Vögel sind gute Menschenbeobachter

Warum es so wichtig ist, in Tieren nicht nur Objekte und Artvertreter zu sehen, sondern als Lebewesen mit einer eigenen subjektiven Perspektive auf die Welt

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter:
8 Minuten
Ein menschliches Auge in Nahaufnahme, grafisch bearbeitet.

Auf der Landkarte hatte es nach einer schönen Wanderung ausgesehen. Quer durch die nordskandinavische Wildnis führte ein kleiner gestrichelter Pfad aus Norwegen zur Bahnstation Riksgränsen in Schweden. Eigentlich müsste das an einem halben Tag zu schaffen sein, dachten wir uns, und machten uns früh morgens auf den Weg.

Es war Anfang September. Eine wunderbare Zeit, so hoch im Norden zu sein. Die Landschaft leuchtet rot und gelb von der herbstlichen Verfärbung der Vegetation. Dazu die unendlich wirkende Weite der Landschaft – ein großartiges Naturerlebnis, man fühlt sich wie in einer anderen Welt und ist doch auf dieser.

Doch am frühen Nachmittag geschah, was eben geschieht in der Natur. Das Wetter wechselte. Und da es zu dieser Zeit noch keine Smartphones mit Wettervorhersage gab und unser letzter Kontakt zur Zivilisation schon ein paar Tage her war, bekamen wir davon erst etwas mit, als die Tiefdruckfront samt ihrem eisigen Schneeregen über uns kam. Nebel umhüllte uns und der Himmel warf mit eisigem Matsch nach uns.

Zuerst verloren wir den Pfad, suchten ihn, fanden ihn nicht wieder. Dann merkten wir, wie sich Stunde um Stunde, in der wir der Kompassnadel in die richtige Richtung zu folgen glaubten, der Schneeregen in unsere Klamotten fraß und schließlich auch in unser Gepäck. Als es zu dunkeln begann, holten wir das durchgeweichte Zelt aus dem Rucksack und bauten es am Rand eines kleinen Birkenhains auf. Es wurde eine schrecklich klamme Nacht, in der wir alles anzogen, was wir hatten. Wir befürchteten, dass unsere Körperwärme der durchdringenden Kälte weichen würde.

Zwei fedrige Sichelmonde

Als wir am nächsten Morgen aufwachten, wussten wir noch nicht, dass wir nicht mehr zu zweit, sondern zu dritt waren. Im Zelt hatte sich eine dünne Schicht Eiskristalle über unsere Sachen gelegt. Es war absolut still – der Schneeregen hatte aufgehört. Ich öffnete das Zelt und schaute in ein riesiges Gesicht. Es war so groß, wie ich noch nie ein Gesicht gesehen hatte. Um die stechend gelben Augen waren in diesem Gesicht konzentrische Kreis angeordnet, so als hätte sie ein Künstler mit dem Pinsel gemalt. Zwei weiße Sichelmonde, die wie eine Kriegsbemalung wirkten, verstärkten die hypnotisierende Wirkung des Blicks, der mich unvermittelt traf.

Jeder andere Vogel wäre in diesem Moment wahrscheinlich aufgeflogen, aber der Bartkauz saß, äußerlich ruhig, auf einer kleinen Birke, vielleicht vier oder fünf Meter von uns entfernt, und schaute auf die Primaten, die sich aus dem farbigen, unförmigen Haufen schälten, ein Anblick, den die große Eule an diesem Fleck wohl noch nie gesehen hatte.

Der Bartkauz neigte und wendete seinen mächtigen Kopf und schaute uns dabei zu, wie wir jetzt dastanden und ihn anschauten. Wir blieben still, er blieb still. Wir blickten ihn an, er blickte uns an. Dieser Vogel wollte ganz genau wissen, wer wir sind und was wir tun.

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Wenn ich heute, knapp dreißig Jahre später, in meinem Vogelbuch blättere, bleibe ich häufig auf Seite 175 hängen. Sofort wird beim Anblick der Zeichnung die Erinnerung an den echten Bartkauz von damals wach. Ich war damals schon Vogelbeobachter und völlig begeistert davon, diese nur im hohen Norden heimische Art gesehen zu haben. Über die Jahre ist aber noch ein zweiter Gedanke hinzugekommen, maßgeblich verstärkt durch ein weiteres Buch: Nicht nur ich habe den Bartkauz gesehen, der Bartkauz hat auch uns gesehen.

Das ist doch selbstverständlich, das ist doch nichts Besonderes? Klar, in dem Sinn, dass der Vogel nicht blind ist und etwas sieht. Der Gedanke, der mich beschäftigt: Waren wir für den Vogel nur eine Art Schlüsselreizquelle, ein Muster X auf seiner Retina, das vollautomatisiert die Reaktion Y auslöste? Oder sah uns da ein „Jemand“ an, ein Lebewesen mit einer subjektiven Perspektive auf die Welt? Wir reden so oft darüber „was“ für einen Vogel, was für eine Art wir gesehen haben. Eine mindestens so interessante Frage ist: Wer ist dieser Vogel?

Ein Bartkauz in Nahaufnahme
Von Bartkäuzen (Strix nebulosa) heißt es im Kosmos-Vogelführer, sie seien „äußerlich so groß wie ein Uhu, aber fast nur aus Federn bestehend“. Die Art kommt in Taigalandschaften des Nordosten Europas und im nördlichen Nordamerika vor.

