Deutschlands heimlicher Wappenvogel unter Druck

Windkraftanlagen und Nahrungsmangel auf Feldern und Wiesen machen es den Rotmilanen schwer

von Carl-Albrecht von Treuenfels
7 Minuten
Der Vogel segelt im Gleitflug durch die Luft.

Selbst für einen nicht so geübten Vogelbeobachter ist es eher einfach, einen Rotmilan bei seinem Suchflug am Himmel von anderen Greifvögeln wie etwa dem Mäusebussard oder dem selten sichtbaren Habicht oder gar von der Rohrweihe zu unterscheiden. Sein volkstümlicher Name „Gabelweihe“ weist auf das untrügliche Kennzeichen von Milvus milvus hin: der gegabelte Stoß (Schwanz), den der Vogel beim Fliegen gerne als sehr bewegliches Steuerinstrument einsetzt. Der Stoß ist oberseits wie ein Teil des übrigen Gefieders leuchtend rotbraun gefärbt – diese Merkmale haben für die beiden Namen gesorgt. Lediglich der Kopf ist grau. Nur ein naher Verwandter kann bei flüchtigem Hinsehen für Irritation und Verwechslung sorgen: Der Schwarzmilan (Milvus migrans), mit 50 bis 58 Zentimeter Körperlänge rund zehn Zentimeter kleiner als der Rotmilan, hat einen schwächer eingekerbten Stoß und dunkelbraune Gefiederfarben. Er wird deshalb auch Brauner Milan genannt. In manchen Gegenden Deutschlands lassen sich beide Arten gleichzeitig beobachten und in ihrem Flugbild vergleichen. Rund um den Bodensee, im baden-württembergischen Hegau, im Harzvorland und in der Altmark gibt es noch größere Konzentrationen beider Milane. Auch in der Schweiz fühlen sich beide Arten wohl.

Rotmilan mit dem typischen gegabelten Schwanz.
Typisch Rotmilan – oder Gabelweihe, wie er im Volksmund auch heißt: Der Stoß von Milvus milvus ist gegabelt. Der Vogel setzt ihn beim Fliegen gerne als sehr bewegliches Steuerinstrument ein.

In Deutschland brüten 12.000 bis 18.000 Paare

Während der Schwarzmilan mit seinen sechs Rassen ein weites Verbreitungsgebiet von Mitteleuropa, Afrika, dem Nahen Osten bis nach Asien hat und selbst in Japan anzutreffen ist, konzentriert sich das Vorkommen des Rotmilans auf Mittel- und Südeuropa und Teile Vorderasiens. Deutschland spielt eine besondere Rolle für den Rotmilan, denn hier brüten zwischen 12.000 und 18.000 Paare (doppelt so viele wie Schwarzmilane) und damit mehr als die Hälfte des Weltbestandes, der mit 19.000 bis 25.000 Paare beziffert wird. Kein anderer Brutvogel hat in Deutschland dieses Alleinstellungsmerkmal. Daher weisen Naturschützer und Ornithologen stets auf die besondere Verantwortung Deutschlands für den Rotmilan hin. Zweitwichtigstes Land für die Rotmilane ist Spanien, denn dort verbringen viele die Wintermonate, um ab Ende Februar in ihre nördlichen Brutgebiete zurückzukehren. In jüngerer Zeit bleiben jedoch immer mehr Rotmilane auch im Winter in Deutschland. Bis zu 1500 Vögel ziehen nicht mehr nach Süden und bilden abends an bevorzugten Orten in Bäumen Schlafgesellschaften, auch in Frankreich. In England, wo der Rotmilan dank Ansiedlungprojekten wieder heimisch ist, zieht er auch nicht mehr im Winter fort.

