

In einem Bericht eines Kollegen des Vogelschutzverbands ABCL heißt es: „Diese Massaker werden täglich im ganzen Land verübt.“ Auch Videos belegen das für die unterschiedlichen Landesteile, nicht nur im Libanongebirge im Norden, sondern auch aus der Region um Tyros ganz im Süden aufgenommen wurden. Wir erfahren nur schlaglichtartig von einzelnen Vorfällen. Beispielsweise wurden in der vergangenen Woche bei Ouyoun östlich von Beirut eine Gruppe Pelikane mit automatischen M16-Sturmgewehren abgeschossen. Wir wissen nur, dass mehr als ein Dutzend Vögel getötet wurden, und der Vorfall mit Kriegswaffen ereignete sich in weniger als 200 Meter Entfernung vor einem Militärkontrollpunkt. Bei der Recherche stießen wir auf weitere derartige Vorkommnisse im Süden und auf dieses Kranichmassaker in der Gegend um Tyros an der Küste.

Ein Jäger präsentiert stolz ein halbes Dutzend getöteter Kraniche, die an einem Zaun baumeln.
Ein Jäger posiert stolz mit den getöteten Kranichen

Was ist dort geschehen?

Offenbar sehr viele Kraniche wurden mit Hilfe von Klangattrappen, also vom Tonband abgespielten Kranich-Rufen, zur Rast an einer Flussmündung gelockt und dann aus militärischen Gewehren und Schrotflinten niedergemetzelt, sobald sie zum Landen ansetzten. Viele Vögel starben sofort, andere konnten verletzt davonfliegen. Eine Augenzeugin hat es so formuliert: „Es regnete Blut vom Himmel“. Die Schießerei hat offenbar über zwei Stunden lang angedauert. Die Zeugen haben versucht, die Täter aufzuhalten, aber sie befanden sich auf der anderen Seite der Mündung.

Gibt es neben diesen Zeugenaussagen weitere Belege für die Vorfälle?

Es gibt auch ein Instagram-Bild, das einen Typen auf dem Rücksitz eines Pick-ups mit Dutzenden von toten Kranichen zeigt. Auf einem anderen ist er mit etwa 20 toten Kranichen zu sehen, die an einem Zaun festgenagelt sind. Am Samstagnachmittag erhielt ich dann eine E-Mail mit einem Videoanhang, der Dutzende von toten Kranichen in Ufernähe zeigt, während laute Kranich-Lockrufe von einem Tonband ertönen. Das war ein eindeutig von den Wilderern aufgenommenes Video. Auch lokale Medien berichteten darüber. "Schweres Feuer von Militär- und Jagdgewehren östlich und südlich von Tyros ohne die Präsenz der libanesischen Sicherheitskräfte oder der libanesischen Armee“, meldete eine Zeitung.

Was geschieht mit den getöteten Vögeln?

Das Bild eines Mannes, der zwei tote Kraniche hochhält, scheint sich in einem Metzgerladen gemacht zu sein. Typischerweise werden größere Vögel in erster Linie als „Sport“ getötet. Kleinere Vögel werden getötet und gegessen. Angesichts der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Situation im Land ist es aber wahrscheinlich, dass viele dieser Vögel geschlachtet und gegessen oder mit Gewinn verkauft werden, um sie als illegale Präparate zu zu Geld zu machen. Viele Vögel werden aber einfach zum Sterben zurückgelassen oder nach der Aufnahme von Trophäenbildern weggeworfen.

Eine Ansammlung toter Vögel: Auf diesem Bild zu sehen:Schreiadler, verschiedene Eulenarten, Rötelfalken, Ziegenmelker, Wachtelkönige
Die illegale Jagd auf Zugvögel ist ein politisch unterschätztes Problem. Nicht nur das Leid der Tiere, auch der Verlust für die Biodiversität ist enorm. Auf diesem Bild zu sehen:Schreiadler, verschiedene Eulenarten, Rötelfalken, Ziegenmelker, Wachtelkönige – Die weggeworfenen Überreste einer nächtlichen Jagd mit Scheinwerfern.
Ein Vogelwilderer hält stolz vier tote Kraniche in die Luft
Schwer erträglicher Anblick eines stolzen Beteiligten am Kranichmassaker von Tyros.
Ein Rosapelikan liegt auf einem Behandlungstisch in einer Tierklinik.
Auch im Libanon gibt es viele Menschen, die gegen die Vogelwilderei sind und die verletzten Vögel medizinisch behandeln, hier in einer Tierklinik in Beirut.

