Wie gut geht es dem Rotmilan wirklich?

Die Windbranche macht angeblich überzogene Auflagen zum Artenschutz für den stockenden Ausbau der Windenergie verantwortlich. Ausgerechnet der Rotmilan soll jetzt als Kronzeuge für ihre Unschädlichkeit herhalten

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter:
6 Minuten
Ein Rotmilan fliegt mit einem Fisch in den Krallen direkt über dem Fotografen

Die Windenergiebranche sorgt sich um den Rotmilan. Der schöne Greifvogel sei eine „wertvolle Art“ und der Windindustrie sei Natur- und Artenschutz wichtig, erklärte der Bundesverband Windenergie Ende August. Die Vogelfreunde aus der Windbranche hatten auch eine erfreuliche Nachricht parat: Der Bestand des Rotmilans in Deutschland sei stabil – im Langfristtrend ebenso wie kurzfristig. Die Population des streng geschützten Vogels habe sich in den letzten 30 Jahren unbeeinträchtigt vom Ausbau der Windenergie entwickelt.

Stabile Bestände ausgerechnet des Wappenvogels für den Konflikt zwischen Naturschutz und Energiewende trotz tausender neuer Windräder – und doch: Zu oft würden Genehmigungen wegen „vermeintlicher Unvereinbarkeit“ mit den Vorgaben zum Artenschutz erschwert, beklagt der Verband. „Hier muss sich etwas ändern“, fordert er. Doch taugt ausgerechnet der besonders windkraftsensible Rotmilan als Kronzeuge für die Unbedenklichkeit der Windkraft?

Ein Rotmilan sitzt in einer grünen Wiese.
Der Rotmilan steht im Zentrum zahlreicher Prozesse um den Ausbau der Windkraft. Inzwischen ist er so etwas wie der Wappenvogel im Konflikt zwischen Naturschutz, Biodiversitätskrise und Energiewende.

Der Verband beruft sich auf Daten, die die Bundesregierung im Rahmen ihrer Berichtspflichten zur Umsetzung der Vogelschutzrichtlinie in diesem Sommer an die EU-Kommission übermittelt hat. Darin wird tatsächlich sowohl der Kurzzeit- wie der Langzeittrend des Rotmilan-Bestandes als stabil bewertet. Eine genauere Analyse zeigt aber: Die Rotmilan-Daten sind alles andere als dazu angetan, um einen Freibrief für den weiteren ungeregelten Ausbau der Windenergie überall im Land auszustellen und die geltenden artenschutzrechtliche Regelungen als überzogen zu diskreditieren. Im Gegenteil: Die lokalen Populationen der Greife gehen ausgerechnet dort teilweise stark zurück, wo der Ausbau der Windkraft besonders stark fortgeschritten ist.

Langjährige Kartierung

Grundlage der von der Bundesregierung nach Brüssel gemeldeten und vom Windenergieverband zitierten Daten ist eine umfassende bundesweite Kartierung der Rotmilan-Vorkommen in Deutschland in den Jahren 2010 bis 2014. Das wissenschaftliche Mammutprojekt unter Beteiligung von Fachleuten aus Vogelschutzverbänden, ornithologischen Fachverbänden, Vogelschutzwarten und Naturschutzverwaltungen bietet eine äußerst gute Datenbasis, wie sie für kaum eine andere Vogelart in Deutschland verfügbar ist. Das Datenmaterial wurde von Christoph Grüneberg und Johanna Karthäuser vom Dachverband Deutscher Avifaunisten ausgewertet. Im Ergebnis kommen sie zu dem Schluss, dass der bundesweite Bestand des Rotmilans mit 14.000 bis 16.000 Paaren genau in der Mitte der Spanne liegt, die bereits bei den vorangegangenen Erhebungen für den Atlas Deutscher Brutvogelarten (Adebar) zwischen 2005 bis 2009 ermittelt wurde. Vergleiche mit älteren Erhebungen seien dagegen schwierig, weil diese zwar den jeweils bestmöglichen Erkenntnisstand der jeweiligen Zeit widerspiegelten, aber nicht vollständig auf systematischen Erfassungen oder Monitoring beruhten, sondern meist eine Mischung aus Schätzungen und einzelnen Kartierungsergebnissen darstellten.

Rotmilan auf einem abgestorbenen Baum.
Der Rotmilan ist eine der wenigen Vogelarten, die nur in Europa vorkommen. In Deutschland brüten etwa die Hälfte aller Rotmilane. Die Industrialisierung der Landwirtschaft und der Ausbau der Windenergie machen ihm zu schaffen.

Stimmt die Feststellung des Windenergieverbandes eines stabilen Trends über die letzten 15 Jahre bei ausschließlicher Betrachtung der Gesamtzahlen also noch, ändert sich das Bild entscheidend, wenn die regionalen Veränderungen betrachtet werden. Hier zeigen sich nämlich teilweise massive Verschiebungen. Vor allem im Nordosten Deutschlands ist ein starker Verlust von deutlich über 400 Paaren in den vergangenen Jahren zu verzeichnen. Im Südwesten Deutschlands stieg den aktuellsten Daten zufolge der Bestand dagegen um rund 600 Paare gegenüber den Ergebnissen des Zeitraums 2005–2009 an. Von flächendeckend stabiler Situation kann mithin kaum die Rede sein. Die aktuellen Bestands-Trends passen überdies überraschend gut mit den Ausbauzahlen der Windenenergie zusammen, allerdings in einer Korrelation, die der Branche nicht gefallen kann. Dort, wo die Milan-Zahlen stark abnehmen, im nordostdeutschen Tiefland, stehen auch die meisten Windkraftanlagen. Und dort, wo Rotmilane zunehmen, ist der Windkraftausbau am schwächsten. Ein Beispiel: In Baden-Württemberg, dem Land mit der höchsten Steigerung des Rotmilan-Bestands, stehen gegenwärtig 725 Windkraftanlagen. Im deutlich kleineren Brandenburg sind es mit 3821 mehr als fünfmal soviel. Natürlich gibt es für Bestandsveränderungen zahlreiche mögliche Ursachen und Schlussfolgerungen allein auf Basis einer Korrelation der Milan-Bestandstrends mit der Zahl der Windkraftwerke wären unseriös. Das gilt indes auch andersherum für die Behauptung, die bundesweit insgesamt stabile Entwicklung der Rotmilanpopulation beweise, dass die Windkraft ohne Auswirkungen auf die Entwicklungen von Populationen sei. „Die selektive und stark verkürzte Interpretation unserer Daten ist wissenschaftlich nicht seriös und führt zu nicht haltbaren Schlussfolgerungen“, kritisiert auch DDA-Geschäftsführer Christoph Sudfeldt. Auch die Forschung ist hier deutlich weiter als der Windenergieverband.