Aber der Aufenthalt zur Brutzeit in Deutschland wird für die „Königsweihe“ immer unwirtlicher und gefährlicher. Die nach den Methoden der modernen Landwirtschaft bestellten Felder und Wiesen geben immer weniger Nahrung für den Rotmilan her. Ratten, Mäuse, Maulwürfe, Feldhamster (wo es die noch gibt), Junghasen, Reptilien, kleine Vögel, Regenwürmer, Fische von Gewässeroberflächen und schließlich Aas – eigentlich ist die Nahrungspalette vielseitig genug zum Überleben der Altvögel. Und sie sollte auch zum Aufziehen der zwei bis vier Jungen im Baumhorst ausreichen. Aber in dem Ausmaß wie die Geflügelhaltung in den Dörfern abgenommen hat – dort konnten sich die „Hühnergeier“ bei ihren regelmäßigen Kontrollflügen früher erfolgreich bedienen –, so wenig lebende Beute bieten die schon zeitig im Jahr hoch und dicht gewachsenen Weizen-, Gerste-, Raps- und Maiswüsten auf den großen landwirtschaftlichen Flächen. Auf den mit Einheitsgras bewachsenen Wiesen lässt sich allenfalls nach der – im Jahr mehrfach durchgeführten – Mahd der Kadaver eines tödlich verletzten Rehkitzes oder Junghasen finden. Heuschrecken oder andere Großinsekten suchen Milane und andere Vögel dort meistens vergebens.

Zwei Rotmilane kämpfen miteinander.
Rotmilane bei Revierkämpfen.

Neben der prekären Ernährungslage, die nicht selten zur Folge hat, dass manche Jungmilane während ihrer siebenwöchigen, bis in den Juli dauernden Nestlingszeit in ihren Horsten verhungern, ist in den vergangenen Jahren eine Gefahr herangewachsen, die immer mehr Opfer besonders unter den Rotmilanen (neben anderen Groß- und Kleinvogelarten sowie Fledermäusen) verursacht: die kontinuierlich zunehmende Zahl von Windkraftanlagen (WKA), deren Rotoren zudem von Generation zu Generation größer werden. Die Staatliche Vogelschutzwarte des Landesamtes für Umwelt in Brandenburg sammelt seit 2002 Daten von an Windkraftanlagen verunglückten Vögeln und Fledermäusen für Deutschland und – soweit verfügbar – auch für Europa. Obwohl laut Vogelschutzwarte „als sicher gelten kann, dass die Datenbank nur einen Bruchteil der tatsächlich an WKA verunglückten Tiere enthält“, sind die bis Januar 2019 veröffentlichten Zahlen erschreckend genug. An den nach Angaben des Bundesverbandes Windenergie 2018 in Deutschland 29.213 an Land (onshore) vorhandenen WKA sind seit 2002 unter ihnen 458 getötete Rotmilane gefunden worden. Nur unter den Mäusebussarden gab es mit 562 mehr Opfer. Als nächstes folgen Seeadler mit 158, Turmfalken mit 123 und Schwarzmilane mit 43. Die Dunkelziffer ist nach einhelliger Meinung von Fachleuten um ein Mehrfaches höher. Wer kann schon den Boden unter knapp 30.000 WKA regelmäßig absuchen und vielen Beutegreifern wie Fuchs, Dachs, Waschbär und anderen Kadaververwertern zuvorkommen? Viele verletzte Kollisionsopfer verenden auch nicht in unmittelbarer Nähe unter den Rotoren.

Hinzu kommt, dass die Windmühlen nicht nur von Jahr zu Jahr zahlreicher werden, sondern auch höher und die Rotoren großflächiger. Betrug die durchschnittliche Nabenhöhe im Jahr 2000 noch 71 Meter und der Rotordurchmesser 58 Meter, so maßen die Masten der jüngeren Generation im vergangenen Jahr 132 Meter und die Rotordurchmesser 118 Meter. Die Planungen für die nächste Stufe sehen noch höhere Anlagen mit gewaltigeren Rotorblättern vor. Doch nicht nur die unmittelbaren tödlichen Folgen eines Zusammenstoßes, vielfach durch den enormen Sog ausgelöst, sorgen für große Verluste unter den eigentlich mit bis zu 35 Lebensjahren langlebigen Rotmilanen. Im Vorfeld von Ausweisungen von Windeignungsgebieten und konkreten Planungen neuer WKA (zunehmend auch in Wäldern, besonders in Hessen) werden Vögel vergiftet und Horstbäume gefällt. Da nach dem 2015 von der Länderarbeitsgemeinschaft der Staatlichen Vogelschutzwarten verabschiedeten und von der Bundesregierung anerkannten „Neuen Helgoländer Papier“ der Mindestabstand zwischen einer Windmühle und einem Rotmilanhorst 1500 Meter betragen muss und in einem Radius von 4000 Metern zu prüfen ist, ob es regelmäßig von der Art aufgesuchte Nahrungshabitate, Schlafplätze oder andere genutzte Biotope gibt, versuchen immer wieder „interessierte Kreise“, solche Hindernisse illegal aus dem Weg zu räumen. In mehreren Bundesländern wurden schon Brutplätze zerstört und Brutpaare während der Aufzuchtzeit der Jungen abgeschossen oder vergiftet mit der Folge, dass auch die noch nicht flüggen Jungen starben.