Das Buch heißt „Phi“, es ist 2012 erschienen, geschrieben wurde es von Giulio Tononi. An der Universität von Madison/Wisconsin erforscht der gebürtige Italiener das Bewusstsein. Aus der Schlafforschung kommend, hat sich Tononi in den vergangenen Jahren einen Namen damit gemacht, dass er gemeinsam mit dem Gehirnforscher Christof Koch eine neue, radikale Theorie des Bewusstseins entwickelt, die "Integrierte Informationstheorie“. Sie weicht von einem alten, in der westlichen Kultur tiefsitzenden Dogma ab, demzufolge nur der Mensch über echtes Bewusstsein verfügt, Tiere aber nur mechanisch funktionieren, also so etwas wie Maschinen in biologischer Form sind. Zwar hat es, seit René Descartes den Dualismus formuliert hat, viele philosophische Neuerungen und Alternativentwürfe gegeben, doch die Anschauung, dass Tiere keine subjektive Perspektive und kein Bewusstsein besitzen, ist noch immer tief verankert.

Im Garten des Bewusstseins

Nach dualistischer Lehre hat der Bartkauz in Nordskandinavien uns eben nicht wirklich bewusst angesehen, sondern automatisch ein biologisches Programm abgespult, das einen evolutiv bewährten Überlebenssinn hat – zum Beispiel zu bestimmten Jahreszeiten auf bestimmte Reize hin sein Revier zu überprüfen. Außer diesem Reiz-Reaktions-Verhalten gibt es in dem Tier ansonsten – nichts.

Tononi (Schüler des Medizin-Nobelpreisträgers Gerald Edelman) und Koch (Schüler des DNS-Mitentdeckers Francis Crick und seit 2015 Präsident des renommierten Allen Institute for Brain Research in Seattle) widersprechen dieser traditionellen Sicht vehement. Sie behaupten, dass Bewusstsein kein exklusives Reich des Menschen, sondern ein weit verbreitetes Phänomen sei – ausgeprägt überall dort, wo Informationen auf intensive Weise miteinander verwoben würden, so wie das in Gehirnen eben geschieht.

Hauptfigur von „Phi“ ist Galileo Galilei, weil er als einer der ersten in der modernen Naturwissenschaft scharf zwischen Objekt und Subjekt unterschied. Ihn, und mit ihm den Leser, nimmt Tononi auf eine atemberaubende Reise durch Sinne, Gehirn und Bewusstsein mit, die den Unterschied zwischen Objekt und Subjekt Stück für Stück aufhebt. Zu den wichtigsten Stationen dieser Reise zählt ein philosophischer Garten, in dem auf einem kahlen Baum eine Eule sitzt.

In diesem Garten trifft Galileo auf eine Frau, die ihm ein besonderes Instrument zeigt: „Qualiaskop“ nennt sie das Gerät, weil in der Bewusstseinsphilosophie Empfindungen „Qualia“ heißen. Man kann durch dieses Gerät das Bewusstsein als physische Wirklichkeit sehen, und je mehr davon vorhanden ist, desto größer erscheint es. Die These von Tononi und Koch: Bewusstsein fängt schon bei den kleinsten Lebewesen an und nimmt in der bekannten Welt der Lebewesen zum Menschen hin graduell zu. Es tritt also nicht abrupt nur beim Menschen auf.

Kein Mittel zum Zweck

Wer durch das „Qualiaskop“ blickt, sieht eine räumlich verzerrte Welt: Gebirge, ja sogar die Weiten der Milchstraße erscheinen unendlich klein, während das Bewusstsein eines Insekts groß aufleuchtet. „Du wirst erfolglos auf Steine und Flüsse, Wolken und Berge schauen“, sagt die alte Frau zu Galileo, „der höchste Berg ist klein verglichen mit einer kleinen Motte.“ Galileo sieht den Mond aufgehen, aber auch der erscheint ihm mangels Bewusstsein nur winzig. Dann trifft sein Forscherblick auf die Eule – ihr Kopf erscheint so groß wie ein Himmelskörper zu sein, wie ein leuchtender Komet. Es ist das sichtbar gewordene Licht des Bewusstseins. Galileo schaut sich weiter im Garten um: „Inmitten des Nebels begann er andere Kometen zu sehen, andere Konstellationen, eine Galaxie, wenn man wirklich alles würde sehen können. Die Tiere erwachten aus dem Schlaf und machten ihre Lichter an.“ Diese Tiere, heißt es in “Phi“ „leuchten aus dem Inneren, mit dem Licht, das sehen kann, nicht mit dem Licht, das ein Auge braucht, um gesehen zu werden.“

Tononi hat eine poetische Ader – und ist zugleich Naturwissenschaftler durch und durch. Er hält es für dringend angebracht, den alten Dualismus zu überwinden und anzuerkennen, dass Bewusstsein und damit eine subjektive Perspektive, wie wir sie bisher für uns Menschen reservieren, in Wahrheit ein Kontinuum seien, auf dem sogar Motten angesiedelt sind – und selbstverständlich Bartkäuze. Wie tiefgreifend die praktischen Folgen wären, hat mir Tononi einmal bei einem langen Spaziergang durch seinen eigenen Garten in Madison so erklärt: „Wenn etwas Bewusstsein hat, darf man es nicht mehr als Mittel zum Zweck behandeln, sondern muss es als Zweck an sich respektieren und wertschätzen.“

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Beim Vogelbeobachten fällt es leicht, sich selbst als den aktiven Part wahrzunehmen und die Vögel als die Betrachteten. Das so nützliche Fernglas verstärkt diesen Effekt: Hier das Subjekt, da das Objekt.