Negativer Einfluss durch Windkraft belegt

Dass der enorme Zubau mit Windrädern – derzeit sind bundesweit mehr als 30.000 Anlagen in Betrieb – negative Auswirkungen auf die Überlebenschancen zahlreicher Vögel hat, ist wissenschaftlich unbestritten – und ein Blick in die bei der Staatlichen Vogelschutzwarte Brandenburg geführte „Schlagopferkartei“ bestätigt dies eindrucksvoll. Die Frage ist nur: Sind sie so gravierend, dass dadurch ganze Populationen in Bedrängnis geraten? Das wäre nicht nur schade für die betroffenen Vogelarten, es wäre auch ein Verstoß gegen nationales und europäisches Naturschutzrecht sowie internationale Verpflichtungen, die Deutschland zum Schutz der Biodiversität eingegangen ist.

Gerade bei einigen Greifvogelarten – allen voran dem Mäusebussard und eben dem Rotmilan gibt es ernsthafte Hinweise darauf. In einer bereits 2014 in Journal for Nature Conservation publizierten Untersuchung zu den Auswirkungen der Windkraft auf Rotmilane in Brandenburg ermittelten die Autoren um den Biologen Jochen Bellebaum anhand eines auf systematischer Suche von Schlagopfern und damals 3044 Windkraftanlagen in dem Bundesland basierenden Modells 308 Rotmilane oder 3,1 Prozent des Bestands als Kollisionsopfer pro Jahr. Damit lagen die Verluste allein durch Windenergie schon damals im Grenzbereich einer Populationsgefährdung auf Landesebene. Mittlerweile wurden in Brandenburg fast 800 weitere Windräder errichtet. Dass eine populationsschädigende Schwelle mittlerweile überschritten wurde, dürfte sehr wahrscheinlich sein.

Ein Rotmilan fliegt mit einem erbeuteten Fisch in den Krallen dicht über die Wasseroberfläche eines Sees.
Bedrohte Schönheit: Der Rotmilan läuft Gefahr, beim Umbau der Energieversorgung auf der Strecke zu bleiben.

In noch größerem Maßstab versuchte die sogenannte Progress-Studie (Prognosis and assessment of collision risks of birds at wind turbines in Northern Germany) die Auswirkungen von Windkraftanlagen auf einzelne Vogelarten zu ermitteln. Progress ist die bislang weltweit aufwendigste Untersuchung mit Einbeziehung von 46 Windparks mit fast der Hälfte aller damals in Deutschland vorhandenen Windräder über dreieinhalb Jahre hinweg.

Die Autoren errechneten aus den aufgefundenen toten Vögeln wahrscheinliche Opferzahlen pro Windrad und Jahr. Ihre Modellierung kommt zu dem Ergebnis, dass an jeder Windkraftanlage pro Jahr 0,47 Mäusebussarde und 0,14 Rotmilane tödlich verunglücken. Beim gegenwärtigen Ausbaustand wären das mehr als 14.300 Mäusebussarde und knapp 4300 Rotmilane. Schon beim damaligen Ausbaustand der Windenergie sprach Studien-Co-Autor Oliver Krüger von der Universität Bielefeld bei der Veröffentlichung 2016 von einer „potenziell bestandsgefährdenden“ Entwicklung selbst beim häufigsten Greifvogel Deutschlands, dem Mäusebussard. Auch beim Rotmilan sei das wahrscheinlichste Szenario, dass die zusätzlichen Verluste durch Kollisionen an Windrädern negative Auswirkungen auf die Population hätten.

Deutschland trägt große Verantwortung für den Rotmilan

Schönfärberei, Ignoranz oder die Verharmlosung der Auswirkungen der Windenergie auf besonders stark betroffen Vogelarten sind angesichts des aktuellen Wissensstands also nicht angebracht und unterstützen nicht die dringend notwendige naturverträgliche Ausgestaltung der Energiewende. Das gilt ganz besonders für den Rotmilan. Denn auch nach der aktuellen Kartierung ist Deutschland die Brutheimat von rund der Hälfte aller Rotmilane der Erde und trägt damit eine große Verantwortung für den Erhalt dieser „wertvollen Art“.


Die erwähnte Studie Christoph Grüneberg & Johanna Karthäuser Verbreitung und Bestand des Rotmilans Milvus milvus in Deutschland – Ergebnisse der bundesweiten Kartierung 2010–2014 erschien soeben in der Zeitschrift Die Vogelwelt als Teil eines Schwerpunkthefts zum Rotmilan. Zum Preis von 18 Euro zu beziehen über www.vogelwelt.com

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