Diesen vielen Ursachen, die dem „heimlichen Wappenvogel Deutschlands“ das Leben schwer machen oder vorzeitig beenden, will eine Initiative mit dem Namen „Rotmilan – Land zum Leben“ entgegenwirken. Gemeinsam mit dem Deutschen Verband für Landschaftspflege, dem Dachverband Deutscher Avifaunisten (DDA) und neun lokalen Partnern arbeitet die 1992 vom inzwischen verstorbenen Hamburger Unternehmer Haymo Rethwisch gegründete und mit einem Vermächtnis von gut 100 Millionen Euro ausgestattete Deutsche Wildtier Stiftung seit fünf Jahren intensiv daran, die Lebensbedingungen für den Rotmilan in seinem Kernverbreitungsland entscheidend zu verbessern. „Bereits über 15.000 Hektar Nahrungsflächen wurden seitdem für den Rotmilan optimiert und 450 einzelne Maßnahmen zum Schutz der Nestbäume und Bruthabitate umgesetzt“, schreibt die Deutsche Wildtier Stiftung in ihrem Jahresbericht 2018 und betont die wissenschaftliche Begleitung aller Projekte.

Majestätisch gleitet ein Rotmilan durch die Luft, sein gegabelter Schwanz ist gut zu erkennen.
Majestätisch gleitet ein Rotmilan auf einem seiner Kontrollflüge durch die Luft.

Auf die besondere Verantwortung Deutschlands für den Rotmilan hat schon der Naturschutzbund Deutschland (Nabu) im Jahr 2000 hingewiesen, als er ihn zum „Vogel des Jahres“ erkor. Seitdem haben sich seine Lebensumstände nicht nur durch die beschriebenen Gefahren und Einschränkungen dramatisch geändert. Auch natürliche Feinde haben sich vermehrt. Geschützte Greifvögel wie Uhu, Habicht und gelegentlich Seeadler, die sich dank verbessertem Schutz vermehrt haben, bedienen sich immer wieder mal im Horst des Milans bei dessen Jungen als Beute.

Dass der Rotmilan gelegentlich als „liederlicher Vogel“ bezeichnet wird, liegt an der Art, wie er sein Nest baut. Oft nutzt er ein altes Bussard- oder Krähennest als Unterlage für seine zwei bis drei, selten vier Eier, die hauptsächlich das Weibchen je nach Eizahl bis zu gut sechs Wochen bebrütet. Doch bevor es dazu kommt, trägt das Männchen zum Einbau als wärmende Sitzpolster neben Zweigen und Stroh mit Vorliebe Lumpen, Plastikfetzen und Abfälle von Müllkippen zum Nest. Auch im Lauf der Brutzeit, während der das Männchen seinem Weibchen Nahrung bringt, schleppt es gerne „Müllergänzungsmaterial“ mit seinen im Vergleich zu anderen Greifvogelarten eher schwach ausgebildeten Fängen heran. Wenn das Paar in einem Jahr erfolgreich gebrütet und seine Jungen aufgezogen hat und im Radius seiner Nahrungsflüge von etwa fünf Kilometern sich die Landschaft nicht wesentlich verändert, bezieht es im März oder April mehrere Jahre hintereinander dasselbe Nest auf einem Baum, der sowohl im hohen Altbuchenbestand, im Randbereich eines Kiefernwaldes, in einem Feldgehölz, im Uferbewuchs eines Fließgewässers oder im dorfnahen Bauernwald stehen kann. Besonders während der Balz im Frühjahr lassen sie ihre weittragenden „pfeifend-klagenden“ Rufe hören. Der etwas leisere Schwarzmilan bevorzugt die Nähe von Bächen, Flüssen und Seen zum Brüten, da er stärker als der Rotmilan Fische als Beute fängt. Deshalb wird er mancherorts auch „Wassermilan“ genannt.

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