War das Kranich-Massaker ein lokales Phänomen?

Es gibt mittlerweile eine Vielzahl von Bildern von verschiedenen, teils weit auseinander liegenden Orten, die belegen, dass die Kraniche auf dem Durchzug vielerorts massiv unter Beschuss genommen wurden. Ein Film zeigt Kinder, die mit einem erschossenen Kranich durch die Straßen marschieren. Das Massaker in Tyros scheint ein besonders schlimmer Vorfall zu sein, aber wir glauben, dass es in den letzten Tagen und Wochen im ganzen Land weitere derartige Fälle gibt.

Wie hat sich die Lage im Vergleich zu den Vorjahren entwickelt?

Es ist schwer zu sagen, ob es im Vergleich zu den vergangenen Jahren irgendwelche Fortschritte gibt, vor allem angesichts all der politischen Umbrüche seitdem. Unmittelbar nach dem herbstlichen Vogelschutz-Camp im vergangenen Jahr durchlief das Land die politische Revolution, durch die die Regierung gestürzt wurde. Das Jahr begann also in politischen und wirtschaftlichen Unruhen. Die Corona-Pandemie und dann die schwere Explosionskatastrophe in Beirut im August: das Land liegt in dieser Minute völlig auf den Knien.

Vogelschutz hat da sicher einen noch geringeren Stellenwert als ohnehin?

Es ist klar, dass die Sicherheitskräfte und die Polizei angesichts der gegenwärtigen Situation im Land völlig unterbesetzt sind, um mit Ausnahme der schlimmsten Auswüchse auf alle Fälle von Vogelwilderei zu reagieren, auf die unsere Partner sie hinweisen. Positiv zu vermerken ist, dass das Team an mehreren Treffen mit lokalen Militärs und Polizisten teilgenommen und in diesem Jahr viele Workshops mit „verantwortungsbewussten Jägern“ durchgeführt hat, um die Ausbildung und die Einhaltung des Jagdgesetzes zu fördern. Einige dieser Jäger haben jetzt auch bei der Bergung von geschossenen Vögeln und dem Transport zu Tierärzten geholfen.


Nachtrag:

Vor wenigen Stunden erreichte uns die Nachricht, dass die Gendarmerie am Dienstag, 27. 10. (drei Tage nach den Vorfällen) drei Tatverdächtige des Kranich-Massakers in Tyros festgenommen hat. Die Männer im Alter zwischen 16 und 40 Jahren waren nach Polizeiangaben in Besitz mehrerer toter Kraniche. Die Polizei untersucht den Fall weiter und hat die Öffentlichkeit aufgerufen, Fotos und Videos des Geschehens zur Verfügung zu stellen. Die Initiative zu der Strafverfolgung ging vom Middle Eastern Sustainable Hunting Center aus, einer Jägervereinigung, die als Teil der Naturschutzorganisation SPNL für nachhaltige Jagd eintritt und eng mit CABS zusammenarbeitet.


Der Libanon hat sich in zahlreichen internationalen Abkommen zum Schutz der durchziehenden Vögel verpflichtet. Zuletzt ist das Land dem Übereinkommen zum Schutz zwischen Europa und Afrika wandernder Greifvögel (Raptors MOU) beigetreten und er ist Mitglied des Bonner Übereinkommens zur Erhaltung wandernder Tierarten.

2017 hat die Regierung zudem ein neues Jagdgesetz verabschiedet. Das Gesetz Nr. 580 regelt den Abschuss von Vögeln und anderen Wildtieren erstmals umfassend. Offiziell sind 13 Vogelarten zum Abschuss freigegeben: Wachtel, Chukarhuhn, Stock-, Krick- und Knäkente, Bekassine, Hohl-, Ringel- und Turteltaube, Kalanderlerche, Buchfink, Sing- und Wacholderdrossel. Alle anderen Arten, darunter alle Greifvögel, Störche, Pelikane und Kraniche sind streng geschützt.

Auch die Nutzung elektronischer Lockgeräte und die prahlerische Zur-Schau-Stellung, wie auf zahllosen Fotos im vorliegenden Fall dokumentiert, sind verboten. Die formal-rechtliche Grundlage für den Zugvogelschutz im Libanon ist damit vorhanden. Es mangelt auf ganzer Linie aber an der Kontrolle. In der Unterstützung der Nicht-Regierungsorganisationen und der wenigen Anti-Wilderei-Einheiten der Polizei könnte auch ein Ansatzpunkt für die Europäische Union liegen, das Töten wirkungsvoll zu bekämpfen.

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